„Wahlarena 2024 Europa“: Das überraschende EU-Bekenntnis jener AfD und haarsträubende Thesen aus dem Publikum – WELT

Selten hat eine Wahlsendung bereits vorab für derartigen Wirbel gesorgt. Für die „Wahlarena 2024 Europa“ hatte der WDR sieben Partei-Spitzenkandidaten einladen wollen. Anders als im ZDF-Pendant „Wie geht’s, Europa?“ verzichtete die Redaktion jedoch auf einen Vertreter des Bündnis Sahra Wagenknecht.

Dagegen wehrte sich die junge Partei juristisch. Das Verwaltungsgericht Köln hatte noch dem Sender recht gegeben, der seine Teilnehmer „nach Ermessen“ selbst bestimmen dürfe. Beim Oberverwaltungsgericht in Münster legte das BSW daraufhin Beschwerde ein – und bekam am Mittwoch recht.

„Der WDR hat uns somit unfreiwillig die beste Wahlkampf-PR der jüngeren Parteiengeschichte ermöglicht“, schrieb Fabio De Masi dazu triumphierend auf X. Am Donnerstag fand sich der ehemalige Linken-Politiker im Townhall-Format in Erfurt neben Katarina Barley (SPD), Manfred Weber (CSU) und Daniel Caspary von der CDU wieder. Ebenfalls anwesend waren Terry Reintke (Grüne), Martin Schirdewan (Linke) und FDP-Politikerin Marie-Agens Strack-Zimmermann.

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Die ersten vier der acht Kandidaten (v.l.n.r.): Terry Reintke (Grüne), Marie-Agens Strack-Zimmermann (FDP), Manfred Weber (CSU) und René Aust (AfD)
Quelle: WDR/Bildschirmfoto WELT

Da die AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron wegen mutmaßlicher russischer Verbindungen weitgehend aus dem Wahlkampf verschwunden sind, trat René Aust für die Rechtspopulisten auf.

Mit verwehrten Touristenvisa will die AfD den Abschiebe-Druck erhöhen

Zunächst ging es in der von Ellen Ehni und Gunnar Breske geleiteten Sendung um Migration. Ein Zuschauer griff den jüngsten Vorstoß von Olaf Scholz auf, zukünftig auch nach Afghanistan und Syrien abzuschieben. Wer das Gastrecht missbrauche, habe seinen Anspruch auf Hilfe verwirkt und müsse ausgewiesen werden, sagte Manfred Weber, ohne konkret auf die Kontroverse um die beiden Staaten einzugehen.

Vor einer Woche wurde in Mannheim ein Polizist von einem Afghanen erstochen. Seitdem werden Abschiebungen in das Land öffentlich diskutiert.

René Aust plädierte dafür, Länder zu sanktionieren, die ihre hierzulande straffällig gewordenen Staatsbürger nicht zurücknähmen. Eine Möglichkeit bestehe darin, ihnen damit zu drohen, die Ausstellung von Touristenvisa zu verwehren. „Sie können sich vorstellen, wie groß der Druck der kulturellen und ökonomischen Eliten auf die politischen Eliten wird, anders zu handeln“, erklärte der AfD-Politiker.

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Ellen Ehni nannte ihn den „Mann mit Bart aus der zweiten Reihe“ – er stellte sich als Steven Büchner vor und befragte AfD-Mann Aust zu Abschiebungen
Quelle: WDR/Bildschirmfoto WELT

Aust nutzte seinen Auftritt nicht nur, um sich seriöser als etwa Maximilian Krah in Szene zu setzen, sondern deutete regelrecht das Selbstverständnis der AfD um. „Wir sind eine Partei für alle deutschen Staatsbürger – unabhängig von ihrer Religion, unabhängig von sonstigen sozialen Herkünften“, bekundete er den Diversitätsanspruch der AfD. Deshalb wolle seine Partei etwa diejenigen schützen, die „derzeit von dieser antisemitischen Hetze bedroht und betroffen“ seien.

Von einem möglichen EU-Austritt Deutschlands wollte Aust ebenfalls nichts wissen. „Wir stehen zum Binnenmarkt – und das wird auch so bleiben“, betonte er. Es sei eine „große Errungenschaft“, Produkte europaweit zollfrei im- und exportieren zu können. Einzig Weber stieß sich an Austs „netter Präsentation“ und erinnerte an den „radikalen Kern“ von dessen Partei.

Zur gerade unter jungen Menschen verbreiteten Sorge vor der Inflation sollte sich Martin Schirdewan äußern. Die Idee einer „Dönerpreisbremse“ sei „ganz spannend“, sagte der Linken-Politiker, „weil dahinter ein ernstes Problem steckt“. So würden die Kosten für Miete, Energie und Lebensmittel für viele Menschen „immer unbezahlbarer“.

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Dem Problem müsse mit Umverteilung begegnet werden. So fordere seine Partei, die Übergewinne großer Lebensmittelkonzerne mit 90 Prozent zu besteuern, um Grundnahrungsmittel mit einem Preisdeckel versehen zu können. BSW-Politiker Fabio De Masi stimmte seinem früheren Parteikollegen zu.

In Sektoren mit „sehr hohe Marktmacht“ müssten „Extragewinne“ abgeschöpft werden. „Wir brauchen selektive Preisdeckel“, forderte der BSW-Poltiiker. „Allerdings nicht für den Döner“, schränkte er ein, sondern zum Beispiel bei den Energiepreisen.

Das Problem mit dem Publikum

Die wohl größte Schwäche des Formats bestand darin, dass weder die Moderatoren noch die Kandidaten sich bemüßigt sahen, den mitunter haarsträubenden Thesen des Publikums zu widersprechen. Zwar besteht der Reiz im Format an der Bürgerbeteiligung, nur bedeutet das auch, vermeintlich deplatzierte Wortbeiträge zu behandeln.

So fürchtete sich ein Zuschauer vor einer möglichen Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, die er mit einem deutschen Eintritt in den Ukraine-Krieg gleichsetzte. Ob Sie es „wirklich mit Ihrem Gewissen vereinbaren“ können, junge Menschen „einzuziehen, wegzuschicken als Kanonenfutter?“, fragte er in die Runde, als sei dies bereits beschlossene Sache.

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In Durchgang zwei sprachen (v.l.n.r.): Martin Schirdewan (Linke), Fabio De Masi (BSW), Katarina Barley (SPD) und Daniel Caspary (CDU)
Quelle: WDR/Bildschirmfoto WELT

Ein weiterer Zuschauer fragte, wie es sein könne, dass nach wie vor Waffen an das „Regime in Israel“ geliefert werden, die „einen Überfall gestartet haben“ und nun Lager bombardieren.

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Schirdewan bekundete seine Solidarität mit Israel und der Ukraine, sprach sich zugleich aber gegen Waffenlieferungen an beide Staaten aus. De Masi verwies auf die „Vorgeschichte“ der russischen Invasion, nach der die „Perspektive des Nato-Beitritts der Ukraine“ eine Rolle „bei dieser Eskalationsdynamik“ gespielt habe.

Barley dagegen verteidigte zwar die Unterstützung der Ukraine, ging aber kritischer mit Israel ins Gericht. Die Gewissheit, der „sichere Hafen für Jüdinnen und Juden“ zu sein, sei am 7. Oktober 2023 „zutiefst erschüttert worden“. Israel habe jedoch „vehement überreagiert“ und damit genau das getan, „was die Hamas wollte“, führte die SPD-Politikerin aus. „Sie verteidigen sich, aber aus meiner Sicht gehen sie dabei zu weit“, bekräftigt sie. „Aber wir müssen auch zu Israel stehen. Davon bin ich auch fest überzeugt.“

Source: welt.de