Wahl in den Niederlanden: Die niederländische Wirtschaft setzt aufwärts ein Mittebündnis

Noch sechs Minuten bis zur ersten Prognose, Hunderte Liberale blicken in einem Hotel in Den Haag auf die Großschirme und warten auf die entscheidende Zahl. Das Info-Laufband des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders bringt währenddessen Wissenswertes über die Parlamentswahl in den Niederlanden: Auf der Insel Schiermonnikoog habe die Wahlbeteiligung 126 Prozent erreicht – wegen der inländischen Touristen. Und: Das Alter der Wahlhelfer ist im Schnitt gestiegen.
Dann die erste Prognose: Die rechtsliberale VVD unter ihrer Spitzenkandidatin Dilan Yesilgöz kann demnach auf 23 der 150 Sitze hoffen, einen weniger als bei der vorangegangenen Wahl. Riesenjubel im Saal, denn während des Wahlkampfs hatte noch ein Debakel gedroht. Nun verliert die Partei so wenig wie kein anderes Mitglied des zerbrochenen Vier-Parteien-Bündnisses – auch wenn am Ende noch ein zweiter Sitz verloren gehen dürfte. Yesilgöz erscheint schnell auf der Bühne, gratuliert auch den Spitzenkandidaten jener Parteien, mit der sie eine Koalition der Mitte eingehen könnte.
Umgekehrt wird die traditionell wirtschaftsfreundliche Partei an diesem Abend noch Glückwünsche von den potentiellen Partnern hören. Die Rechtsaußenpartei PVV von Geert Wilders steht zu diesem Zeitpunkt mit zwei Sitzen Abstand auf Platz zwei hinter den Linksliberalen (D66). In späteren Prognosen werden beide gleichauf liegen. Das amtliche Endergebnis steht für Freitag kommender Woche aus.
Unternehmen wollen Stabilität
Ein Mitte-Bündnis – eine Art Ampel, aber mit mindestens vier Parteien – ist das, was sich Unternehmen und Handel der fünftgrößten Volkswirtschaft der EU erhoffen. Die VVD und der christdemokratische CDA sind traditionell die Wunschparteien, aber beide inzwischen viel zu klein. Unter Führung der Linksliberalen sowie dem sozialdemokratisch-grünen Wahlverbund wäre eine Vierer-Koalition mit sicherer Mehrheit in der Zweiten Kammer möglich. Der Industrie- und Arbeitgeberverband VNO-NCW geht nach eigener Aussage davon aus, dass ein breites Kabinett von Links und Rechts der Wirtschaft dienen werde. „Alle Parteien, die eine Koalition bilden könnten, verstehen, dass es unter der Motorhaube der Wirtschaft nicht gut geht“, sagt Verbandspräsidentin Ingrid Thijssen der F.A.Z.
Sie hat in der Vergangenheit immer wieder über einen leisen Exodus von Unternehmen gesprochen – vielleicht verlassen sie das Land nicht ganz, tätigten aber Investitionen im Ausland statt daheim. Umfragen des Verbands unter den Mitgliedern ergeben schwaches Vertrauen in die Politik. Thijssen erwartet nach eigener Aussage nicht, dass die PVV noch einmal zum Zuge kommt, nachdem die Mitteparteien eine Koalition mit ihr ausgeschlossen haben. Vor allem möchte man schnell Klarheit. „Für Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze ist politische Stabilität entscheidend“, sagt am Wahlabend Günter Gülker, Geschäftsführer der Deutsch-Niederländischen Handelskammer (DNHK).
Die Wahl wurde nötig, weil die Koalition aus vier Parteien von Mitte-rechts bis Rechtsaußen nach weniger als einem Jahr zerbrochen war. Das Bündnis unter Führung des parteilosen Ministerpräsidenten Dick Schoof hatte von vornherein als brüchig gegolten. Im Juni verließ die PVV die Koalition, später auch der zentristische „Neue Gesellschaftsvertrag“ (NSC).
Deutschlands wichtigster Handelspartner
Die Niederlande sind in der EU der „Größte der Kleinen“ hinter dem Quartett bestehend aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Und für Deutschland sind die Niederlande der wichtigste Handelspartner in Europa, global der drittwichtigste hinter den Vereinigten Staaten und China. Anfang des Monats veröffentlichte das Statistische Bundesamt Destatis die endgültigen Zahlen für das vergangene Jahr: Demnach erreichte der Warenaustausch – die Summe aus Importen und Exporten – 202 Milliarden Euro Umsatz, verglichen mit 253 Milliarden Euro im Handel mit den USA und 247 Milliarden Euro mit China. Deutschland exportierte in die Niederlande für 109 Milliarden Euro, importierte Waren aus den Niederlanden summierten sich im Wert auf 93 Milliarden Euro.
Beide Seiten beliefern einander mit besonders viel chemischen Erzeugnissen, Nahrungsmitteln und Maschinen. Für Deutschland sind außerdem Petrochemie und Rohstoffe begehrte niederländische Produkte. Umgekehrt beziehen die Niederlande vom Nachbarn im Osten Fahrzeuge und Fahrzeugteile sowie Elektrotechnik. Aus niederländischer Sicht bleibt Deutschland der wichtigste Partner: Die größte EU-Volkswirtschaft steht noch immer für mehr als ein Fünftel der Exporte, nämlich 22,2 Prozent im vergangenen Jahr, wie die Wirtschaftsförderungsgesellschaft GTAI des Bundes vorrechnet. Der Anteil an den niederländischen ist damit beinahe doppelt so hoch wie jener Belgiens auf Platz zwei.
Wirtschaftsnahe Themen verfingen im Wahlkampf
Am Morgen nach der Wahl sehen die Prognosen PVV und D66 gleichauf mit je 26 Sitzen. Es folgen VVD, das Linksbündnis von Sozialdemokraten und Grünen, dessen Spitzenkandidat Frans Timmermans noch am Wahlabend zurückgetreten ist, und der wiederauferstandene CDA. Zwei zuvor steil aufgestiegene neue Parteien haben an Gunst verloren: Der NSC, der im Kern Soziales mit Wertkonservatismus verbindet, stürzt von 20 auf null Sitze ab. Im Wahlkampf spielten außer Immigration wirtschaftsnahe Themen wie Wohnungsnot, Pflege und der Kaufkraftverlust von Bürgern eine Rolle, Themen rund um den Klimaschutz dagegen wenig.
Die VVD plädiert wie gehabt auf Deregulierung, Steuererleichterungen und Investitionen in Innovation. D66 ist nach jahrelangem und erfolglosem identitätspolitischem Ausflug wieder mehr in die Mitte gerückt, stellte nun den Wohnungsbau in den Vordergrund. Der CDA will Steuervorteile abbauen, namentlich den steuerlichen Abzug von Hypothekenzinsen für Wohneigentum. Eurobonds sind für ihn neuerdings kein Tabu mehr. Grünlinks und Sozialdemokraten stellten klassische soziale Themen in den Vordergrund: Wohlstandsverteilung, Mindestlohn, höhere Einkommensgrenzen für Sozialwohnungen – ebenso Wohnungsbau. Die PVV ist gesellschaftspolitisch zwar als „rechts“, sozioökonomisch dagegen eher „links“ einzuordnen – etwa im Werben für null Prozent Mehrwertsteuer auf Lebensmittel.