Wachstum sucht Kredit: Osteuropas brachliegender Geldschatz

Die Finanzkrise 2008 traf Osteuropa unerwartet, aber schmerzhaft. Damit das nicht wieder passiert, prüfen in der „Wiener Initiative“ vereinte internationale Finanzorganisationen, Banken und die EU zweimal im Jahr Kreditversorgung und Zahlungsausfälle in der Region. Der Befund von Mitte Dezember fällt beruhigend aus: „Die Niveaus der notleidenden Darlehen bleiben im Großen und Ganzen stabil und in den meisten Märkten auf historisch niedrigem Niveau.“ Anlass zur Sorge bleibt dennoch.

Denn Bankkredite reichen zur Wachstumsfinanzierung nicht aus. „Wenn wir die Innovationskraft Europas stärken wollen, müssen wir auch in den Ländern Zentral-, Ost- und Südosteuropas neue Wege der Finanzierung ermöglichen“, verlangt Edeltraud Stiftinger, die Vizegouverneurin der Österreichischen Nationalbank. Nur so könne man das große Potential der Region heben und die Wettbewerbsfähigkeit sichern, sagte sie kürzlich auf einer Wiener Tagung mit dem Ziel, Geldquellen jenseits des Bankensektors zu mobilisieren.

Die Schwachpunkte liegen auf der Hand

Dahinter verbirgt sich ein Bündel von Vorschlägen: mehr Private Equity, eine bessere Finanzierung junger Unternehmen, Digitalisierung von Finanzdiensten, die Ermutigung privater Anleger, ihr Geld am Kapitalmarkt anzulegen, Pensionsfonds eine aktivere Rolle zu ermöglichen. Aktuelle Schwachpunkte liegen auf der Hand: Ausbaufähige Finanzkenntnisse der Einwohner erschweren im Osten der EU die Kapitalmarktentwicklung ebenso wie der Rückzug von Banken aus der Fläche – was wiederum die Bereitschaft erhöht, Geld bar zu horten. Auch sind Unternehmer oft nicht willens, Fremdkapital an Bord zu holen.

Tun sie es doch, stoßen sie auf ineffiziente Kapitalmärkte, fragmentierte, in kleine und kleinste Einheiten zersplitterte Börsen. Die Einordnung – selbst arrivierter Industriestaaten wie Polen oder die Tschechische Republik – in riskante „Schwellen-“ oder gar „Frontier-Märkte“ (Rumänien) verbaut institutionellen Anlegern Engagements.

Das verfügbare Einkommen bleibt niedrig

Maximilian Bierbaum von der Londoner Finanzdenkfabrik New Financial hat Zahlen, die den Nachholbedarf deutlich machen. In seiner Analyse der Kapitalmarktdurchdringung sind die osteuropäischen Staaten weit abgeschlagen: Im Schnitt kämen sie nur auf 31 Prozent des EU-Niveaus. „Die Kapitalmärkte in Luxemburg sind im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) 40 Mal größer als in Bulgarien; und die Kapitalmärkte in Schweden sind im Verhältnis zum BIP 18 Mal größer als in Slowenien“, heißt es in einer Untersuchung.

Doch die europäische Kapitalmarktunion ist weit. Deshalb wäre es ein erster Schritt, in Osteuropa brachliegende Finanzanlagen zu mobilisieren. Dazu rät auch die Europäische Zentralbank (EZB). Potential dafür gibt es.

Zwar sei das mittlere verfügbare Einkommen in der Region im Vergleich zu Westeuropa weiterhin niedrig, schreibt Österreichs Erste Bank in einer Analyse zur Vermögenslage der Haushalte in der Region, in der sie Marktführer ist. Doch übertreffe das Lohnwachstum in Ostmitteleuropa seit zehn Jahren das des Euroraums. Das habe den Weg für mehr Konsum, aber auch für den Aufbau von Ersparnissen und Vermögen geebnet. Die Sparquote liege etwa in der Tschechischen Republik oder in Ungarn „konstant über dem Durchschnitt des Euroraums“. Ein Teil des Geldes fließt in Immobilien, denn Wohneigentum spielt im Osten Europas eine weitaus größere Rolle als im Westen. In Rumänien beispielsweise leben 95 Prozent der Haushalte in der eigenen Wohnung. Das Immobilienvermögen macht meist den größten Teil des Haushaltsvermögens aus.

Regierungen können Privatanleger anzapfen

Dennoch hat sich das Finanzvermögen der Haushalte in Mittel- und Osteuropa je Kopf in den vergangenen 20 Jahren annähernd verfünffacht. Darauf weist die italienische Bank Unicredit hin. Das sei eine Folge des starken Wachstums und der wirtschaftlichen Annäherung an den EU-Durchschnitt. In der gleichen Zeit habe sich der Wert in Deutschland, Italien und Österreich nur verdoppelt. Dennoch bleibt der Abstand groß. Laut Unicredit erreicht das reine Finanzvermögen der Einwohner Ostmittel- und Südosteuropas nur etwa 30 Prozent des Wertes in Westeuropa. Das deute hin auf ein „erhebliches Potential für eine Annäherung“.

Die Untersuchungen zeigen, dass Haushalte in der Region konservative Anleger sind. Meist halten sie ihre Rücklagen in Devisen oder auf Sparkonten. Diese Anlagestrategie, eine allgemein niedrigere Durchdringungsrate bei Pensions- und Investmentfonds und in einigen Fällen niedrigere externe Zinssätze führten dazu, dass viele Regierungen in Mittelost- und Südosteuropa auf externe Finanzierungen angewiesen seien. So seien Bulgarien und Serbien zu mehr als 70 Prozent bei Ausländern verschuldet. Die Banker sehen hier auch eine Chance: „Dies deutet auf Potential für eine größere Diversifizierung hin, beispielsweise durch eine höhere Allokation in Finanzmarktinstrumente wie Anleihen, Aktien und Fonds.“ Regierungen könnten Privatanleger stärker zur Schuldenfinanzierung anzapfen. So würden „externe Verwundbarkeiten“ minimiert.

Erhöhter Druck auf die Ratings

Das gilt umso mehr, als Ratingagenturen internationale Kapitalanleger bereits vor „sich verschlechternden Kreditbedingungen im Jahre 2026“ warnen. Fitch tut das im soeben erschienenen Ausblick auf die Finanzlage im Osten der EU. Die Kollegen von Scope schreiben: „Steigende fiskalische Defizite und Schulden in Ländern wie Polen, Rumänien und Ungarn erhöhen den Druck auf Ratings.“ Umso bedeutsamer dürften die heimischen Geldgeber werden.

Manche Regierungen hätten große Fortschritte gemacht, schreibt Unicredit und hebt Ungarn, Polen, Kroatien und die Tschechische Republik hervor. In Ungarn liege die Quote der Staatsfinanzierung durch Privatanleger bei 33 Prozent, wozu Steueranreize beigetragen hätten. Ähnlich der Fall in Polen, wo sich der Bestand von Privatanlegern gehaltener Staatspapiere binnen fünf Jahren vervierfacht habe. Der niedrige öffentliche Schuldenstand in Tschechien von 44 Prozent des BIP und die höchsten privaten Ersparnisse in der Region erhöhten die Widerstandsfähigkeit gegenüber externen Risiken. Tschechien verlasse sich nahezu vollständig auf die Emission von Kronen-Anleihen, die überwiegend von lokalen Interessenten gekauft würden.

Ausländer dominieren die Aktienmärkte der Region

Die Aktienmärkte der Region würden nach wie vor durch ausländische Investoren dominiert. Allerdings berichten Banken von einer auch hier seit Jahren steigenden Zahl an Kleinsparern, die regelmäßig in Wertpapierfonds investierten. Die jüngsten Kursgewinne in Zentral- und Südosteuropa könnten die lokalen Aktienmärkte auch für Privatanleger attraktiver machen.

Pensionsfonds, in denen freiwillig oder verpflichtend gespart wird, gehören in vielen Ländern dazu. Da die Anlagen sicher sein sollen, investieren sie vor allem in Staatspapiere. So berichtet die rumänische Finanzaufsicht für das erste Halbjahr 2025, dass die Fonds, in die jeder zweite Rumäne einzahlt, zu 71 Prozent in Staatsanleihen investierten, aber auch 24 Prozent in Aktien und den Rest in Unternehmensanleihen. In der Tschechischen Republik erlaubt der Gesetzgeber von 2026 an, auch in den Neubau von Immobilien zu investieren. Das soll den grassierenden Wohnungsmangel lindern und die Rendite verbessern. Marek Blaha von der České Spořitelny in Prag schätzt, dass damit der Bau von 50.000 Wohnungen angeschoben werden könnte.

Und was sollten die Zentralbanken für eine gute Kapitalversorgung tun? Auf die Frage von Österreichs Nationalbankgouverneur Martin Kocher in die Runde seiner Amtskollegen aus Ostmittel- und Südosteuropa gab es vor allem eine Antwort: für die Sicherheit und Stabilität des Geldes sorgen.

Source: faz.net