Wahl in Georgien: Hat die Opposition noch eine Chance?

Das Volk wählt, die Obrigkeit zählt – diesem alten sowjetischen Prinzip huldigt die georgische Regierungspartei. Nach der Parlamentswahl am Samstag sagten mehrere Institute aufgrund von Nachwahlumfragen eine deutliche Niederlage des „Georgischen Traums“ voraus. Einige Stunden später verkündete die staatliche Wahlkommission überraschend den Sieg der Regierungspartei mit 54 Prozent – das beste Ergebnis des Georgischen Traums seit 2012. Errungen mittels krasser, von internationalen Beobachtern aufgedeckter Manipulationen. Wer die Macht hat, gewinnt.

Gegen dieses Prinzip geht die Opposition auf die Barrikaden. Am Montagabend versammelten sich Zehntausende Menschen und die Oppositionsführer auf den Straßen der Hauptstadt Tbilissi, um gegen die „gestohlene Wahl“ zu protestieren. Die Polizei marschierte auf. In den kommenden Tagen und Wochen könnte es zu schweren Auseinandersetzungen kommen. Doch welche Hebel hat die Opposition, um ihre Forderungen nach Neuauszählung und einem Machtwechsel durchzusetzen? Und welche Mittel hat die Regierung, um die Proteste auszusitzen oder niederzuschlagen?

Die Oppositionsführer traten schon am Sonntag gemeinsam mit Staatspräsidentin Salome Surabischwili auf. Deren Rolle im parlamentarischen System ist zwar vor allem repräsentativ, doch Surabischwili wurde direkt vom Volk gewählt, was ihr Autorität verleiht. Wie die Opposition erkennt auch sie die Wahl nicht an. Surabischwili bezeichnete sie als „total gefälscht und komplett gestohlen“. Georgien habe eine „russische Spezialoperation“ erlebt. Für die Opposition ist die Präsidentin die einzige staatliche Institution, die auf ihrer Seite steht. Aber Surabischwilis Amtszeit endet in wenigen Wochen. Nachfolge offen.

Die Georgierinnen und Georgier gingen in diesem Jahr schon oft auf die Straße. Jetzt versammeln sie sich wieder vor dem Parlament und in den Seitenstraßen. Singen die Nationalhymne und die Europahymne, schwenken die blaue Europafahne mit den gelben Sternen – und wünschen den „Traum“ zur Hölle. Hans Gutbrod, der Politik an der georgischen Ilia-Universität lehrt, steht am Montag zwischen den Demonstrierenden vor dem Parlament, als er ans Telefon geht: „Die Regierung hat nicht nur die Wahl, sondern die Zukunft gestohlen“, sagt er. Die Opposition ist mächtig in der Hauptstadt und reicht bis in die größeren Städte des Landes. Doch hat sie mit den Protesten bisher kein repressives Gesetz der Regierungspartei verhindern können, weder das Gesetz gegen Nichtregierungsorganisationen noch die harsche LGBTQ-Gesetzgebung. Auf dem Land hat sie wenig Rückhalt. Dort räumte der Georgische Traum teilweise bis zu 90 Prozent der Stimmen ab, auch wenn diese exorbitant hohen Zahlen unter Fälschungsverdacht stehen. Georgien ist auch zwischen Stadt und Land zerrissen.

Die Regierungspartei profitiert von dieser Spaltung. Sie denunziert die Demonstranten als einen Haufen westlich bezahlter Agenten, die nichts vom wahren Leben auf dem Land und in den Weinbergen wüssten. In den kommenden Auseinandersetzungen dürfte sie die ganze Macht des Repressionsapparats einsetzen. Die Polizei und die Schlägertrupps des Georgischen Traums haben in diesem Jahr schon mehrfach Demonstrationen niedergeknüppelt. Hinter der Regierung stehen der Geheimdienst, die Wahlkommission, große Teile der Beamtenschaft – und die Gerichtsbarkeit, die sich der Georgische Traum botmäßig gemacht hat.

Dazu kommt das Geld des nicht gewählten heimlichen Herrschers Georgiens, Bidsina Iwanischwili. Der Oligarch und Milliardär mit vielfältigen Drähten nach Russland finanziert seine Westentaschen-Partei ebenso wie Manipulationen und Gewaltaktionen, um an der Macht zu bleiben. Iwanischwili wird aus Moskau unterstützt, mit dem Repressions-Know-how und den Machtmitteln Wladimir Putins in diesem Konflikt. Russland ist der größte Abnehmer georgischen Weins und anderer Produkte. Die Weinschleuse nach Russland hat Putin schon mehrfach gegen Georgien eingesetzt. Er hat sie geschlossen, wenn er Streit mit dem Nachbarland hatte, oder umgekehrt geöffnet. Keine 50 Kilometer von Tbilissi entfernt stehen russische Panzer im besetzten Südossetien.

Dagegen hoffen viele in der Opposition auf die EU, die keine militärischen Mittel in der Region hat und viel zu wenig georgischen Wein kauft. Dafür kann sie den Status Georgiens als EU-Beitrittskandidat nutzen, um Druck zu machen. Sie hat die Kandidatur des Landes wegen des autoritären Gebarens der Regierung bereits eingefroren. Der Status ließe sich auch streichen. Hans Gutbrod, der während des Telefongesprächs gerade beobachtet, wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán auf Gratulationstour beim Georgischen Traum vorbeizieht, sagt, die EU solle „klare Worte finden, auf den europäischen Werten bestehen“ und nicht den Fehler machen, zwischen dem Georgischen Traum und der Opposition vermitteln zu wollen. Starker Druck sei jetzt gefragt.

Doch unterm Strich hält die Regierung gegen die Opposition die meisten Hebel in der Hand. Deren Hoffnungen liegen nun in der Macht der Straße und dem erschütterten Ansehen des Georgischen Traums. Iwanischwilis Partei ist das bloße Vehikel eines einzigen Mannes, seine Regierung fehleranfällig und nach der verfälschten Wahl ohne Legitimation. Diese Schwäche ist die Chance der Opposition.