Von Deutschland abgelehnt: Als Richter verurteilte er Taliban – jetzt soll er zurück zu ihnen

Fast drei Jahre hat es gedauert, bis Jamshid Kaveh von der Bundesregierung eine Antwort auf seinen Visumsantrag erhalten hat. Der frühere afghanische Richter wartete mit seiner Frau und seinen vier Kindern ab Januar 2023 in einem Gästehaus in Pakistan auf die Ausreise. Im Juli 2025 verpflichtete das Verwaltungsgericht Berlin die Bundesregierung, ihnen Visa zu erteilen. Die Begründung: Dem früheren Richter drohe eine Gefährdung von Leib und Leben.
Kaveh, der wie alle Afghanen in diesem Text eigentlich anders heißt, hatte vor der Machtergreifung der Taliban am Obersten Gerichtshof in Kabul gearbeitet und nach eigenen Angaben auch Taliban-Funktionäre verurteilt, die inzwischen hohe Posten innehaben. Im August focht die Bundesregierung das Berliner Urteil erfolgreich an, ließ die Entscheidung in Kavehs Fall aber offen.
Anfang dieses Monats entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Berlin die Visumsanträge „umgehend zu bescheiden“ habe. Fünf Tage später kam die Ablehnung. Ein „politisches Interesse“ der Bundesrepublik sei nicht gegeben, heißt es in dem Schreiben.
„Wir sind zutiefst geschockt“
Mit Kavehs Gefährdung hat das nichts zu tun. „Der einzige Grund, den sie uns gegeben haben, ist, dass sich die Regierungspolitik geändert hat“, sagt er am Telefon aus Peschawar. „Wir sind zutiefst geschockt.“ Er habe auf die Zusage vertraut, die das Bundesinnenministerium ihm im Dezember 2022 gegeben habe. Deshalb habe er sich nicht in anderen Ländern um Asyl bemüht.
Kaveh hat das Pech, dass er damals in das Programm der „Überbrückungsliste“ aufgenommen wurde. Wie der Name sagt, diente es als Überbrückung bis zum Beginn des Bundesaufnahmeprogramms (BAP), auf das sich die damalige Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt hatte. Im Unterschied zum BAP basiert die Überbrückungsliste auf Artikel 22 des Aufenthaltsgesetzes, in dem die Aufnahme „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ erfolgt. Diese politischen Interessen werden von der jetzigen Regierung anders ausgelegt.
Die Folge: Zusagen im Rahmen des BAP, das auf Artikel 23 basiert, bewerten deutsche Gerichte als bindend. Zusagen für die Überbrückungsliste und die noch von der Merkel-Regierung geschaffene Menschenrechtsliste dagegen nicht – unabhängig vom Grad der Gefährdung. Das betrifft rund 640 Personen. Vergangene Woche kündigte das Bundesinnenministerium an, ihnen in den nächsten Tagen Ablehnungen zuzusenden. Viele Betroffene erhielten am Freitagabend eine entsprechende E-Mail.
Ihnen droht die Abschiebung aus Pakistan
Die Kavehs hatten von Anfang an Pech. Ihre Ausreise nach Deutschland war nach Angaben des früheren Richters schon für Frühjahr 2023 geplant. Ihre Namen hätten auf einer Passagierliste für einen Charterflug gestanden, der dann ausgefallen sei. Danach wurden die Programme wegen Kritik an fehlenden Sicherheitsüberprüfungen für drei Monate ausgesetzt. Sicherheitsbefragungen wurden eingeführt. Die Kavehs bekamen erst für Januar 2025 einen Termin. „Wir wurden zwei Jahre lang im Limbo gehalten. Bis heute wissen wir nicht, warum.“
In dieser Zeit seien etwa 200 Richter mit einem ähnlichen Profil nach Deutschland gebracht worden. In all dieser Zeit habe er niemals mit einem negativen Bescheid gerechnet. Nun geht er davon aus, dass die pakistanischen Behörden ihn Ende des Jahres den Taliban übergeben werden. Denn das ist die Frist, die die Bundesregierung mit Islamabad zur Abwicklung aller Programme vereinbart hat. Anschließend droht allen die Abschiebung.
Das Auswärtige Amt drängt deshalb zur Eile. Außenminister Johann Wadephul (CDU) sagte dem Evangelischen Pressedienst, er gehe davon aus, dass die Aufnahme von Personen mit verbindlichen Zusagen „Priorität“ habe. Die entsprechenden Flüge sollten jetzt „schnell“ stattfinden. Vor zwei Wochen war erstmals seit dem Regierungswechsel ein Charterflug mit 192 Afghanen an Bord in Deutschland gelandet. Allesamt BAP-Teilnehmer.
Das Auswärtige Amt verweist aufs Innenministerium
Die Verantwortung für die Ablehnungen in den anderen Programmen wies Wadephul Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) zu. Dessen Ministerium sei „zuständig“ und habe keine andere Möglichkeit „mehr gesehen“. Seit Jahren gibt es zwischen beiden Häusern Differenzen zu den Aufnahmeprogrammen. In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich Union und SPD aber darauf verständigt, „freiwillige“ Aufnahmeprogramme „möglichst“ zu beenden.
Auch der Jurist und Menschenrechtsaktivist Nawid Khan gehört zu denen, die am Freitag eine Ablehnung bekamen. „Seit wir diese E-Mail erhalten haben, sind wir emotional zerstört“, sagt er. Khan hatte nach der Machtergreifung der Taliban Demonstrationen für Frauenrechte organisiert und saß deshalb eine Zeit lang im Gefängnis.
Seit 17 Monaten ist er in Islamabad. Einen Termin für eine Sicherheitsbefragung in der deutschen Botschaft hat er nie bekommen. Statt jene zurückzuweisen, die mithilfe von Schleusern illegal nach Deutschland einreisten, würden ausgerechnet die abgewiesen, die den legalen Weg gewählt haben und die umfangreich durchleuchtet wurden, kritisiert er.
„Wenn sie uns ablehnen, stehen wir vor dem Nichts“
In der afghanischen Hauptstadt Kabul warten derweil noch etwa 165 Afghanen auf einen Bescheid aus Berlin. Sie waren in den vergangenen Wochen von Pakistan abgeschoben worden. „An der Grenze haben sie uns die Ausreisestempel auf die Hand gestempelt, weil unsere Pässe bei der deutschen Botschaft liegen“, sagt Ariana Rasuli zur Veranschaulichung der erniedrigenden Behandlung, die sie durch die pakistanischen Behörden erfahren hätten. „Meiner vierjährigen Schwester haben sie gesagt, sie solle nie wiederkommen.“
Rasuli und ihre Familie leben in Kabul nun in einem von Deutschland angemieteten Gästehaus, das sie aus Sicherheitsgründen fast nie verlassen. Die junge Frau hat sich lange für Mädchenbildung engagiert und auch dann noch eine Einrichtung geleitet, als die Taliban dies verboten hatten.
Die Bundesregierung hat ihrer Familie Geld angeboten, damit sie ihre Anträge zurückzieht. Rasuli hat abgelehnt. Sie ist aber Realistin genug, um zu wissen, dass ihre Chancen schlecht stehen. Zwei Ängste treiben sie um: Die Angst vor sexuellen Übergriffen in einem Taliban-Gefängnis, wie sie von mehreren Betroffenen berichtet wurden. Und die völlige Verarmung ihrer Familie. Bevor sie nach Pakistan gegangen seien, hätten sie Ackerland und ihr Haus verkauft. Mindestens 8000 Dollar hätten sie samt Schmiergeldern für Pässe, Geburtsurkunden und pakistanische Visa ausgeben müssen.
„Wenn sie uns ablehnen, stehen wir vor dem Nichts“, sagt Rasuli. „Ich habe jeden Glauben an die Menschenrechte verloren“, sagt sie. Später schreibt sie per Whatsapp: Falls sie zu emotional geworden sei, wolle sie sich entschuldigen.
Source: faz.net