Von Japan kann die Deutsche Bahn viel lernen
Der Shinkansen-Bahnhof von Yokohama erinnert ein wenig an einen Weltraumbahnhof in einem alten Science-Fiction-Film. Alle paar Minuten gleitet lautlos einer dieser langgezogenen, weißen Raketenzüge an einen der Bahnsteige. Die Türen öffnen sich, Menschen steigen aus, Menschen steigen ein, und schon nach wenigen Minuten gleiten die Züge wieder davon, in die eine Richtung ins nahe Tokio, in die andere Richtung nach Osaka, Kyoto und Hiroshima. Über dem Bahnsteig hängt eine große Anzeigetafel mit den nächsten Abfahrten und daneben eine Digitaluhr. Sie zeigen zugleich eines der größten Verkehrswunder der Welt: All diese Züge, die hier im Minutentakt ein- und ausfahren, kommen und fahren pünktlich auf die Minute genau.
Wie machen das die Japaner? Und was kann die Deutsche Bahn von ihnen lernen? Die hat gerade bekannt gegeben, dass im vergangenen Jahr nur 64 Prozent ihrer Fernzüge pünktlich waren – also weniger als sechs Minuten Verspätung hatten.
In Europa sind es vor allem die kleinen Länder wie die Schweiz oder Dänemark, die die Deutsche Bahn in Sachen Pünktlichkeit weit hinter sich lassen. Da lässt sich leicht die Rechnung aufmachen, dass sich auf längeren Distanzen eben auch längere Verspätungen anhäufen. Doch gegenüber Japan zählt diese Ausrede nicht. Das Land ist von der Fläche her ähnlich groß wie Deutschland und hat sogar eineinhalbmal so viele Einwohner. Allein die Strecke von Tokio nach Hiroshima misst 820 Kilometer, also etwas mehr als die Strecke von München nach Hamburg – und wird von den Shinkansen-Zügen in weniger als vier Stunden zurückgelegt.
Nur ein Teil der Wahrheit
Der wohl größte Vorteil der Shinkansen in Japan gegenüber den ICE-Zügen der Deutschen Bahn ist, dass sie das gesamte Schienennetz für sich haben. Die Hochgeschwindigkeitszüge fahren fast durchgehend auf Hochtrassen und durch Tunnel und können so über weite Strecken fast pfeilgerade mit bis zu 300 Stundenkilometern durch das Land rasen. Unterwegs müssen sie so gut wie nie warten oder abbremsen. In Deutschland teilen sich Fernzüge dagegen oft die Gleise mit Güterzügen oder dem Regionalverkehr. Auf die 99 Prozent Pünktlichkeit, die die Japaner erreichen, sei dieses Konzept gar nicht erst ausgelegt, sagte Bahnchef Michael Peterson im Sommer in einem Zeitungsinterview.
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Dass die Hochgeschwindigkeitszüge nicht nur pünktlich einfahren, sondern auch pünktlich wieder weiterfahren, ist auch den hocheffizienten Abläufen an den Bahnhöfen zu verdanken. Alles ist hier darauf ausgerichtet, dass möglichst viele Menschen möglichst unkompliziert in den Zug steigen können. Das geht schon damit los, dass Passagiere nur mit einem gültigen Ticket auf den Bahnsteig kommen und wegen der verlässlichen Abfahrtszeiten auch erst kurz davor dort auftauchen. Direkt an der Bahnsteigkante ist dann klar markiert, welcher Wagen wo halten wird. Züge, die „heute leider in umgekehrter Wagenreihung“ einfahren, ausgefallene Reservierungsanzeigen oder komplett fehlende Waggons, wie sie bei der Deutschen Bahn regelmäßig zu Chaos führen, sind hier undenkbar.
Stattdessen stehen alle Fahrgäste rechtzeitig und in am Boden markierten Feldern aufgereiht exakt an dem Fleck, an dem die Tür zu ihrem Waggon aufgehen wird. Aussteigen lassen, einsteigen, und schon kann es weitergehen.
Dabei haben auch Shinkansen-Züge Waggons, für die man keine Reservierung braucht und in denen Menschen stehen können. Zu Beginn eines langen Wochenendes können sie proppenvoll werden, und man fühlt sich schnell wieder wie im ICE in der Ferienzeit. Doch bei allem Gedrängel und allem Geschiebe würde keiner der Japaner auf die Idee kommen, eine Tür zu blockieren, oder sonst irgendwie die pünktliche Abfahrt zu gefährden. Lieber warten sie auf den nächsten Zug – der kommt ja auch schon drei Minuten später.
Mit psychologischen Tricks
Vor allem im Regionalverkehr schieben deutsche Bahnmanager Verspätungen gerne auf die Fahrgäste, die in letzter Minute noch in den Zug springen und die Türen noch für ihre Freunde aufhalten. Solches Verhalten sieht man in Japan nie – außer von Touristen. In der japanischen Gesellschaft ist es tief verwurzelt, dass das Fortkommen von allen im Zweifel über den eigenen Vorteil gestellt werden muss. Das führt nicht nur dazu, dass beim Ein- und Aussteigen in den Zug niemand drängelt. Auch an den Rolltreppen stehen die Japaner artig in einer Reihe. Die bewegt sich dann zwar langsam, aber dafür eben für alle verlässlich voran.
Um die Abläufe in den Bahnhöfen so reibungslos wie möglich zu gestalten, arbeiten die Betreiber aber auch mit einigen subtilen psychologischen Tricks. Ein wichtiger Punkt dabei: den Stress aus der Hektik zu nehmen. Allein der Hauptbahnhof von Tokio wird täglich von einer Million Menschen frequentiert, der Bahnhof Shinjuku gilt mit 3,6 Millionen Fahrgästen pro Tag als meistgenutzter Bahnhof der Welt. Um in diesem Trubel den Stresspegel möglichst niedrig zu halten, entschied sich beispielsweise der Bahnbetreiber JR East einst, die Abfahrt der Züge nicht mehr durch lautes Piepsen oder Tuten anzukündigen. Stattdessen beauftragte er den japanischen Klavierhersteller Yamaha und den Komponisten Hiroaki Ide damit, für viele Bahnhöfe eigene kurze Melodien zu komponieren, die nun immer dann erklingen, wenn sich die Türen der Züge schließen. Auch Vogelgezwitscher oder Kuckucksrufe tönen in einigen Stationen über die Bahnsteige, was das Wohlbefinden der Reisenden erhöhen soll.
Die Macht der Töne nutzen die Bahnhofsbetreiber aber auch in entgegengesetzter Richtung: nämlich um Jugendliche davon abzuhalten, an den Stationen herumzulungern. Dafür werden an einigen Stellen Geräusche in so hohen Frequenzen ausgestrahlt, dass sie nur von Jugendlichen wahrgenommen werden. Die suchen dann lieber schnell das Weite. Ohnehin mag sich mancher Deutsche darüber wundern, wie brav sich japanische Jugendliche verhalten – auch im Zug. Dass jemand die Füße auf die Sitze legt oder gar die Wände bemalt ist hier undenkbar.
Als die japanische Autorin Emi Kawaguchi zum Jahreswechsel auf dem Onlineportal Mag2news einen etwas fassungslosen Essay darüber schrieb, wie ihre Wahlheimat Deutschland sich selbst vom „Helden Europas“ langsam in Richtung „Entwicklungsland“ degradiere, widmete sie sich besonders ausgiebig der Deutschen Bahn. Schon die Tatsache, dass in Deutschland eine Verspätung von weniger als sechs Minuten als „pünktlich“ gelte, regte sie auf, gestand dem Unternehmen aber ein, dass „ansonsten wohl gar keine Züge pünktlich kommen würden“.
Oft funktionierten die Toiletten nicht und in den Speisewagen gebe es nur Getränke. „Im Sommer fallen häufig Klimaanlagen aus, und weil sich die Fenster in Schnellzügen nicht öffnen lassen, wird das Innere des Zuges so heiß, dass manche Menschen zusammenbrechen“, schrieb Kawaguchi weiter. „Als dagegen Anfang des Monats in Süddeutschland heftiger Schnee fiel, waren alle Linien im Raum München für etwa drei Tage stillgelegt, was zu Chaos führte.“
Wer in Japan lebt und solche Berichte liest, fragt sich wirklich, wie die führende Industrienation Europas sich ein solche Bahnsystem leisten kann. Und das, obwohl die oft verteufelte Privatisierung der Deutschen Bahn ja nie stattgefunden hat.
Die Japaner haben ihre Bahn 1987 privatisiert und in sechs Regionalgesellschaften und eine Frachtgesellschaft aufgeteilt. Die meisten von ihnen arbeiten heute profitabel, auch weil damals die hohen Schulden der Staatsbahn und viele überzählige Mitarbeiter in eine Auffanggesellschaft ausgelagert wurden. Einige der Bahngesellschaften sind heute an der Tokioter Börse notiert. Staatliche Gelder erhalten sie nicht, allenfalls für die Instandhaltung und den Ausbau des Schienennetzes beteiligt sich der Staat. So wurde erst vor wenigen Tagen eine neue Shinkansen-Strecke an der Küste entlang des Japanischen Meeres eröffnet. Die Kosten von 1,7 Billionen Yen (10,4 Milliarden Euro) teilten sich die Zentralregierung, die Regionalverwaltungen und die Städte, die von der neuen Strecke profitieren sollen. 14 Mal am Tag sollen Passagiere aus der abgelegenen Region nun ohne Umstieg nach Tokio düsen können, in weniger als drei Stunden.
Doch der enge Takt und die ausgeklügelten Abläufe des Shinkansen-Systems sorgen auch dafür, dass schon kleine Fehler große Auswirkungen haben können. Das zeigte sich gerade erst am 6. März, als ein Shinkansen, der von Tokio Richtung Norden unterwegs war, aus bislang ungeklärter Ursache morgens um halb acht erst 500 Meter hinter dem Bahnhof der Stadt Koriyama zum Stehen kam. Allein um den Zug zurück in den Bahnhof zu schleppen, brauchten die Bahnbetreiber eine Stunde. Bis er wieder normal weiterfahren konnte, vergingen zwei Stunden. Alles in allem 29 Züge hatten in der Folge Verspätung oder fielen ganz aus. 45 Züge kamen mit bis zu zwei Stunden Verspätung an ihrem Ziel an. Das eigentlich kleine Malheur brachte die Reisepläne von 32.000 Passagieren durcheinander. Dass dies für die japanische Bahn ungewöhnlich ist, zeigte ein Blick in die Zeitungen am nächsten Tag: Dort wurde auf allen Titelseiten über das Missgeschick berichtet.