Von Deitelhoff solange bis Mau: Die besten deutschen Denker

Hito Steyerl: Die Visionärin

Kaum eine Künstlerin hat sich in ihrem Werk so ausgiebig mit technologischen Entwicklungen befasst wie Hito Steyerl; damit, was Technologien mit uns machen – beziehungsweise wer mit ihnen was tut und warum. Dazu gehört auch die Geschichte der Drohnen: Steyerl hat seit Jahren verfolgt, wie sie von Terroristen mit Sprengsätzen bestückt wurden und wie die Rüstungsindustrie die anfangs spielzeugartigen Minihelikopter mithilfe ahnungsloser Nutzer zu Tötungsmaschinen weiterentwickelte, wie ihre Bilder die Bildproduktion veränderten und eine neue Überwachungskultur ermöglichten. In anderen Arbeiten befasst sich Steyerl mit Robotern, die Menschen retten, aber auch töten können, und, schon lange bevor das Thema alles beherrschte, mit Künstlicher Intelligenz und einer Welt, in der der Prompt, der Sprachbefehl, Bilder und Realitäten produziert – wo also Sprache zum Bild wird und mit diesen KI-generierten Bildern Politik gemacht wird.

Die Künstlerin Hito Steyerl
Die Künstlerin Hito Steyerldpa / Bearbeitung F.A.S.

Die Frage, wer die neuen Technologien – von Drohnen über Gesichtserkennung bis zu Künstlicher Intelligenz und ihren Bildproduktionen – kontrollieren und nutzen wird, ist eine der zentralen der Gegenwart. Zentrale Werte wie Selbstbestimmung und Freiheit hängen daran. Steyerls Kunst und ihre scharfsichtigen Essays widmen sich der Erforschung von Technologie und ihrem zweischneidigen Potential, Gesellschaften zu verbessern oder zu ruinieren: Sie nutzt Technologie für ihre eigene Bildproduktion und schafft so eine Ästhetik, die aus einem wilden ikonographischen Gemenge aus KI-Bildern, Memes, Animationen und Videos die Hoffnungen, Obsessionen und Ängste der Gegenwart sichtbar macht und ihnen eine Form gibt. Sie zeigt aber auch, wie Technologie in den Händen weniger KI-Entwickler und Großkonzerne einen neuen Techtotalitarismus erzeugt und wie KI-generierte Bilder, die teilweise nur noch von Maschinen und nicht mehr von Menschen genutzt werden, die Welt in einen Fake-News- und Fake-Reality-Strudel stürzen.

Wie klug Steyerl Sprache nutzt und über sie gesellschaftliche Entwicklungen reflektiert, zeigen ihre Wortkreationen – in einem Vortrag über den neototalitären Einsatz von „Generative Art“ entwickelte sie etwa das Konzept der „De-generative Art“, die bewusst mit dem englischen Begriff für „entartete Kunst“ spielt. Dabei ist Steyerl keine Kulturpessimistin: In einer Arbeit entwirft sie eine beeindruckende suggestive Bildwelt, in der KI hilft, ein neues Ökosystem mit phantastischen Pflanzen zu generieren – und die wie nebenbei zeigt, wie eine Welt aussehen könnte, in der die Programmierung und Kontrolle der KI nicht in den Händen weniger Techlords läge. Steyerl ist Künstlerin, kritische Techforscherin und Bildwissenschaftlerin, die zeigt, wie sich das Wesen des Bildes gerade fundamental ändert. Es ist selten, dass Künstler in ihren Werken Bilder schaffen, die sichtbar und begreifbar machen, wo sich eine Gesellschaft befindet, wohin sie steuert – und was Alternativen wären. Niklas Maak

Steffen Mau: Der Verbindende

Steffen Mau tut vieles nicht. Das ist sein größter Beitrag zur gegenwärtigen Lage. Er presst zum Beispiel kein selbst ausgedachtes Erklärungsmodell dieser Lage auf deren Phänomene. Er mustert diese Phänomene vielmehr, wo er sie erkennt, und sortiert sie, schafft einen Überblick, was ja immer der erste Schritt ist, um Lösungen zu finden – falls es sich denn um Konflikte handelt. Mau ist also nicht der Typ aus der Redewendung, der überall Nägel sieht, seit er einen Hammer hat. Er sieht vielleicht, dass andere überall Nägel sehen, versucht, zu verstehen, warum sie das tun, sieht sie vielleicht auch, aber er ist nicht mit dem Hammer unterwegs.

Der Soziologe Steffen Mau
Der Soziologe Steffen MauMarie-Luise Kolb / Bearbeitung F.A.S.

Der Berliner Soziologe Mau identifiziert vielmehr – in einem gefeierten Buch, das er gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasst hat – die „Triggerpunkte“ der gegenwärtigen Lage, Migration, Ungleichheit, um die dann empirisch zu prüfen: Stimmt das, ist das so, sind wir so polarisiert, und wer ist hier überhaupt wir? Die empirische Arbeit der drei Wissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität hat dann gezeigt, dass der Konsens viel verbreiteter ist als angenommen, aber ebenso wichtig war eben auch der Ton dieses Buchs.

Nehmen wir mal an, dass die Lage gerade tatsächlich so ist wie in Talkshows angenommen: dass diese Bundesrepublik Deutschland ein polarisiertes Land ist, verfahren und zerstritten. Die einen wollen gendern, die anderen nicht, die einen Wärmepumpen anschließen, die anderen nach Gas bohren, die einen das Asylrecht verteidigen, die anderen es abschaffen. Wenn das also so wäre, dann wäre eine offene und interessierte Skepsis gegenüber diesen Befunden nicht die Widerlegung oder die Lösung der Probleme, sondern erst einmal der Anfang eines Gesprächs. Und auch wenn das alles Selbstverständlichkeiten im Diskurs sein sollten, fällt Steffen Mau als Vertreter dieser Selbstverständlichkeiten damit unter den Aufgeregten und Aufgebrachten und den Leuten mit den Hämmern und Nägeln auf.
Kein gutes Zeichen, einerseits. Andererseits ein gutes, dass Mau mit seinen Büchern großen und breitenwirksamen Erfolg hat: Angefangen von der Transformationsstudie über die Rostocker Siedlung „Lütten Klein“, in der er aufwuchs, über die „Triggerpunkte“ bis hin zu „Ungleich vereint“: Das ist ein schmales Buch über den Osten der Republik, das innerdeutsche Unterschiede und Ungleichheiten betrachtet und sortiert, im Kern aber eine Auseinandersetzung mit der Frage ist, wie die AfD im Osten so erfolgreich werden konnte.

Dass Mau am Ende dieses Buchs sogar einen politischen Vorschlag hat, wie man der Radikalisierung des rechten Randes begegnen könnte, ist ungewöhnlich für einen Soziologen. Dieser Vorschlag aber passt dann wieder zum Soziologen Steffen Mau: Bürgerräte im Osten einzurichten und deren Rolle zu stärken, Gremien, per Los besetzt, in denen die Einberufenen dann Entscheidungen finden müssen, für kleine und größere Fragen, im Austausch, miteinander. Deeskalation.
Es wäre schön, wenn die Leute, die so etwas entscheiden, das hören würden. Könnte ein Anfang sein. Dass Steffen Mau sich mit seiner Stimme im Polarisierungsdiskurs durchsetzen kann, ist es auf jeden Fall. Tobias Rüther

Nicole Deitelhoff: Die Friedensforscherin

Als im Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr die AfD und das BSW den Friedensbegriff für sich entdeckten und manche schon von einer „neuen Friedensbewegung“ sprachen, zeigte sich die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, Direktorin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, erstaunt. Das lag nicht nur daran, dass sich bei den selbst ernannten Friedensparteien kein substanzielles Friedenskonzept fand. Frieden, so Deitelhoff, müsse schon „mehr sein als eine Friedhofsruhe oder die Pause bis zum nächsten Krieg“. Er müsse einen dauerhaften Weg aus der Gewalt aufzeigen.

Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff
Die Politikwissenschaftlerin Nicole DeitelhoffLucas Bäuml / Bearbeitung F.A.S.

Ihr Erstaunen galt vor allem auch der Renaissance des Friedensbegriffs als solchem, da dieser im öffentlichen Diskurs in weiten Teilen an Bedeutung verloren hatte. Frieden galt hier mitunter als „gescheiterter Begriff“, weil die nach dem Kalten Krieg an ein liberales Friedensverständnis geknüpften Erwartungen, die Hoffnungen auf eine europäische Friedensordnung und das Versprechen demokratischer Friedfertigkeit enttäuscht worden waren. Zwar erwiesen sich Demokratien untereinander als friedlich, doch im Umgang mit Autokratien und bei der Durchsetzung ihrer Werte und Interessen oft als umso kriegsbereiter, sodass, wie die Politologin es zum Jahresbeginn in einem Gastbeitrag im „Spiegel“ darstellte, der „Friedensbegriff vom Sicherheitsbegriff verdrängt“ wurde.

Die Frage, wie sie Frieden definiere, beantwortet die Professorin für Internationale Beziehungen mit zwei geläufigen Begriffen: mit dem „negativen Frieden“, der die Abwesenheit von physischer Gewalt bezeichnet; und dem „positiven Frieden“, der einen Zustand beschreibe, in dem nicht nur keine Gewalt da sei, sondern wir darüber hinaus gerechte Verhältnisse haben. Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine wird Nicole Deitelhoff in kurzem Takt befragt, welcher Frieden und welche Lösung möglich seien, solange es einen Aggressor gibt, und wie ein Frieden überhaupt zu verhandeln wäre. Ihre Antworten zeichnen sich vor allem durch Beweglichkeit aus, durch das Vermögen, sich auf ein permanent sich veränderndes, dynamisches Kriegsgeschehen einzustellen und die strategischen Möglichkeiten auszuloten. In Kriegen gebe es, so Deitelhoff, oft zwei Zeitfenster für Frieden. Das erste öffne sich kurz nach dem Ausbruch der Gewalt, wenn beide Seiten feststellten, dass sie sich verkalkuliert und die Kräfte des Gegners falsch eingeschätzt haben. Wenn Gewalt und Gräueltaten zunehmen, werde der Weg aus dem Krieg heraus immer schwieriger, und Verhandlungen würden erst dann wieder erwogen, wenn Mittel und Möglichkeiten erschöpft seien. Aufgabe der Friedensforschung ist es, in solchen Situationen anhand großer Datenmengen zu analysieren, worum es in einem Konflikt geht: Territorium, Ressourcen oder Ideologie. Und Optionen zu finden, die den politischen Akteuren dabei helfen könnten, Entscheidungen zu treffen.

Dass es in der Ukraine darum geht, einen Frieden mit dem Aggressor Russland schließen zu müssen, steht für Deitelhoff außer Frage. Für sie ist es kein Argument, zu sagen, dass Putin immer schon gelogen habe, man mit ihm deswegen keine Verträge schließen könne. Dann könnte man praktisch mit fast keinem Staat irgendwo Verträge schließen. Wie sich Staaten mit entgegengesetzten Werten und Interessen, wie sich Demokratien und Autokratien in eine internationale Ordnung integrieren lassen, ohne rücksichtslos nach dem Recht des Stärkeren zu verfahren, das ist die grundsätzliche Frage, die die Friedensforscherin umtreibt. Julia Encke

Philip Manow: Der Unerschrockene

Es gibt gegenwärtig keine durchdachteren Texte zur Situation der modernen Demokratien als die Philip Manows. Das liegt daran, dass der Siegener Politikwissenschaftler sie nicht als zweifelsfreien Vernunftzustand des Politischen versteht, sondern als vergleichsweise neues, prekäres und problembeladenes Gebilde. Die Begriffe ihres Eigenlobs – „Selbstregierung des Volkes“, „repräsentatives Parlament“, „Gewaltenteilung“, „freiheitliche Verfassung“ – sind für ihn keine Zustandsbeschreibungen, sondern Gegenstand einer Analyse, die in ihnen mehr Probleme als Lösungen entdeckt. Die politischen Attacken auf das liberale Modell des Rechtsstaats nimmt er darum ernst. Seine intensive Lektüre des Werks von Carl Schmitt, dem Gottseibeiuns des Liberalismus, ist nur ein Beispiel dafür, dass Manow sich nicht so leicht schrecken oder zu Reflexen verführen lässt.

Philip Manow
Philip ManowPicture Alliance/Bearbeitung F.A.S.

In „Die Politische Ökonomie des Populismus“ (2018) untersuchte er die Umstände des Aufstiegs von Parteien, die teils gegen Migration, teils gegen fiskalische Austeritätsregime protestieren, beide Male also gegen die EU und die verfassungsähnliche Interpretation ihrer Verträge. Danach wendete er sich der besonderen Spannung zwischen Mehrheitsentscheidungen und ihrer Bindung durch Recht zu. Sehr anschaulich ist sie inzwischen in den Vereinigten Staaten hervorgetreten. In „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ (2020) wurde mit Blick auf die Krise der politischen Parteien und ihrer hergebrachten Ideologien, den Wandel ihrer Personalauswahl und der Öffentlichkeit gezeigt, unter welchen Umständen es zu den gegenwärtigen demokratischen Komplotten gegen die Demokratie kommt.
Das jüngste Buch, „Unter Beobachtung: Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ (2024), analysiert, wie Verfassungsrecht und EU-Recht die Demokratie in einem Griff halten, der verhindert, dass ihre gängige Begründung noch kraftvoll ist. Niklas Luhmann hatte 1969 ausgeführt, wie politische Legitimation durch zwei Verfahren entsteht: politische Wahlen und Gerichtsentscheidungen. Manow führt die Diskussion über den Zustand der Demokratie an den Punkt, an dem diese beiden Legitimationen miteinander konkurrieren und zu politischen Konflikten wie denen führen, die zuletzt um die Verfassungsrichterwahl entflammten.

Der klare Verstand, den Manow in den Gefechten der Gegenwart bewahrt, hat eine Quelle in seiner großen Kenntnis politischer Systeme: Er ist der Begründer der Datenbank Parl-Gov, die Informationen über 39 Demokratien, mehr als eintausend Wahlen und mehr als 1500 Regierungen im OECD-Raum von 1900 bis 2023 bereithält. Zugleich hat Manow eine Reihe ideengeschichtlicher Studien zu Selbstbeschreibungen der Demokratie vorgelegt. Über die Schwedische Bauernpartei weiß er ebenso Auskunft zu geben wie über die konfessionellen Aspekte der verschiedenen Versionen des Wohlfahrtsstaats oder die Ursprungsmythen der frühneuzeitlichen politischen Philosophie. „Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie“ (2017), in dem er die Demokratie nicht anhand ihrer Dogmen, sondern anhand ihrer Rituale deutet – vom Applaus auf Parteitagen über die Demoskopie bis zu politischen Sprüchen und Zehnpunkteplänen –, beweist darüber hinaus seinen Witz. Mehr als empirische Kenntnis, historisches Wissen, theoretische Durchdringung der Probleme und beobachtender Witz kann von niemandem verlangt werden. Jürgen Kaube

Christoph Möllers: Der Liberale

Als Kern eines wohlverstandenen Liberalismus könnte man dessen Fähigkeit zur Unterscheidung der Ebenen bezeichnen, zur Ein- und Abgrenzung der politischen, juristischen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Dimensionen eines Konflikts. Erst so lassen sich die ideologischen Knäuel und demagogischen Verzerrungen auflösen, mit denen liberale Demokratien in letzter Zeit vermehrt zu kämpfen haben. So gesehen, ist der Berliner Rechtsphilosoph Christoph Möllers der liberale Intellektuelle schlechthin – nicht etwa bloß, weil er liberale Positionen vertritt, sondern weil er exemplarisch jenen Grundakt zu vollziehen vermag, der liberale Gesellschaften auszeichnet, aber auch erst möglich macht.

Christoph Moellers, neuer Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs
Christoph Moellers, neuer Rektor des Berliner WissenschaftskollegsAmin Akhtar / Laif / Bearbeitung F.A.S.

Besonders einflussreich wurde Möllers, als er mit zwei Rechtsgutachten, die die damalige Kulturstaatsministerin Roth bei ihm in Auftrag gegeben hatte, den Documenta-Antisemitismus-Komplex aufdröselte. Dass die Verfassung eine staatliche Vorabkon­trolle von Kunstwerken oder den nachträglichen Entzug einer Förderung nicht erlaube, nannte er den „freiheitlichen Skandal der grundgesetzlichen Ordnung“, der gewährleiste, dass staatlich geförderte Kunst nicht zu staatlicher Propaganda werde. Doch staatliche Institutionen seien durchaus dazu berechtigt, die Kunstförderung mit politischen oder gesellschaftlichen Zielen zu verbinden oder im Konfliktfall eine kuratorische Stellungnahme einzufordern, zum Beispiel die Distanzierung von einem Kunstwerk, das sich als antisemitisch herausgestellt hat. Es gibt also keinen Rechtsautomatismus, an den Beamte oder Politiker ihre Verantwortung delegieren könnten, sich im Zweifelsfall auf Streit einzulassen. Die praktische Bewährungsprobe dieser Differenzierung wird erst die kommende Documenta liefern, doch im Dickicht der wechselseitigen Polemiken hat sie erst mal für Übersicht gesorgt.
Dass glückender Liberalismus auch mit souveränem Witz zu tun hat, zeigte Möllers in den lebensklugen Miszellen seines Buchs „Freiheitsgrade“, wo er etwa die List in der Politik verteidigte – weil nämlich der politische Gegner „eines institutionell eingefangenen strategischen Umgangs“ bedürfe. Die Pointe steckt im Realismus der Formulierung. Mark Siemons

Friederike Otto: Die Klimaexpertin

Man kann die Blickeinstellungen der in London forschenden und lehrenden Physikerin und promovierten Philosophin Friederike Otto mit den ersten Sätzen ihres Buches „Klimaungerechtigkeit. Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat“ beschreiben. Die globale Mitteltemperatur sei seit dem Beginn der industriellen Revolution um mehr als ein Grad gestiegen, heißt es im ersten Satz des ersten Kapitels unter der Überschrift „Im Brennglas der Ungleichheit“. Die Anfang 2023 herrschenden 1,2 Grad globaler Erwärmung klängen zwar nach wenig, seien für einen Planeten und dessen Bewohnerinnen und Bewohner aber ein riesiger Unterschied, wie es eben auch einen Unterschied mache, ob die Körpertemperatur eines Individuums 37 oder 38,2 Grad betrage.

Friederike Otto
Friederike OttoPicture Alliance/Bearbeitung F.A.S.

Friederike Otto, die in den letzten Jahren wesentlich zur Entwicklung der Ursachenforschung von Extremwettern beigetragen hat und deshalb 2021 vom „Time Magazin“ zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres erklärt wurde, verliert nie die konkreten Körper, die den Wettern ausgesetzt sind, aus dem Blick. Wenn sie am Beispiel Pakistans, eines der am stärksten von Extremwettern heimgesuchten Länder der Erde, in schlichter Sachlichkeit die natürlichen und menschengemachten Ursachen der grausamen Überschwemmungen beschreibt, vergisst sie nicht zu erwähnen, dass es armen Ländern schwerer fällt, sich Klimaereignissen anzupassen, als reichen.

Ottos Forschungen machen es nicht nur möglich, sehr genau den menschengemachten Anteil an Wetterkatastrophen zu bestimmen, sie befähigen auch zu immer genaueren Vorhersagen, in welchen Gebieten der nächste Starkregen anstehen könnte. In der Praxis wird das bisher zu wenig wahrgenommen. Und da liegt denn auch ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit: die Form der Erzählungen rund um den Klimawandel. Wirksames Handeln gegen die Klimaungerechtigkeit werde es erst geben, wenn wir bessere Geschichten als die von der Angst vor den Kipppunkten oder die des Zurückdrehens der Globalisierung zu erzählen vermögen – so wie das ja auch der Feminismus mittlerweile in Bezug auf die Frauen geschafft habe. Cord Riechelmann

Omri Boehm: Der Universalist

Viele Menschen glauben an eine Gottheit, die für sie das höchste Wesen ist. Omri Boehm aber zielt höher. Für ihn steht auch Gott unter einem Gesetz. Gegen den Anspruch einer absoluten Gerechtigkeit könnte kein HaSchem, kein dreifaltiger Himmelsvater, kein Allah ein Dekret verfügen, das ihn in souveräne göttliche Willkür einsetzt. Implizit gilt damit auch: Das eigentlich höchste Wesen ist der Mensch, denn ihm obliegt es, diese Gerechtigkeit, dieses abstrakte, niemand ausschließende oder gar unterjochende Wir konkret zu realisieren.

Omri Boehm lehrt an der New School for Social Research in New York
Omri Boehm lehrt an der New School for Social Research in New Yorkdpa / Bearbeitung F.A.S.

Als Omri Boehm, der jüdische Kantianer, vor drei Jahren seine Programmschrift „Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität“ vorlegte, da konnte man das Buch noch halbwegs als einen zwar deutlich aufs Ganze gehenden, aber eben doch einen von vielen Debattenbeiträgen zu dem Großthema Identitätspolitik und deren Aushöhlung der Ansprüche der europäischen Aufklärung sehen. Doch dann begann Putin, in der Ukraine ein großrussisches partikulares „Wir“ mit unerhörter Grausamkeit durchzusetzen, dann überfiel die Hamas das südliche Israel, worauf Israel sich anschickte, ganz Gaza unbewohnbar zu machen. Überall hatte man es plötzlich wieder mit „brutalen Nachbarn“ (José Brunner) zu tun, während Omri Boehm gerade für sein Heimatland Israel schon einen gegenteiligen Weg aufgezeigt hatte: Auf dem Territorium, das heute nicht mehr nur radikale Juden und Palästinenser für sich allein haben wollen, hält er auch ein binationales Leben für möglich, das er am Beispiel einer „Republik Haifa“, also einer neuen Verfassung seiner Geburtsstadt, anschaulich machte. Dass er die Begründung seines Begriffs von Universalismus nicht nur von Kant herleitete, sondern mit einem kühnen Manöver auch aus einer textkritischen Lektüre der Bibelstelle von Abraham und Isaak, trug ihm Widerspruch ein – aber seine Deutung ist nicht nur exegetisch elegant, sie überwindet auch den Gegensatz zwischen „heiligen“ und vernünftigen Schriften. Gerade als Leser der Bibel ist ­Boehm der aufgeklärte Jude, mit dem sich ein Staat denken lässt, der den ewigen Unfrieden überwindet. Bert Rebhandl

Navid Kermani: Der Vermittler

Das große Vermögen des Schriftstellers, Reporters und Debattenteilnehmers Navid Kermani ist, dass er bei allen Themen, zu denen er etwas sagt, als Erstes sich selbst befragt und den Boden, von dem her er sich äußert. Wenn es also zum Beispiel um Neil Young geht, versucht er erst mal das Geheimnis zu ergründen, weshalb dessen Musik das Einzige ist, was seine von Koliken geschüttelte kleine Tochter zu beruhigen vermag. Oder wenn er im Bundestag die Rede zu 65 Jahren Grundgesetz hält, fragt er sich, weshalb seine Eltern, die 1953 aus Iran in die Bundesrepublik kamen, mit ihrer zum Zeitpunkt der Rede sechsundzwanzigköpfigen Familie so glücklich geworden sind in diesem Land. Die Politik, die Künste, die gesellschaftlichen Umbrüche – alles geht erst mal durch den Filter der persönlichen Erfahrung, bevor es zu einer Meinung gerinnt.

Der Schriftsteller, Reporter und Debattenteilnehmer Navid Kermani
Der Schriftsteller, Reporter und Debattenteilnehmer Navid Kermanidpa / Bearbeitung F.A.S.

Für die deutsche Öffentlichkeit ist das vor allem deshalb ein Glück, weil es eine dort sonst selten anzutreffende Sensibilität für außerwestliche Lebensverhältnisse einschließt. Das betrifft auch den Islam, über den Kermani als gelehrter Kenner, aber eben auch wieder als selbst Praktizierender spricht; schon in seinem Erstlingswerk über die ästhetische Erfahrung des Korans war das so.

Als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, forderte er am Ende seiner Rede das verblüffte Publikum in der Frankfurter Paulskirche zum Gebet für zweihundert Christen auf, die in Syrien vom IS entführt worden waren. Die politische Reflexion ging da unvermittelt in einen Vollzug der Religion über; ausgerechnet seine auf Erfahrung und Skepsis setzende Diskursform ließ ihn die sonst säuberlich getrennten Kommunikationssphären überschreiten. So kommt es, dass es ein aufgeklärter Denker muslimischen Glaubens ist, der in der intellektuellen Welt des ehemals christlichen Landes die „Fragen nach Gott“, wie zuletzt der Untertitel seiner halbfiktiven Gespräche mit der eigenen Tochter hieß, am wirkungsvollsten wachhält. Mark Siemons

Moritz Schularick: Der Geoökonom

Moritz Schularick zählt zu den einflussreichsten deutschen Ökonomen, obgleich er seine akademische Karriere in der Wirtschaftsgeschichte, einem von vielen Wirtschaftswissenschaftlern ignorierten Teilgebiet, begonnen hat. Und doch steht seine 2004 am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin abgeschlossene Dissertation über „Finanzielle Globalisierung in historischer Perspektive“ am Anfang seines beeindruckenden Aufstiegs. Die Arbeit behandelte mit den Kapitalflüssen zwischen reichen und armen Ländern ein auch politikrelevantes Thema. Und sein Doktorvater Carl-Ludwig Holtfrerich besitzt ebenso wie der aus Schottland stammende Zweitgutachter Niall Ferguson enge Beziehungen in die Vereinigten Staaten.

Moritz Schularick
Moritz SchularickAndreas Pein/Bearbeitung F.A.S.

In der Folge arbeitete Schularick mit internationalen Ökonomen an der Nutzung globaler historischer Finanzdaten, die zur Grundlage viel beachteter Arbeiten wurden.
„Credit Booms Gone Bust“ zeigte historische Zusammenhänge zwischen Kreditwachstum, Geldpolitik und Finanzkrisen auf. „Going to the extremes: Politics after Financial Crises, 1870-2014“ behandelte den Erfolg populistischer Parteien nach Finanzkrisen. Doch Schularick schrieb nicht nur über die Welt; es zog ihn auch in sie hinaus: Er hat unter anderem in Paris, London, Cambridge und New York geforscht und gelehrt. Vor zwei Jahren stand sein Name auf den Berufungslisten gleich zwei namhafter deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute auf Platz eins. Schularick, der auch ein talentierter Netzwerker ist, entschied sich für die Leitung des angesehenen Kieler Instituts für Weltwirtschaft, dessen Berliner Präsenz er zügig ausbaute.

In Kiel fördert er unter anderem das Trendgebiet Geoökonomie, das geopolitische mit weltwirtschaftlichen Betrachtungen zusammenführt. Arbeiten wie „Who wins wars?“ oder „The price of war“ zeigen eine Ausrichtung auf wiederum aktuelle und politikrelevante Themen. Mit dem Erfolg kam auch Kritik: Manche Kollegen werfen Schu­larick eine zu große Nähe zur Politik vor, andere relativieren die Aussagekraft seiner finanzhistorischen Untersuchungen. Gerald Braunberger

Herta Müller: Die Freiheitsdenkerin

Gerade ist Herta Müller beim „Internationalen Literaturfestival Berlin“ vor tausend Zuschauern aufgetreten, las aus ihren Wort-Collagen und sagte: „Die große Angst der Diktatur vor der Sprache ist die vor ihrer Individualität.“ Müller hat einen sechsten Sinn für Diktatur und entmenschlichte Sprache. „Das meiste“, schrieb sie selbst, „was ich über Freiheit und Würde gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt.

Die Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller
Die Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Herta MüllerBearbeitung F.A.S. / Frank Röth

Diese Mechanismen zu beobachten, und was anderes bleibt einem ja in der Unterdrückung nicht übrig, ist, wie die Spiegelschrift der Freiheit zu entziffern.“ Seitdem entziffert sie. Im Mai 2025 etwa schrieb sie: Putin sei „ein sentimentaler Verbrecher, der durch Massenmord seine Jugendzeit zurückholen will“, dem Wort „Krieg“ „den Mund zuhält und die Augen“, „ein Hasardeur“, „die Mischung aus Kampfhund und Roboter“. Im Mai 2024, diskursintervenierend: Der 7. Oktober sei „ein totales Entgleisen aus der Zivilisation“ nach dem „Muster des Auslöschens durch Pogrome“ und „Differenzierung zwischen dem Eintreten für das Existenzrecht Israels und der gleichzeitigen Kritik an seiner Regierung“ notwendig. Herta Müller, seit Jahren auch eine scharfe Beobachterin von Demokratiefeinden in ganz Europa, ist und bleibt eine Denkerin der Freiheit in Sprache. Diba Shokri

Jan Philipp Reemtsma: Der Unbestechliche

Man könnte etwas staatstragend behaupten, er habe viel für die Soziologie und noch mehr für dieses Land getan, doch weder war das sein Ziel, noch wäre das der geeignete Maßstab für ein Wirken, das allein der Aufklärung und der Freiheit der Kritik verpflichtet ist. Dennoch ist wahr: Als Jan Philipp Reemtsma 1995 – mit seinem elf Jahre zuvor gegründeten Hamburger Institut für Sozialforschung – die Ausstellung über den Vernichtungskrieg und die Verbrechen der Wehrmacht präsentierte und damit den Mythos der „sauberen Wehrmacht“ erledigte, veränderte er dieses Land nachhaltiger, als es eine ritualisierte Gedenkkultur je vermochte – eine Gedenkkultur, die den Zivilisationsbruch zwar als geschehenen, aber nicht immer als begangenen erinnert.

Erschießungen, Massenmorde, Mithilfe bei der Durchführung der Schoa, Kooperation mit der SS und mit den Einsatztruppen et cetera – von alldem wollten Rechte wie auch die allermeisten Konservativen nichts wissen. Die Widerstände waren entsprechend groß. Ebenso die gesellschaftliche Debatte.

Jan Philipp Reemtsma
Jan Philipp Reemtsmadpa/Bearbeitung F.A.S.

Die Erforschung der Gewalt im 20. Jahrhundert war von Beginn an ein Schwerpunkt seines Hamburger Instituts, das ein zentraler Ort für die Praxis und Geschichte der Neuen Linken war. Als Reemtsma 2024 das Ende des Instituts verkündete, war der Aufschrei groß. Doch vielleicht ist das schlicht die logische Folge eines größeren Prozesses, und mit dem Verschwinden jener Linken endet auch ihr wohl bedeutendster institutioneller Ort.

Reemtsmas Vorschlag, Gewalt auch als selbst gewählte und attraktive Lebensform zu begreifen – als eine „Versuchung durch Grenzenlosigkeit“ –, erscheint auch im Hinblick auf die neuen autoritären Bewegungen und ihre „lustvolle Selbstbarbarisierung“ erkenntnisreich. Dass auch im Antisemitismus ein gemeinschaftsbildendes Angebot liegt, das zur kollektiven Psychose hin sich entgrenzt, hat er in seinen Essays über Antisemitismus analytisch scharf gestellt. Sie zeugen nicht zuletzt von Reemtsmas unbestechlichem Geist, der sich auch darin zeigte, dass er immer wieder dort ermöglichte, wo das Etablierte endete. Tania Martini

Dan Diner: Der Historiker

Der Krieg, hieß es bei Heraklit, sei der Vater aller Dinge. Die Philosophen waren seit jeher auf alle Dinge aus. Dem Historiker Dan Diner genügt es, von vielen Dingen zu sprechen, deren Vater (oder französisch: die Mutter) der Krieg ist. Die russische Revolution beispielsweise und insofern die Sowjetunion, das Auseinanderbrechen von Imperien, die Vielvölkerstaaten waren, das Ende des Kolonialismus, China, die Genozide an den Armeniern und den Juden, Israel. Diners universalhistorische Deutung „Das Jahrhundert verstehen“ (1999) lehrt, wie viele lokale Kriege im Zeitalter des Weltbürgerkriegs wie des Kalten Kriegs die Epoche bestimmten.

Der Historiker Dan Diner
Der Historiker Dan DinerOmer Messinger / Bearbeitung F.A.S.

Sie folgte der napoleonischen Blutspur und der Zeit des uns oft in seiner Bedeutung nicht bewussten amerikanischen Bürgerkriegs, mit dem die Weltkarriere des Maschinengewehrs einsetzte. Es gab Bürgerkriege, Kriege, die niemand wollte, Vernichtungskriege, Befreiungskriege, Präventivkriege und „falsche Kriege“, wie Diner die Konflikte um die Staatsgründung Israels nennt. „Der siebte Tag des so genannten Sechstagekriegs hat noch nicht geendet“, heißt es in seinem Buch „Zeitenschwelle“ (2010). Den Zweiten Weltkrieg hat er in „Ein anderer Krieg“ (2021) als einen beschrieben, der sich nicht nur von Deutschland aus nach Westen und Osten erstreckte, sondern auch in den Teil des Südens, den wir seltsamerweise den Nahen Osten oder Westasien nennen.

Dan Diner wurde im Völkerrecht mit einer Arbeit über den Kriegsbegriff und den des Waffenstillstands promoviert. Irgendwann verwandelte sich der Jurist in einen Historiker, der durch Nachdenken über Jüngstvergangenes, die sogenannte Zeitgeschichte also, Distanz zu den Erkenntnishindernissen der Zeitdia­gnostik gewinnt. In einem Band zu Klassikern der Zeithistorie hat er seinen Beitrag zu Hannah Arendts Buch über totale Herrschaft unter dem Titel „Kaleidoskopisches Denken“ veröffentlicht. Geschichte werde bei Arendt weniger erzählt als argumentiert, nicht in erster Linie akkurate Darstellung lokaler Kausalitäten sei angestrebt, sondern das Verstehen von Zusammenhängen. Man könnte es philosophische Forschung nennen. Bei Dan Diner tritt sie in aufschlussreicher Form hervor, weil er trotz der Bedrängnis durch die Katastrophen unserer Zeit, ja gerade um der Analyse dieser Bedrängnis willen, nie die universalhistorische Übersicht verliert. „Wenn Rom brennt“, hat man gesagt, „ist es unrecht, Geige zu spielen, aber Zeit für das Studium der Hydraulik.“ Diners Schriften gehören zu diesem Studium. Jürgen Kaube

Christina Morina: Die Aufbrecherin

Im Titel steckt schon alles: „Tausend Aufbrüche“ heißt das Buch, in dem Christina Morina die deutschen demokratischen Verhältnisse vor und nach dem Mauerfall analysierte – und mit dem es ihr gelang, die Debatte um Ost und West und den Stand der deutschen Einheit aufzubrechen, Unterschiede zu markieren, aber auch Unerwartetes zu zeigen, etwa den Grad der Politisierung der DDR-Gesellschaft lange vor dem Herbst 1989. Dazu hatte die Bielefelder Historikerin Bürgerbriefe, Protestschreiben ausgewertet, lauter kleine Aufbrüche. Aber sie zeigt auch, wie in den ostdeutschen Demos von 1989 etwas angelegt ist, was bei Pegida wieder auftauchte – der direkte Weg über die Straße, nicht durch die Mühlen repräsentativ ausgehandelter Entscheidungen. Das prägte auch ein Gefühl dafür, was politische Selbstwirksamkeit sein kann.

Christina Morina
Christina MorinaPicture Alliance/Bearbeitung F.A.S.

Überhaupt war das Jahr 2023, in dem Christina Morinas preisgekröntes Buch erschien, ein Jahr produktiver Unruhe für diese oft lähmende Debatte, ausgelöst von gleich mehreren Büchern jüngerer Autorinnen und Forscherinnen mit ganz unterschiedlichem ostdeutschen Hintergrund. Und diese produktive Unruhe ist wie der nächste Beweis für den Aufbruchscharakter demokratischer Verhältnisse, die Morina in ihrem Buchtitel beschwört: Verhältnisse, die eben immer wieder erobert, befragt und zugleich verteidigt werden müssen, auch gegen Sprachregelungen.

„Die Art, wie dieser Diskurs geführt wird, folgt seit Langem der gleichen Logik“, hatte Morina im „Tagesspiegel“ im Herbst 2023 erklärt. „Er fußt auf der Prämisse, dass alle Differenzen irgendwann verschwinden sollen und eine ‚innere Einheit‘ entsteht. Ich finde diese Prämisse fragwürdig, denn in einer liberalen Demokratie gehören unterschiedliche politische Haltungen und Mentalitäten dazu, man sollte anders über diese Verhältnisse sprechen und die Bürgerinnen und Bürger auch anders dazu befragen.“ Sie hat auch etwas gegen den hohen Ton der deutsch-deutschen Jahresinspektion zum 3. Oktober. Was für eine Erleichterung. Wenn die Dinge in demokratischen Gesellschaften in Bewegung sind, muss es auch das Denken darüber sein. Tobias Rüther

Joseph Vogl: Der Experte für Schwindel

Mit Überlegungen zum Begriff des Zauderns trat der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl 2006 seine Professur an der Berliner Humboldt-Universität an, mit solchen über das Schwebende verabschiedete er sich 2023, und was angesichts dieses Faibles für das Tastende und Flüchtige vielleicht der überraschendste Aspekt seines Denkens ist, ist die Tatsache, dass er in all der Zeit immer wieder bemerkenswert konkret geworden ist. Das ist kein Widerspruch – beziehungsweise höchstens dann, wenn man im Gegensatz zu ihm die Schwerkräfte nicht infrage stellt, die den Dingen ihren festen Ort in einer Hierarchie der Weltsortierung zuweisen, die das Allgemeine vom Ereignishaften trennen, die Empirie von der Fiktion, die Regel von der Ausnahme. Es ist Vogls Blick für die Inkohärenzen solcher diskursiver Bluffs, der ihm erlaubt, auch sehr manifeste Phänomene der Gegenwart enorm erhellend zu beschreiben, weil ja gerade diese sich oft genau dadurch auszeichnen, nur noch ungenügend in bewährten Kategorien erfasst werden zu können. Ein Blick, um es mit Robert Musil, Vogls ständigem Begleiter auf dem Weg durch eine flimmernde Welt, zu sagen, für „einander noch nicht nahe Gekommenes“.

Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Joseph Vogl
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Joseph VoglJulia Baier / Bearbeitung F.A.S.

In den vergangenen Jahren hat Vogl diesen Blick vor allem auf jene Bereiche angewandt, in denen gängige Problemanalysen das Bewusstsein für Zusammenhänge jenseits der aufwendig betriebenen Simplifikationen gern als unsachgemäß und abwegig originell diskreditieren; und dabei gezeigt, dass sich, was man vielleicht seine Poetologie nennen könnte, eben nicht im Ungefähren verliert. In „Das Gespenst des Kapitals“ zeigte er, dass die „scheinbar unerhörten Begebenheiten“, die sich damals beim Zusammenbruch des Finanzmarkts ereigneten, die Panik an den Börsen und die Undurchschaubarkeit der ökonomischen Dynamiken, keine Ausnahme darstellten, keinen Zusammenbruch eines konsistenten Systems, sondern Ausdruck einer Irrationalität sind, die immer untrennbarer Teil davon ist, Ausdruck der Blindheit einer Geisterlehre für die Unheimlichkeit der eigenen Prozesse. Schon damals war Vogls Perspektivverschiebung so effektiv, dass man sich fragte, warum der ganze Spuk der Rede von unabweisbaren Regeln und Realitäten so lange funktioniert hat, wo in ihr doch andauernd von Imaginationen die Rede ist, von Optionen, Spekulationen, Derivaten, futures. In „Der Souveränitätseffekt“ setzte Vogl diese Praxis fort und stellte diesmal den Instanzen politischer Macht, vor allem aber dem Finanzregime, das ihren Platz eingenommen hatte, ähnliche Fiktionsbescheinigungen aus. In „Kapital und Ressentiment“ schließlich untersuchte er, wie sich unter den Bedingungen der Plattformökonomie der Markt zu einem weiterentwickelt, auf dem diese Fiktionen selbst gehandelt werden.

Wenn aber die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Waren und Werten, zwischen Inhalten und Produkten nicht nur durchlässig geworden ist, sondern wenn diese Volatilität der entscheidende Motor ökonomischer und sozialer Ver- und Aushandlungen wird, kann man sie nur erklären, wenn man mehr als die Gegenstände selbst erkennen kann, mehr auch als ihre Substanz oder Form. Wenn man die „stabile und kontinuierliche Dingwelt des Soliden“, wie es in Vogls Essay „Meteor“ heißt, mit einem Sinn dafür wahrnimmt, „wo sich an der Grenze des Sichtbaren intensive Differenzen, d. h. Kräftegefälle, Spannungen, Turbulenzen, Rotationen, Schwingungen usw. in Extensionen, in erste Anzeichen und Merkmale von ausgedehnten Körpern, Farben, Sichtbarkeiten übersetzen“. Einen Sinn für den ganzen Schwindel.

„An diesem Orte war ich noch niemals; anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern“: Mit diesem Satz von Franz Kafka beendet Vogl seine Abschiedsvorlesung. In gewisser Weise ist das Denken von Joseph Vogl eine ganz eigene Art von Aufhebung: eine, die die Dinge aufsteigen lässt und in die Sonne hält, um sie besser sehen zu können. Oder, im besten Fall, ins Licht eines ganz anderen Sterns. Harald Staun

Jürgen Habermas: Der öffentliche Intellektuelle

Diskurstheoretiker Jürgen Habermas
Diskurstheoretiker Jürgen HabermasBearbeitung F.A.S. / Frank Röth

Jürgen Habermas ist der demokratische Geist des Nachkriegsdeutschlands und der alten Bundesrepublik par excellence. Als solcher wird er heute gerne des Unzeitgemäßen verdächtigt. Nicht nur weil die liberalen Demokratien längst in die Krise geraten sind, sondern auch weil ihre Form der Öffentlichkeit – und der Typus des öffentlichen Intellektuellen, den Habermas repräsentiert – seit der Pluralisierung von Teilhabe und der Digitalisierung von Öffentlichkeit einem grundlegenden Wandel unterworfen ist. Freilich hat der Theoretiker des Strukturwandels der Öffentlichkeit auch den neuerlichen im Blick. Jedoch erscheint angesichts neuer Diskursrealitäten der Glaube an einen rationalen Konsens und den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zunehmend anfechtbar.

Habermas’ Konzepten des Verfassungspatriotismus und der postnationalen Identität könnte im Kontext aktueller Herausforderungen demokratischer Ordnungen hingegen eine Renaissance bevorstehen. Habermas hat wesentlich beigetragen zur Wiederverankerung jüdischer Denker in diesem Land. Dass er die Aggression aus Russland zuletzt tendenziell unterschätzte, war verwunderlich. Er selbst verstand seine Wortmeldung indes womöglich als Ausdruck einer normativen Spannung. Tania Martini

Elfriede Jelinek: Die Rebellin am Abgrund

Elfriede Jelinek ist natürlich keine deutsche, aber eine deutschsprachige Denkerin – und als solche eine Instanz. Das kleine Österreich, das seinen Lagevorteil in Mitteleuropa oft mit einem Verdienst verwechselt, wäre ohne ihren beharrlichen Widerstand längst viel näher an Orbanistan. Ihre Eremitage am Rand von Wien ist keine innere Emigration, sie lebt aber vor, dass man Schutz suchen muss vor der Wildnis der Aufmerksamkeitsökonomie. Doch ihre – man möchte beinahe sagen: prophetische – Wirkung geht weit über diesen Lokalbezug hinaus. Sie ist die legitime Nachfolgerin von Karl Kraus, indem sie beharrlich die Sprache von der Lüge zu trennen versucht. Eine Zeitschrift wie „Die Fackel“ braucht sie dazu nicht.

Elfriede Jelinek
Elfriede JelinekFrank Röth/Bearbeitung F.A.S.

Sie selbst prägte den Begriff „Textflächen“, wenn es um ein Wort für ihre Methode geht. An diesen Flächen ist nichts flach, sie sind immer eine Gratwanderung in die Gefahr des Dummsprechens, und jedes Mal erreicht sie damit die Gipfel der Wahrheitsmöglichkeiten ihres Mediums. Eine literarische Intellektuelle ist sie damit schon lange, bevor sie einen ihrer vielen Meinungstexte geschrieben hat, die man auf ihrer Website gesammelt lesen kann – sie war übrigens schon online, als viele Menschen noch nicht wussten, was ein Modem ist. Sie nimmt es, donquijotesk-jelinesk, mit den Abgründen der Finanzbürokratie ebenso auf wie mit dem proteischen Antisemitismus, den sie auch dadurch bekämpft, dass sie den überschießenden Krieg Israels in Gaza nicht schönredet. In diesen Tagen, in denen in Wien im Burgtheater ihr moderner Klassiker „Burgtheater“ neue Triumphe feiert, steht sie mehr denn je für eine moralische Verantwortung, die aus dem Akt des Schreibens selbst kommt. Elfriede Jelinek zeigt uns, was es heißen kann, in der Sprache zu leben, und in ihr nicht umzukommen. Bert Rebhandl

Herfried Münkler: Der Ordner

Als er neulich das Völkerrecht ins Feuilleton verschob, weil es momentan „in der realen Politik praktisch keine Rolle“ spiele, zeigte sich kurz etwas, für das Herfried Münkler im Laufe seiner langen Karriere kritisiert wurde: ein realpolitischer Stil, der realen Politikern gefällt, weil er wie eine Akademisierung ihrer Machtentscheidungen verstanden werden könnte. Dass das Feuilleton aber ein Ort sein könnte, an dem sich Münkler nicht wohlfühlte, ist unwahrscheinlich – kaum ein Monat ohne große Beiträge in deutschsprachigen Medien.

Herfried Münkler
Herfried MünklerAndreas Pein/Bearbeitung F.A.S.

Die Produktivität des emeritierten Politikwissenschaftlers, der mit seiner Studie zu den asymmetrischen Kriegen ungleicher Konfliktparteien der Gegenwart passend zur Jahrtausendwende sein Standardwerk lieferte, ist enorm. Kaum ein Jahr auch ohne neues Buch, manchmal mit seiner Frau, der Frühneuzeitlerin Marina Münkler, in dem er versucht, Ordnung in Asymmetrien zu bringen. Wenn er dabei die Player von heute in typisch ruhigem Duktus „Washington“, „Moskau“ oder „China“ nennt, klingt das noch nach Kartentisch, die Sorge um die Macht namens Europa aber, die ihn umtreibt, ist frei von Pose. Tobias Rüther

Aladin El-Mafaalani: Der Zukunftsorientierte

Dass sich in Deutschland das Nachdenken über gute, zukunftsfähige Schulen im Nachdenken über das Einführen von iPads erschöpft, ist deprimierend. Und zeigt, wie klein und gestrig noch immer gedacht wird, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Einer, der größer denkt, ist der Migrations- und Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani, der viel dafür tut, damit verstanden wird, dass unsere Bildungsinstitutionen noch immer in alten Normalitätsannahmen stecken, während für Kinder und Jugendliche der Krisenzustand längst Normalzustand geworden ist.

Der Migrations- und Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani
Der Migrations- und Bildungssoziologe Aladin El-MafaalaniBearbeitung F.A.S. / Picture Alliance

El-Mafaalani weist in seiner Arbeit seit Jahren darauf hin, dass die Jüngsten und Jüngeren vergessen werden, obwohl Kompetenzen und Wohlbefinden sich negativ entwickeln. Während andere noch über die Migrationsgesellschaft philosophieren, klopft er deren längst gelebte Realität auf die demokratischen Versprechen hin ab und zerrt unermüdlich diejenigen ans Licht, auf die es nun mal ankommen wird. Dabei verweist El-Mafaalani gerne auf zwei enorm wichtige Fragen der UWE-Studie: Kann das Kind irgendeinen Erwachsenen an seiner Schule nennen, dem es wichtig ist? Und: Gibt es an der Schule einen Erwachsenen, der glaubt, dass es erfolgreich sein wird? Die meisten Kinder können keinen nennen. Tania Martini

Isabella M. Weber: Die Entschiedene

Isabella M. Weber, die an der University of Massachusetts Amherst Volkswirtschaftslehre lehrt, gehört zu jenen Ökonominnen, die eine grundsätzlich angenommene Opposition von Staat und Markt ablehnen. In der Formel von der „antifaschistischen Wirtschaftspolitik“, die Weber international bekannt machte, wird ihr Verständnis eines ständigen Ineinanderwirkens von Markt und Staat greifbar. Dass es sich bei Webers Wendung von der antifaschistischen Wirtschaftspolitik nicht um ein zur Phrase verkommenes Schlagwort handelt, lässt sich an ihren Textbeiträgen zu dem von ihr mitherausgegebenen Wirtschaftsmagazin „Surplus“ im Netz leicht zugänglich überprüfen.

In einem Text wie „Mietenstopp gegen rechts“, den Weber mit Maxine Fowé verfasste, verweisen die Autorinnen unter anderem auf eine Studie, die bei einer Erhöhung der Miete um einen Euro pro Quadratmeter gleichzeitig einen Anstieg des Stimmenanteils der AfD bei Geringverdienern um vier Prozentpunkte nahelegt. Dabei gehe es nicht unbedingt um die Höhe der tatsächlichen Miete, sondern vor allem um das existenzielle Gefühl, durch immer stärker steigende Wohnkosten bedroht zu werden. Eine antifaschistische Wirtschaftspolitik wäre in diesem Zusammenhang also eine Politik, die sich aktiv um bezahlbaren Wohnraum kümmern würde.

Die Ökonomin Isabella M. Weber
Die Ökonomin Isabella M. WeberBearbeitung F.A.S. / Marzena Skubatz / Laif

Wobei Isabella Weber nie einen Hehl daraus macht, dass sie eine Politik der Parteien der Mitte, die die Themen der AfD und anderer sogenannter rechtspopulistischer Parteien übernimmt, für gescheitert hält. In letzter Konsequenz machten solche inhaltlichen Anleihen bei rechten Themen nur die Urheber stärker und nicht die Mitte. Dass Isabella Weber so entschieden klar und ohne Relativierungen formuliert, blieb nie ohne auch heftigsten Widerspruch. So beschimpfte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der bestimmt kein neoliberaler Anbeter der Selbstheilungskräfte des Marktes ist, Argumentationen Webers als wirklich dumm („truly stupid“). Weber hatte in der ersten Phase der aktuellen Inflationsanstiege darauf hingewiesen, dass bestimmte Preiskontrollen, zum Beispiel bei Lebensmitteln, der Inflation entgegenwirken könnten, was Krugman übereifrig bestritt.

Und auch wenn Krugman sich später, nachdem neuere Forschungen Webers Annahme bestätigt hatten, öffentlich entschuldigte, blieb doch eher seine anfängliche Polemik im öffentlichen Raum hängen. Weber half dabei nur bedingt, dass die Heftigkeit der Angriffe auf ihre Thesen auch damit zu tun hatte, dass sie eine der wenigen öffentlich wirkenden Frauen in der Welt der Ökonomie ist.
Dabei kann sich Isabella Weber in ihren Studien zum Zusammenwirken von Staat und Markt auf eine im wahrsten Sinne globalisierte Forschungsbiographie stützen. Sie begann ihre wissenschaftliche Karriere mit Studien zur Entwicklung der chinesischen Wirtschaft in der Zeit nach Mao Tse-tung. Weber konnte in ihren Arbeiten , die sie zu einer der Spezialistinnen der politischen Ökonomie Chinas machten, zeigen, dass die staatlich kontrollierte und regulierte Öffnung der Märkte Chinas zu wesentlich weniger sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen führte, als es die neoliberale Schocktherapie in der untergehenden Sowjetunion zur Folge hatte. Cord Riechelmann

Klaus Theweleit: Der Gewaltforscher

Klaus Theweleit war Mitte dreißig, als 1977 sein spektakuläres Buch „Männerphantasien“ erschien. Heute ist er 83 Jahre alt, und es ist noch immer aktuell: „Männerphantasien“ stellte dar, wie die Vorbereiter des Faschismus eine Realität herstellten, an der die Weimarer Republik zugrunde ging. Wobei Theweleit faschistische Gewalt nicht durch eine Ideologie oder Religion motiviert sieht, nicht als Reaktion auf ökonomische Verhältnisse, sondern als Resultat von zugerichteten Körpern, die durch Drill, emotionale Kälte, Gewalterfahrung angstbesetzt sind. Und aus Angst zur Gewalt greifen. Der Faschist sehnt sich danach, andere zu töten, weil er unfähig zu Nachgiebigkeit ist, zu Hingabe und Balance an seinen Körpergrenzen.
Beim Sammeln seiner Quellen stieß Theweleit auch auf das Lachen der Täter, wenn Morde wie die an Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht als „Lustmorde“ begangen und gefeiert wurden.

Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit
Der Kulturwissenschaftler Klaus TheweleitBearbeitung F.A.S. / Jens Gyarmaty

In seinem Buch „Das Lachen der Täter“, das sich 2015 wie eine Fortsetzung der „Männerphantasien“ las, setzte er die verschiedensten Fälle miteinander in Beziehung: Anders Breivik, der selbst ernannte Tempelritter, der 67 Jugendliche auf der norwegischen Insel Utøya erschießt; die Killer des „Islamischen Staats“, die grausame Köpfungen im Internet ausstellen; fanatisierte Attentäter, die die Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ hinrichten. Es ist die immer gleiche Abfolge: der Gewaltakt, bei dem die Täter glauben, im Namen eines „höheren Rechts“ zu handeln; seine Ausstellung; seine mit Lachen begangene Feier und der bejubelte Zusammenschluss der übergeordneten Organisation. Dass mit „Allahu Akbar“ auf den Lippen getötet werde, heiße dabei nicht, dass das Morden etwas mit der Religiosität zu tun habe. Die Killer des „IS“ haben ihre Religion, sie spielt auch eine Rolle. Aber sie spiele keine Rolle fürs Töten. Theweleit sieht keinen Unterschied zwischen der Struktur eines Mörders wie Breivik oder eines „IS“-Killers – beider Tötungslust sei die gleiche. So kappt er die oft als genuin angesehene Verbindung von Gewalt und Islam. Und verweist auf eine Struktur der Gewalt, die in jeder Gesellschaft möglich ist, wenn Formen des Zusammenlebens sie nicht verhindern. Julia Encke

Philipp Hübl: Der Kritiker des Statusspiels

Nicht wenige Intellektuelle führen ein Doppelleben. Bei Philipp Hübl könnte man sogar von einem Triple-Leben sprechen, ersichtlich aus seinem Wikipedia-Eintrag, in dem zu seinen Arbeiten als theoretischer Philosoph und seinen publikumswirksamen Büchern noch eine Liste mit Videos kommt. Hübl ist telegen, ohne dabei einen schlechten Dandy zu markieren, wie es ja auch immer wieder vorkommt. Ein Fernsehgespräch aus dem Jahr 2015 mit dem Berliner Kollegen Holm Tetens über denkbare Formen eines Glaubens an Gott ist leicht zu finden und sehr zu empfehlen.

Philipp Hübl
Philipp HüblDaniel Hofer/Bearbeitung F.A.S.

Zurzeit ist Hübl aber mit einem Buch im Gespräch, das er für das allgemeine Publikum geschrieben hat: In „Moralspektakel“ geht es um die Form zeitgenössischer Debatten, die bestimmt ist von den Logiken der digitalen Plattformen. Aus dem einstigen Urteilen, wie es sich die Aufklärung von vernünftigen Subjekten erhofft hatte, habe diese ein „Statusspiel“ gemacht – mit merkwürdigen Phänomenen wie „Kontaktmagie“ (wenn Themen an Personen kleben wie ein Stigma) und neuen, strengen Reinheitsgeboten. Redliches Denken heißt in diesem Fall, sich von dem Begriff „Moralspektakel“ nicht einfach zu einer Polemik gegen Identitätspolitik und politische Korrektheit hinreißen zu lassen. In guter Tradition führt der Durchgang durch eine zu hemmungslosen Äußerungsakten entfesselte Gesellschaft zu einer „Einladung zu radikaler Selbstkritik“. Gegen das Privileg, als weißer, männlicher Akademiker und Bestsellerautor alle publizistischen Türen offen zu haben, muss Hübl schließlich vor allem den Philosophen in sich selbst verteidigen. Gibt es doch genügend Beispiele von gedanklicher Verflachung, sobald die Auflagen (und die Klicks) steigen. Bert Rebhandl

Eva Horn: Die Interdisziplinäre

In der Einleitung zu ihrem Buch „Klima“ beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn ein Kunstwerk des amerikanischen Lichtkünstlers James Turrell, das ihre eigene intellektuelle Praxis perfekt illustriert. Für seine Installation „Meeting“ für das New Yorker MoMA PS1 hatte Turrell einen Raum mit einer Öffnung nach oben so gestaltet, dass der Himmel darüber, die Luft, das Draußen, wie ein Kunstwerk gerahmt wird. Für Horn ist „Meeting“ ein Modell für das, worum es ihrem Buch geht: die „Wahrnehmungen, Vorstellungen, Darstellungen, Erzählungen und Beobachtungen“ des Klimas sichtbar zu machen, indem man sie neu in den Blick nimmt – den Hintergrund in den Vordergrund zu rücken, vermeintliche Nebensachen zu Hauptsachen zu machen und sie herauszuholen „aus der Kakophonie von Diskursen, die immer schon zu wissen glauben, womit sie es zu tun haben“.

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn
Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva HornBearbeitung F.A.S. / Ullstein

Man könnte diesen Ansatz einfach Interdisziplinarität nennen, aber damit wäre er nur sehr unzureichend beschrieben. Bei Horn bedeutet Interdisziplinarität schon auch: Es geht immer um alles. Ob sie, wie in „Zukunft als Katastrophe“, die Konjunktur der kollektiven Imagination einer apokalyptischen Zukunft eben nicht nur als kulturelles Motiv untersucht, sondern danach fragt, wie solche Visionen in die Wirklichkeit eingreifen und sie strukturieren, oder in „Klima“ nachzeichnet, wie sich unsere Wahrnehmung der Umwelt mindestens so drastisch geändert hat, wie es Temperaturen oder Wetter taten, immer führt sie die Dinge so zusammen, dass man sie danach in einem anderen Kontext sieht.

Mit dem Klima hat sie dabei zuletzt einen Begriff gefunden, der im Nebel der Debatten immer unklarer zu erkennen ist; der einerseits auf einen politischen Kampfbegriff reduziert und mit dem Arsenal hoch spezialisierter Wissenschaften ideologisch aufgerüstet wird. Und der andererseits eben doch immer noch als Chiffre für etwas steht, das man hinnehmen muss, für ein unverhandelbares und irreversibles Wirken der Natur. Eva Horn zeigt, dass nicht nur die ökologische Krise menschengemacht ist, sondern auch deren sinnliche Erfahrung. Und führt damit dem Nachdenken über das Klima jene Luft zu, die es braucht, um nicht zu ersticken. Harald Staun

Guido Steinberg: Der Vernünftige

Beim Thema Naher Osten gibt es viel Redebedarf und extreme Positionen. Was es weniger gibt, sind Experten wie Guido Steinberg, der an der Stiftung Wissenschaft und Politik forscht und auch in den Medien ausgewogene Einschätzungen anbietet. Ganz gleich, ob es um Syriens neue Machthaber geht, die Steinberg als „sunnitische islamistische Terrorgruppe“ bezeichnet, oder um die Frage, ob die Region tatsächlich eine Neuordnung erlebt und was das mit den Interessen der Großmächte zu tun hat – Steinberg findet fundierte Antworten, in denen er die Ereignisse in historische und politische Zusammenhänge einbettet.

Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg
Der Islamwissenschaftler Guido SteinbergBearbeitung F.A.S. / Picture Alliance

Er gibt Einschätzungen, die auch mal gegen den Strich gehen, aber Rechthaberei ist nicht seine Sache, deshalb sagt er zuweilen: „Aber ich lasse mich da gern überraschen.“ Oft stellt er eine Verbindung zu Deutschland her oder appelliert zwischen den Zeilen an die Regierung. So erinnerte er in den Tagesthemen an die dreißig Deutschen, die für den „IS“ kämpften und noch mit etwa 9000 weiteren ehemaligen Kämpfern in syrisch-kurdischer Haft säßen. Es sei der größte Rekrutierungspool für Islamisten weltweit – sollten die Männer freikommen, wäre das eine Katastrophe, also müsse man sich mit ihrem Verbleib auseinandersetzen.

Damit war er bei dem Thema, mit dem er sich wissenschaftlich profilierte, bevor er mit einer Studie über den Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran zum gefragten Fachmann über Dynamiken in der Region wurde. Er studierte in Köln und Damaskus, lernte dort Arabisch, und war nach der Promotion Terrorismus-Referent im Bundeskanzleramt. Seit 2006 tritt er als Sachverständiger in fast allen Verfahren gegen islamistische Terroristen auf und begutachtet zudem in Österreich, Kanada, den USA. Mit seinem Buch „Der nahe und der ferne Feind – die Netzwerke des islamistischen Terrorismus“ legte er 2005 eine detaillierte Studie mit Analysen von Al-Qaida-Dokumenten vor. Sie gilt ebenso als Standardwerk wie sein Buch „Al-Qaidas deutsche Kämpfer: Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus“ (2014). Darin übt er sachliche Kritik an Deutschlands Behörden und Politik. Sein Stil ist: präzise und unprätentiös. Karen Krüger

Marina Weisband: Die Wachsame

Marina Weisband, die 1987 in Kiew geboren wurde, 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt, wo es ein Jahr zuvor in Block 4 des dortigen Kernkraftwerks zum GAU gekommen war, wuchs als „Tschernobyl-Kind“, wie die Ärzte das nannten, in Wuppertal auf, weil es dort die bessere medizinische Versorgung gab. Sie war dreizehn, als sie ihren ersten Zugang zum Internet bekam. Und entdeckte im Internet auch die Politik: Als sie 2009 mit Freunden Wahlwerbespots der Parteien zur Europawahl anguckte, sah sie den der Piraten, die sich als Organisation präsentierten, die alternative Demokratieformen ausprobieren und weiterentwickeln wollte: Weisband schloss sich ihnen an, wurde zur politischen Geschäftsführerin, zog sich nach drei Jahren aus gesundheitlichen Gründen zurück. Seither ist die Psychologin und Publizistin eine wichtige Stimme in der Debatte um den Antisemitismus in Deutschland. Und warnt vor den Folgen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine: Russland sehe sich seit 2014 in einem Krieg gegen den Westen, der Westen habe das damals aber nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Dass der Überfall auf Moldawien und auf das Baltikum schon propagandistisch vorbereitet würde, steht für sie außer Frage.

Die Psychologin und Publizistin Marina Weisband
Die Psychologin und Publizistin Marina WeisbandPicture Alliance/Bearbeitung F.A.S.

Seit 2014 leitet Weisband das Schülerbeteiligungsprojekt „aula“ – „ausdiskutieren und live abstimmen“ –, für das sie eine Software mitentwickelt und einen Leitfaden geschrieben hat: „Die neue Schule der Demokratie“. Darin bescheinigt sie dem System Schule ein Demokratieproblem. Je weniger die Schüler mitbestimmen dürften, desto weniger entwickelten sie die Fähigkeit, etwas zu verändern. Und seien anfälliger für Extremismus und Populismus. Ein Beleg dafür ist Weisband zufolge etwa die Anarchie auf Schultoiletten. Diese seien oft der einzige Ort, an dem Schülerinnen und Schüler sich unbeobachtet fühlten. Weil sie zwar den Wunsch haben, etwas zu verändern, aber keine kons­truktiven Mittel an die Hand bekämen, bleibe ihnen nichts anderes übrig, als sich auf ihre Art zu äußern: durch Randale und Zerstörung. Kern von „aula“ ist eine App, mit der eine schulische Versammlungshalle virtuell nachempfunden wird und Schüler über ihre Anliegen abstimmen können. Julia Encke

Götz Aly: Der Aktualisierer

Der Berliner Historiker Götz Aly ist ein Meister der Vergegenwärtigung. Sein größtes Thema, die Herrschaft des Nationalsozialismus, die manch einer so fern von sich sieht, als sei sie ein Werk von Aliens gewesen, verfremdet er gerade dadurch, dass er die unheimliche Vertrautheit ihrer Lebenswelt nahebringt. Wem aufgeht, wie modern die sozialpolitischen Debatten und Medienkampagnen waren, vor deren Hintergrund das mörderische Treiben sich vollzog, wird für die Gegenwart klüger.

Der Historiker und  Autor Götz Aly
Der Historiker und Autor Götz Alydpa/Bearbeitung F.A.S.

Das gilt auch für Alys Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus. Als 2021 das Humboldt Forum in der Berliner Schloss-Rekonstruktion eröffnet wurde, erschien sein Buch „Das Prachtboot“, das die Provenienz eines der prominentesten Ausstellungsstücke detailliert untersuchte und zu einem für die Kuratoren desaströsen Ergebnis kam: Der angebliche „Kauf“ oder „Erwerb“ des hochseetauglichen Südseeboots von der Insel Luf stellte sich als Ergebnis einer „Strafexpedition“ heraus, bei der 41 Hütten und acht Boote verbrannt sowie zahlreiche der unbewaffneten Einwohner verfolgt und erschossen wurden. Im Zentrum steht die Handelsfirma Hernsheim & Co., die das Boot dem Museum für Völkerkunde in Berlin verkaufte. Dessen Direktor Adolf Bastian bedankte sich in einem amtlichen Bericht für „geneigte Berücksichtigung wissenschaftlicher Interessen bei der Expedition“.

Das war der eigentliche Fluchtpunkt von Alys nüchterner Polemik: die Komplizenschaft der Ethnologie mit der kolonialistischen Barbarei. Und die hochzivilisierte aalglatte Sprache, mit der das Unrecht hinter Formeln der Hochachtung gegenüber der exotischen Kultur zum Verschwinden gebracht wird. Im neuen Vorwort zitiert Aly einen Brief, in dem Hernsheim 1902 den Direktor des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums fragt, ob er Interesse an einem „Prunk-Canoe aus den Hermit-Inseln“ habe, „einzig in seiner Art und Zeuge einer vollkommen verschwundenen Kunstfertigkeit der im Aussterben begriffenen Insulaner“. Im selben Atemzug gibt Aly die das Boot betreffenden höflichen Ausflüchte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wieder, und wieder ist einem die Vergangenheit näher gerückt, als einem lieb sein kann. Mark Siemons

Juliane Rebentisch: Die Kritikerin

Der schöne Gedanke, dass ein Zeitgenosse, wie jeder gute Genosse oder jede gute Genossin, der eigenen Zeit helfen sollte, wenn es schwierig wird, ist Juliane Rebentisch nicht fremd. Zum Beispiel wenn die eigene Zeit als „unproduktiv, als in klebriger Immanenz befangen, als indifferent und bedeutungslos wahrgenommen wird“ (Rebentisch), ist es an der Zeit, ihr auf die Beine zu helfen. Um aber die Zeit überhaupt erst lesbar zu machen, muss man in die chronologische Zeit Diskontinuitäten und Zäsuren einfügen, die diese Zeit schon immer als gespaltene Zeit erscheinen lassen.
Juliane Rebentisch, die an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Philosophie lehrt, hat diesen notwendigen Spaltungsprozess in der Chronologie der Zeit exem­plarisch in ihrer Auseinandersetzung mit Hannah Arendt durchquert.

Die Philosophin Juliane Rebentisch
Die Philosophin Juliane Rebentischprivat / Bearbeitung F.A.S.

Mit Hannah Arendt gegen Hannah Arendt hätte man über ihr Buch „Der Streit um Pluralität“ auch schreiben können, ohne ihm wehzutun. Die kettenrauchende Aktivistin des Lebens, „Vita activa“ heißt eines der Hauptwerke Arendts, und Totalitarismustheoretikerin hat in und außerhalb ihres Werkes genug Anstößigkeiten hinterlassen, um sie an mehreren Prangern gleichzeitig ausstellen zu können. Da sind ihre rassistischen Anmerkungen gegen amerikanische schwarze Menschen in politischen Kämpfen ebenso wie ihr frivoles Zitieren von Carl Schmitt, dem Kronjuristen der Nazis, in ihrem Totalitarismusbuch. Natürlich hatte Arendt als Professorin in New York unter lauter Männern auch zwangsläufig autoritäre Züge im Umgang entwickelt. Die Kunst Rebentischs besteht darin, all diese Merkwürdigkeiten nicht als zeitspezifisch abzutun, sondern akribisch und seriös als Bestandteil der Philosophie Arendts herauszuarbeiten und ihre eigene Ratlosigkeit gegenüber den Gründen dieser Entgleisungen nicht zu verbergen. Verdammen mag sie Arendt nicht, weil ihre Philosophie gleichzeitig ein hochpolitisches Konzept der Pluralität hervorbringt, das der empirischen Ungleichheit der Menschen, denn sonst wären sie ja keine Individuen, Rechnung trägt, ohne es in Widerspruch zum Axiom und Gedanken der Gleichheit geraten zu lassen. Cord Riechelmann

Sebastian Huhnholz: Der Fiskus-Fachmann

​Sebastian Huhnholz hat einen Mangel zu beklagen: In Deutschland gibt es keine „demokratische Theorie des Fiskus“. Schon das Wort ist kaum mehr in Gebrauch, gelegentlich purzelt es noch in einen Text, wenn jemand sich vom Computer ein Synonym für das Finanzamt sagen lässt. Der Fiskus ist aber sehr viel mehr, als die individuelle Steuererklärung erahnen lässt.

Der Politikwissenschaftler Sebastian Huhnholz
Der Politikwissenschaftler Sebastian HuhnholzTobias Robischon//Bearbeitung F.A.S.

Als im November 2023 der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Zurückweisung eines Nachtragshaushalts die Ampelkoalition zum Sturz freigab (ungefähr auf dem Niveau dieser parteipolitischen Engführung wurde der Vorgang tatsächlich oft diskutiert), schrieb der Politikwissenschaftler Huhnholz im „Merkur“ einen Text, in dem er das argumentativ beinahe Unmögliche versuchte: Karlsruhe nicht einfach so zu bekräftigen, dass das von konventioneller Austeritätsbegeisterung nicht mehr zu unterscheiden gewesen wäre, sondern die Regierung zu einer Ordnung zu rufen, zu der diese sich angesichts der zahlreichen Krisen strukturell nicht in der Lage sehen wollte. Karlsruhe war allerdings so weit gegangen, zu monieren, dass selbst Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe in ordentliche Haushalte (und in deren „Periodizität“, also in Jahreskalkulationen) gehören, und nicht permanent aus Sondertöpfen auf Probleme gewummst werden kann.

Das ging Huhnholz zu weit, ohne dass er deswegen „chaotische Selbstermächtigungschancen“ der Exekutive befürworten würde – die gehen nämlich tendenziell zulasten der Demokratie. Auf dem Verfassungsblog, wo Huhnholz seit einiger Zeit die „monetäre Souveränität“ der Bundesrepublik zum Thema macht, hat der Politikwissenschaftler eine weitere Bühne gefunden, beim Hamburger Institut für Sozialforschung ist er assoziiert. Nun muss nur noch das Parlament genau zuhören, damit sich der Fiskus dem Volk nicht völlig entfremdet. Bert Rebhandl

Kai Vogelsang: Der China Denker

Dass China eines der großen Themen unserer Zeit ist, dass seine Bedeutung auch für die eigene Weltgegend immer noch zunehmen wird, ist eine seit vielen Jahren ständig wiederholte Standardüberzeugung. Doch die Informiertheit und Schärfe der öffentlichen Reflexion des Landes steht zu dieser Einsicht bei uns nicht recht in einem Verhältnis. Der blinde Fleck vieler Ad-hoc-Einschätzungen ist, dass sie das Koordinatensystem aus historisch hergeleiteten Begriffen und Vorstellungsmustern nicht berücksichtigen zu müssen meinen, in dem sich Chinas Zukunftspläne bewegen. Deshalb kommt dem Hamburger Sinologen Kai Vogelsang eine so herausragende Bedeutung zu. Seine „Geschichte Chinas“, die nun schon ihre achte Auflage erreicht hat, demonstriert auf atemraubend souveräne Weise, wie eng die Wechselwirkungen zwischen kulturellen Formen und Politik im Lauf der Jahrtausende waren und bis heute sind.

Der Hamburger Sinologe Kai Vogelsang
Der Hamburger Sinologe Kai VogelsangBearbeitung F.A.S. / privat

Das betrifft schon die Frage, ab wann man überhaupt von „China“ sprechen kann und was genau man damit meint. Seitdem sich China Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Konzept der Nation zu eigen machte, ist von „fünftausend Jahren chinesische Nation“ die Rede; Xi Jinping spricht heute von fünftausend Jahren chinesischer Zivilisation, in deren bruchloser Kontinuität er seine Herrschaft sieht. Vogelsang zeigt, wie diese ahistorische Perspektive dem Versuch zu verdanken ist, eine in Wirklichkeit höchst unbeständige und heterogene Vergangenheit zu ordnen. Daraus destilliert er das Leitmotiv seines großen Buchs, in dem sich Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte durchdringen: „Auf jede Steigerung sozialer Optionen reagierte die chinesische Gesellschaft mit neuen Ordnungsmustern, um diese Komplexität zu bewältigen.“

So kann man bei Vogelsang lernen, die Selbstbeschreibungen Chinas als eine die Politik und das Geschichtsverständnis zugleich ordnende wie beeinflussende Wirklichkeit ernst zu nehmen, ohne ihnen auf den Leim zu gehen. In seinem Buch „China und Japan“ erweiterte er 2020 diesen Ansatz, indem er zeigte, dass auch Begriffe, wie sie die beiden Länder in wechselnden Konstellationen voneinander übernahmen, die eigene Identität erschaffen können. Mark Siemons

Source: faz.net