Waffenstillstand in dieser Ukraine: Hält dieser Waffenstillstand im Energiebereich?
Neben einem Kinderkarussell liegt der Körper eines ukrainischen Jungen. „Sagen Sie mir ehrlich, lebt der Kleine noch?“, fragt eine Frau den herbeigeeilten Polizisten, der sich hinkniet, um den Puls zu messen. Die Aufnahmen der Bodycam eines ukrainischen Polizisten aus Krywyj Rih, einer ukrainischen Großstadt, zeigen die Folgen des verheerenden Raketenangriffs Russlands am vergangenen Freitag. 18 Menschen wurden getötet, neun davon Kinder. Russlands Verteidigungsministerium behauptete ohne Beleg, auf eine Versammlung ukrainischer Militärs in einem Restaurant gezielt zu haben. Tatsächlich traf die Rakete am Freitagnachmittag neben dem Lokal auch einen gut besuchten Spielplatz, knapp 100 Meter entfernt.
Die zivilen Opfer hatten die russischen Befehlshaber also mindestens in Kauf genommen. Aus ukrainischer Sicht belegen solche Angriffe, dass der russische Präsident Wladimir Putin nicht zu einem Frieden bereit ist. Vergeltung für solche Schläge muss Russland kaum fürchten. Die Ukraine hat keine ähnlich weitreichenden Raketen, um Ziele in Russland auf diese Weise anzugreifen. Bislang setzt die ukrainische Armee Drohnen ein, um etwa russische Flugplätze oder Rüstungsfabriken anzugreifen. Deren Sprengköpfe sind aber deutlich kleiner als jene von russischen Raketen.
Keine systematischen Angriffe mehr
Wie wichtig eine Parität für die Ukraine wäre, zeigt vor allem der sogenannte Waffenstillstand im Energiebereich. Nach dem Treffen am 25. März in Saudi-Arabien haben Russland und die Ukraine zugestimmt, dass bestimmte, in einer Liste festgehaltenen Orte aus dem Energiebereich nicht angegriffen werden. Die Vereinbarung betrifft Kraft- und Umspannwerke, Pipelines, Leitungen sowie Förderanlagen für Öl und Gas.
In den vergangenen Tagen erklärten sowohl ukrainische als auch russische Offizielle, dass die jeweils andere Seite diesen sogenannten Energiewaffenstillstand bereits mehrfach gebrochen habe. Tatsächlich wurden jedoch seit Veröffentlichung dieser Liste keine Angriffe auf Anlagen wie Kraftwerke oder größere Umspannwerke in der Ukraine dokumentiert. Stromausfälle, die ganze Städte oder Regionen betroffen haben, gab es ebenfalls nicht. Der Chef der ukrainischen Marine, Dmytro Pletentschuk, erklärte am Samstag, dass Russland seit dem 25. März auch keine Häfen mehr angegriffen habe.
Im Gegenzug haben die ukrainischen Streitkräfte keine russischen Ölraffinerien, Öllager oder Pipelines beschossen. Der jüngste nennenswerte ukrainische Angriff galt dem Öldepot des Militärflugplatzes in der Stadt Engels und liegt mittlerweile über zwei Wochen zurück, also noch vor der Vereinbarung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte im März mit Vergeltungsschlägen gedroht, sollte Russland den Waffenstillstand im Energiebereich verletzen. Dass es diese nicht gibt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Vereinbarung insgesamt von beiden Seiten eingehalten wird.
Zwar berichtete der ukrainische Generalstab von mindestens vier Angriffen auf Energieanlagen seit Ende März. Konkrete Objekte wurden dabei aber nicht genannt. Aus den Meldungen und Berichten der ukrainischen Behörden lässt sich jedoch schließen, dass lediglich ein Angriff auf die Stadt Cherson am 1. April zu einem mehrere Stunden anhaltenden Stromausfall in der Stadt geführt hat. Dabei waren russische Gleitbomben in einem Industriegebiet der Stadt eingeschlagen. Kraftwerke oder wichtige Umspannwerke gibt es in der Nähe des Einschlags nicht. Der entstandene Schaden konnte schnell wieder repariert werden.
Auf russischer Seite wurden ebenfalls vor allem Angriffe auf Stromleitungen in den frontnahen Regionen in Brjansk und Belgorod gemeldet. Diese sollen zwar in einigen grenznahen Landkreisen zu vereinzelten Stromausfällen geführt haben. Von systematischen Angriffen kann aber auch hier keine Rede sein.