Wahlkampf prägt EU-Gipfeldebatte: Scholz überrascht den Bundestag, Merz jedoch genauso – n-tv.de

Der Kanzler reist nach Brüssel, kommt zuvor aber in den Bundestag. Dort widmet er sich seinem ärgsten Widersacher im Rennen um die Kanzlerschaft – und der deutschen Industrie. Scholz kündigt einen „Industriepakt“ an. Merz überrascht ebenfalls: Deutsche Marschflugkörper sollen Putin in die Schranken weisen.

Regelmäßig wünschen sich Sozialdemokraten mehr Feuer und Leidenschaft von ihrem Bundeskanzler. Zumindest am Tag der Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Brüssel dürften sie sich erhört fühlen. Olaf Scholz präsentiert sich im Angriffsmodus. In seiner Rede geht er den CDU/CSU-Kanzlerkandidaten offensiv an: „Herr Merz kann gar nicht aus dem Bett steigen, ohne zu sagen ‚Hier wird zu wenig gearbeitet'“, sagt Scholz. Wenn aber die Menschen überhaupt weniger arbeiteten, dann wegen fehlender Betreuungsplätze für Kita- und Schulkinder. „Das liegt daran, dass die Familienpolitik der Union immer schlecht war für Familien mit Kindern.“

Scholz liegt damit auf Linie mit den vielen SPD-Politikern. Seit der Wahlkampfklausur der Parteispitze am vergangenen Wochenende stellen sie den CDU-Vorsitzenden wortgleich als abgehobenen Politiker der Besserverdienenden und Reichen dar. „Herr Merz, Leistungsträger sind in dieser Gesellschaft nicht nur diejenigen, die ein paar Hunderttausend Euro verdienen“, sagt Scholz. In das gleiche Horn bläst später auch SPD-Chef Lars Klingbeil, der der Union „Populismus“ vorwirft. „Leistung misst sich nicht am Einkommen“, hält Klingbeil dem Unionsfraktionsvorsitzenden Merz entgegen, der „mehr Respekt für Besserverdiener“ gefordert habe.

Merz fordert Handeln gegen Migrationsdruck

Merz merkt aber schon seit Tagen, wie sehr sich die SPD auf ihn und seine Kanzlerkandidatur einschießt. „Gehört haben wir eine vorgezogene, fast schon verzweifelte Wahlkampfrede eines Bundeskanzlers, der mit dem Rücken zur Wand und mit den Füßen am Abgrund steht“, kontert Merz. Er fragt, warum sich der Kanzler in seiner halbstündigen Rede nicht zur Migration geäußert habe? Die „Migrationskrise in Europa“ sei schließlich Tagesordnungspunkt eins beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU.

Merz vermutet, dass Scholz mit seinem Schweigen zum Thema es vor allem der eigenen Fraktion recht machen wolle. Den Genossen im Bundestag hatte der Kanzler am Vortag mit der Vertrauensfrage gedroht, sollte das Ampel-Gesetzespaket zur inneren Sicherheit und Migration am Freitag keine Mehrheit bekommen. So berichten es mehrere Medien übereinstimmend. Am Freitag wird über das Paket abgestimmt, doch in den Fraktionen von SPD und Grünen gibt es weiter Widerstand.

Merz aber hält Handeln für dringend geboten, das Gesetzespaket sei sogar viel zu wenig: „Der relative Anteil der illegalen Migration in Deutschland ist mehr geworden im Verhältnis zu anderen Ländern in der Europäischen Union.“ Sprich: Es kamen zuletzt weniger Menschen nach Europa, davon aber umso mehr nach Deutschland. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt fordert seinerseits Scholz auf, sich beim EU-Gipfel an die Seite des polnischen Regierungschefs Donald Tusk zu stellen. Der will das Asylrecht aussetzen, weil Russlands Präsident Wladimir Putin Migranten als Teil seiner hybriden Kriegsführung gegen die EU einsetze. „Die ganze Europäische Union soll damit destabilisiert werden“, zeigt sich Dobrindt alarmiert.

Scholz kündigt „Industriepakt“ an

In Brüssel soll es auch um das Wirtschaftswachstum in Europa gehen. Da habe Deutschland unter der Ampel die rote Laterne, klagt Dobrindt. Merz stellt fest: „Alle anderen Länder in Europa haben mehr oder weniger ordentliches Wachstum.“ Nur Scholz müsse seinen Amtskollegen erklären, warum sein Land das zweite Jahr in Folge eine Rezession zu verzeichnen hat.

Tatsächlich reist Scholz zumindest mit so etwas wie einer Idee von einem Plan nach Brüssel. Er kündigt im Bundestag an, noch in diesem Monat die Vertreter von Industrie, Verbänden und Gewerkschaften zu einem Gespräch einzuladen. Ein „Industriepakt“ schwebt dem Sozialdemokraten vor, „damit es vorangeht in Deutschland“. Scholz macht deutlich, um jeden Industriearbeitsplatz in Deutschland kämpfen zu wollen. Die Industrie sei „Grundlage unseres Wohlstands“. Er wolle deshalb eine „industriepolitische Agenda“ vorlegen.

Ein letzter Anlauf zur Umgehung der Schuldenbremse?

Klingbeil ergänzt später: „Weder Ideologie, noch Klein-Klein noch fehlendes Geld dürfen diesen Industriepakt stoppen, es geht jetzt um die richtigen Prioritäten in diesem Land.“ Nachdem sowohl der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Gewerkschaften als auch Ökonomen ohne SPD-Bezug massive Investitionen zur Ankurbelung der Wirtschaft gefordert haben, will das Kanzleramt das Thema offenbar forcieren.

Der Koalition fehlt es im Haushalt an Geld, die Schuldenbremse setzt zudem enge Grenzen bei der Neuverschuldung. Möglich, dass Scholz nun noch einmal versuchen will, im Bündnis mit der Wirtschaft Druck auf den Koalitionspartner FDP zu machen: Eine Aussetzung der Schuldenbremse oder die Einrichtung eines Sondervermögens für die Wirtschaft sind aus Sicht der meisten Sozialdemokraten Wege, kurzfristig an Kapital für Investitionen zu kommen.

Dass die Union der Ampel weiterhelfen könnte, zeichnet sich in der Plenardebatte zu Scholz‘ Regierungserklärung nicht ab: 300.000 Industriearbeitsplätze seien unter der Ampel verschwunden, zudem sei eine historisch beispiellose Summe an Wirtschaftskapital ins Ausland abgeflossen, sagt Merz. Dieser Abfluss sei das „tagtägliche Misstrauensvotum“ der Unternehmen gegen Scholz‘ Wirtschaftspolitik, sagt Merz. Die von der SPD vorgeschlagene höhere Besteuerung der Topverdiener und Reichen zur Finanzierung breiter Steuererleichterungen lehnt Merz ab. „Sie haben offensichtlich übersehen, dass diejenigen, die Sie da adressieren, die mittelständischen Unternehmen sind in Deutschland, die die Arbeitsplätze schaffen sollen“, hält er Scholz entgegen.

Merz fordert, Putin Ultimatum zu stellen

Während Scholz mit seinem Industriepakt versucht, eine Duftnote zu setzen, hat auch Merz eine Überraschung im Gepäck: Er fordert eine härtere Gangart gegenüber Russland, statt sich von Atomwaffendrohungen einschüchtern zu lassen. „Herr Bundeskanzler, es wird Zeit, dass Sie und wir die Angst vor Putin überwinden, um die Grausamkeiten in der Ukraine zu beenden.“ In Abstimmung mit den europäischen Partnern solle Scholz dem russischen Präsidenten ein Ultimatum setzen: Russland müsse aufhören, zivile Ziele wie Heizkraftwerke und Krankenhäuser in der Ukraine zu bombardieren. Andernfalls werde der Westen die Reichweiten-Beschränkung für an die Ukraine gelieferte Waffen aufheben und Berlin die umstrittenen Taurus-Marschflugkörper bereitstellen. Beides lehnt Scholz bislang ab.

Merz grenzt sich mit dieser Forderung einerseits scharf von BSW und AfD ab. Denen hält er vor, dass auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban mit seinem unabgestimmten Vermittlungsversuch gescheitert sei. Putin habe schlicht kein Interesse an einem Waffenstillstand. Noch bemerkenswerter aber: Merz stellt sich mit seinem Vortrag offen gegen Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und den Thüringer CDU-Politiker Mario Voigt, die zusammen mit Brandenburgs Regierungschef Dietmar Woidke mehr Diplomatie statt immer weiterer Waffenlieferungen gefordert hatten. Alle drei versuchen derzeit, eine Landesregierung unter Einbeziehung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu bilden.

Kein Applaus von der SPD

Während sich der FDP-Fraktionschef für diese Klarstellung bei Merz bedankt, erinnert SPD-Chef Klingbeil an das Schweigen von Merz während der Landtagswahlkämpfe in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. „Abzutauchen in einer Phase, wo der Wahlkampf in Ostdeutschland ist, und nichts zu sagen, das ist billig an dieser Stelle“, sagt Klingbeil. Deshalb sei es auch „billig“ nun einen Konflikt mit dem Kanzler zu suchen. Tatsächlich war der Krieg in der Ukraine neben der Migration eines der Hauptthemen in den ostdeutschen Ländern. SPD und Grüne fanden sich mit ihrer Unterstützung der Ukraine aber meist allein wieder auf weiter Flur. Die Union wich dem unpopulären Thema aus und versuchte stattdessen mit Migrationspolitik gegen die Ampel-Parteien zu punkten.

BSW und AfD konnten derweil im Osten mit ihrer Kritik an den Waffenlieferungen punkten. Sie behalten diesen Kurs offensichtlich bei; AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla wirft der Bundesregierung in der Debatte „einseitige Parteinahmen“ zugunsten der Ukraine und Israels vor. Die AfD fordere dagegen, überhaupt keine Waffen an Kriegsparteien zu liefern. Das Existenzrecht Israels stehe „überhaupt nicht zur Disposition“, sagt Chrupalla zwei Wochen nach dem Luftangriff des Iran auf Israel.

Wagenknecht unterstellt in ihrem Redebeitrag gar Scholz, er hole sich „seine Anweisungen aus Washington“. Die Ukrainer würden aber „nicht noch mehr Waffen brauchen“, sagte Wagenknecht. „Und sie brauchen auch keine wahnwitzigen Kriegspläne, die letztlich unverhohlen auf einen Kriegseintritt der NATO setzen.“ Den folgenden Rednern von Ampel-Fraktionen und Opposition verschlägt das beinahe die Sprache: Sie werfen AfD und BSW gleichermaßen vor, der Sache Moskaus und Teherans das Wort zu reden. Auch dieser Streit gibt einen Vorgeschmack auf den kommenden Bundestagswahlkampf.

Source: n-tv.de