„Vom Bärenkult zum Stalinkult“: Eine Reise zu uns selbst

Als das deutsche Feuilleton vor zwei Monaten respektvoll den 80. Geburtstag des literarischen Reporters und Erzählers Hans Christoph Buch ankündigte, war von dessen unbändiger Reiselust und Produktivität die Rede. Dass diese Produktivität (gut 20 Einzelveröffentlichungen) inzwischen nicht mehr sonderlich beachtet wird und Artikel über seine Neupublikationen fast wie Nachrufe wirken, ist eher ein Symptom der Zeit als ein Indikator für mangelnde Qualität.

Es hat vielleicht auch mit Buchs bevorzugtem literarischen Genre zu tun, der Reportage und der Reiseliteratur, die im Zeitalter des realen und virtuellen Do-it-Yourself-Tourismus an Relevanz eingebüßt haben. Und eben mit dem politischen Engagement, das Hans Christoph Buch als undogmatischer Linker nie verheimlichte, das heute entweder verbraucht oder thematischer Zusätze bedürftig erscheint. Der hochgewachsene Mann aus Wetzlar, der schon vor Hans-Werner Richter und der Gruppe 47 las, bevor er mit seinen ebenso sensiblen wie desillusionierenden Berichten über karibische und afrikanische Failed-States zum V.S. Naipaul der deutschen Literatur wurde, hat seinen Platz in der Literaturgeschichte. Aber hat er ihn auch in der Gegenwartsliteratur?

Eine Reise, die jeder einmal unternehmen muss

Die im vorliegenden Band zusammengeführten Texte bilden eine Reise ab, die jeder, der in die Ferne aufbricht, irgendwann einmal unternehmen muss: die zu sich selbst. Es sind erzählerische Essays, in denen der Autor manchmal explizit hervortritt, manchmal seine Stimme den Protagonisten leiht. In ihnen begegnen Sprachforscher und Entdeckungsreisende, die wie David Emanuel Daniel im 19. Jahrhundert die großen Epen in der mündlichen Rede der Indigenen finden und somit das Kindheitsalter der Menschheit, den „Ursprung der Poesie“ zu erreichen glauben. Oder die wie die Anthropologin und Künstlerin Emilie Demant Anfang des 20. Jahrhunderts einen einzelgängerischen Mann an Europas Nordspitze dazu bringt, das damals hochberühmte Leben eines Lappen zu verfassen.

Es fällt schwer, in ihnen nicht Grundformen des Forschungsreisenden durchbuchstabiert zu sehen, der Hans Christoph Buch selbst gewesen ist. Einfühlsam hebt er hervor, wie wissenschaftliche Passionen und Lebensform einander durchdringen, wie die eine die andere interpretiert. Es scheint dann, als ob ein Leben, das nicht der leidenschaftlichen Erforschung von etwas anderem gewidmet ist, sich selbst nicht ernst nehme.

Oder vor sich davonläuft. In einem biografischen Essay im Band bearbeitet Buch eines seiner Lebensthemen: Ideologie als Panzer und Versteck. Anhand der Geschichte eines der Pioniere der Finnougristik, des Juden, kommunistischen Spions und Beinahe-Opfers der stalinistischen Säuberungen Wolfgang Steinitz, erzählt er von der teilweise lebensbedrohlichen Nähe von Wissenschaft und Politik. Das ist stets spannend zu lesen, kaum ein Wort zu viel, und es ist auch nicht frei von Magie: In Steinitz‘ Arbeiten setzt sich ein Mann wieder zusammen, der sich und anderen abhanden kam, der in seinen Forschungen zu den Jägern des Nordens, zu ihren sprachlichen Tabus während der Bärenjagd etwa, Motive seiner jüdischen Familiengeschichte, seiner Flucht und seines Verrats gespiegelt fand. Über die Brüchigkeit dieses Spiegels, über die Brüchigkeit auch des Blicks, der in ihm ein Ganzes rekonstruiert sehen will, macht sich der Autor wenig Illusionen. Erzählerische Genauigkeit aber erhascht immerhin einen Schimmer des Wahren.

Anna Seghers, André Breton und Claude Lévi-Strauss auf dem Frachter „Capitaine Paul Lemerle“

An Umfang und Quellenarbeit sticht schließlich Buchs Variation auf das Floß der Medusa aus dem Band heraus. Das berühmte Bild zeigt die Überlebenden eines Schiffsunglücks, die sich gegenseitig töten und verspeisen. Als Allegorie gelesen besagt es, dass historische Katastrophen oftmals das Schlechteste im Menschen befreien. Buch erzählt von der Reise des zum Passagierschiff umgebauten Frachters „Capitaine Paul Lemerle“, der am 24. März 1941 von Marseille aus nach Martinique in See sticht. An Bord hat er Künstler und Intellektuelle, die zwar ihre erbitterte Gegnerschaft zum Faschismus gemeinsam haben, aber ansonsten denkbar schlecht miteinander auskommen. Sie werden von einer Bombe knapp verfehlt, geraten angesichts von Delfinen, die sie für U-Boote halten, in Panik, und verbringen schließlich viele gemeinsame Monate im Internierungslager.

Ein karibischer Diktator, der Stalin und Hitler gleichzeitig als antikoloniale Heilige verehrt, erlaubt ihnen freien Aufenthalt. Der surrealistische Übervater Breton versumpft im lokalen Voodoo-Kult, der Ethnologe Claude Lévi-Strauss lädt seine Bewacher zum Trinken ein und Anna Seghers schreibt ihren Roman zu Ende, der ihrer Familie für die Kriegsjahre das Überleben in Mexiko sichert. Alles, was sie auf dieser Reise erlebt, wird ihr im Nachhinein hoffnungsvoller erscheinen als die preußisch-sozialistische Farce namens DDR. Trotzdem pflegt sie die Lehre von der alleinseligmachenden Kommunistischen Partei, vielleicht auch, weil der Streit darum das Lebenselixier war in einer Zeit panischer Eingeschlossenheit, als draußen Wölfe, besser: Haie und Seeminen lauerten.

Im Postskriptum zu dieser teilweise skrupulös rekonstruierten, teilweise aus den Augenwinkeln von Anna Seghers‘ Sohn berichteten Geschichte wechselt der Erzähler die Ebenen. „So oder ähnlich hat sich die Geschichte zugetragen. Doch ich habe mir die Freiheit genommen, André Bretons Haiti-Aufenthalt zeitlich vorzuverlegen nach Mark Twains Devise, wenn ein literarischer Text dies erfordere, würde er nicht zögern, ganze Staaten und Städte auf der Landkarte zu verschieben.“ Dieses Eingeständnis ist nicht unproblematisch. Denn es zieht gerade Buchs Stärke in Zweifel: aus der faktischen Richtigkeit, gleichsam halluzinatorisch die verborgene Wahrheit herauszuschälen. Dafür müsste er, indem er sich mit den Randfiguren des Geschehens identifiziert, bei der Richtigkeit der Überlieferung bleiben, auch bei ihrer Chronologie. Ansonsten gerät der Text in die Nähe dessen, was er eigentlich aufdecken will: Er wird ideologisch.

Vom Bärenkult zum Stalinkult ist weder ein erzähltes Sachbuch noch eine Sammlung historischer Studien. Es setzt auf erzählerische Identifizierung bei sachlicher Distanz sowie auf vielfältige Spiegelungen. Das ist Aufklärung im klassischen Sinn, als Bildung noch geholfen hat. Und als, wie Elias Canetti einmal meinte, Schreiben das Gegenteil von Identitätspolitik war: „Jeder sein, statt einer.“

Vom Bärenkult zu Stalinkult Hans Christoph Buch Arco 2024, 240 S., 22 €