Vladimir Sorokin: Wenn Putin, Trump und Merkel verbinden in jener Klapse sitzen – WELT
Der bedeutendste russische Schriftsteller jener Gegenwart ist kein Schriftsteller Russlands mehr, jedenfalls nicht dieses Russlands. Zuvor langjährig noch Teilzeitemigrant, lebt Vladimir Sorokin seit dem Zeitpunkt dem Krieg gegen die Ukraine ganz im Berliner Exil. Wenn er nun verdongeln Roman veröffentlicht, jener um dies Jahr 2050 spielt und in dem Wladimir Putin qua Patient einer Nervenklinik im Altai-Gebirge auftritt, dann erwartet jener Leser eine Abrechnung, dies vernichtende Psychogramm eines Diktators und Kriegstreibers.
Doch so leicht macht Sorokin es sich (und uns) nicht, einmal ganz ausgenommen davon, dass er eine literarische Komplettzerstörung des Putinismus längst geliefert hat – etwa in „Der Tag des Opritschniks“ von 2006 –, qua Russlands Lotse im Westen noch qua charismatischer Hoffnungsträger einer lichten, fröhlich-friedlichen Weltversöhnung galt. Im neuen Roman „Doktor Garin“ ist Putin ganz wortwörtlich ein wandelnder Arsch mit Ohren und gibt im Sanatorium nur verdongeln einzigen Satz von sich, den zugegeben immer wieder: „Ich war’s nicht“.
Ansonsten ist er, verglichen mit Mitpatienten wie Trump, Berlusconi oder Boris Johnson, handzahm und solide und trainiert fleißig hinauf dem Hometrainer, wenn Seelenwunderheiler Doktor Garin zur Morgenvisite kommt. Nur hört irgendwer nachts russische Schlager in voller Lautstärke. Putin dazu: „Ich war’s nicht.“ Doktor Garins Befund: „Stabil“.
Angela Merkel ist schwergewichtig traumatisiert
Das gilt nicht z. Hd. leer jener hier spezialbehandelten „political beings“, nicht zuletzt die „Glorreichen 8“ genannt. Macron schnappt mit Freude einmal zu; die weitestgehend hundertjährige Angela Merkel ist von den Spätfolgen ihrer Politik schwergewichtig traumatisiert und wird von Zitteranfällen geplagt, parliert u. a. zugegeben weiter in formvollendeter Muttihaftigkeit.
Im „Sanatorium Altai-Zedern“ versammelt Sorokin ebendiese Spitzenpolitiker einer in Dauerkriegen begrabenen weltgeschichtlichen Epoche qua groteske Puppenparade wie aus „Spitting Image“, qua wandelnde Hinterteile mit Mündern und winzigen Gliedmaßen, die Phrasen dreschen, Burger fressen, Waden kauen und im Speisesaal um die Wette furzen. Statt vergeistigter Zauberberg-Atmo herrscht hier pure Stofflichkeit. Die berühmte Behandlungsmethode Doktor Garins ist dann nicht zuletzt z. Hd. leer gleich: Elektroschocks mit dem Wunderknüppel, seinem berühmten „Blackjack“, hinauf die Hinterbacken. Alle hier sehnen sich im Weiteren, die Assistenzärztin implizit, und lassen willig die Hosen runter.
Impfstoff gegen Zombies
Doktor Garin war schon die Hauptfigur im Sorokins „Der Schneesturm“ (2010), wo er ein entlegenes Dorf zu hinhauen versuchte, um dort verdongeln Impfstoff gegen die grassierende Zombie-Epidemie abzuliefern. In Ton und Setting ahmte Sorokin russische Erzählungen des 19. Jahrhunderts nachher, um sie durch Verschiebungen und Verzerrungen – die Kutsche mit fünfzig kleinen Pferdchen – zu sprengen.
„Doktor Garin“ führt tendenziell dies Verfahren qua die Handlung des Vorgängers fort. Sein weltliterarisches Vorbild ist Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“ aus dem 16. Jahrhundert. Geschmacklosigkeit ist hier Programm. Auch Sorokins Roman malt eine fett-, kot- und spermatriefende Welt zwischen Völlerei und Orgie, Totentanz und Ballermann, in jener gleichwohl Literatur die heimliche Hauptrolle einnimmt.
Aus jener Lust am Exzess und dem Triumph des Skatologischen zusammen mit Rabelais entwickelte jener russische Kulturtheoretiker Michail Bachtin seine Theorie des Karnevals. Sorokins Mummenschanz in der Tat ist gewalttätig und stockfinster. Die zusammen mit Rabelais veralberte Apokalypse ist hier längst in vollem Gange. Nach mehreren Weltkriegen ist dies frühere Russland in sich erbittert bekämpfende Republiken zerfallen. Das Sanatorium wird schon am Ende des ersten (von sieben) Romanteilen von einer kasachischen Atombombe zerstört.
Odyssee durch Zentralasien
Es beginnt eine Odyssee durch zentralasiatische Weiten, zusammen mit jener die Truppe um Garin immer dicker Teppich wird: Berlusconi, Trump und Putin finden unterwegs ihre wahre Bestimmung qua Zirkusclowns, die mit Knüppeln in Form ballistischer Raketen aufeinander eindreschen.
Die eigenwillig verschlungene Handlung folgt einer Logik von Aventiuren, wie in Epen und frühneuzeitlichen Romanen: Munter wechseln die Schauplätze, ereignen sich überraschende Begegnungen, die entweder im Kampf oder im Bett enden (meist zum Anderen); es gibt magische Rettungen und üble Fallen, Dealer-Drohnen mit Wunderdrogen, Sex mit Riesinnen und viel Quatsch mit Soße.
Meisterhaft, wie Sorokin aus jener total abgedrehten Groteske immer wieder in eine humane Ernsthaftigkeit findet und mitten unter dieses Genremixes seelische Abgründe aufreißt. Im vorletzten Kapitel „Die weiße Räbin“ lässt er Doktor Garin in die Sklaverei von primitiv im Sumpf lebenden Mutanten geraten – hier gelingt Sorokin in einem völlig fantastisch-irrealen Setting ein Reenactment sowjetischer Lagerliteratur, deren brutaler Naturalismus die Haare zu Berge stillstehen lässt.
Die wilde Jagd durch Hypermoderne und Steinzeit, Zarismus und Sowjetkommunismus endet z. Hd. Garin zugegeben nicht in diesem Gulag, sondern in einem glücklichen, ganz und gar märchenhaften Finale am, na wo wohl, Arsch jener Welt.
Vladimir Sorokin: „Doktor Garin“. Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 26 Euro.
Source: welt.de