Villa Unseld: Die Festung

Der
Suhrkamp Verlag verkauft die Villa seines früheren Verlegers Siegfried Unseld
in Frankfurt am Main in der Klettenbergstraße. Das ist scheinbar keine
Nachricht. Der einstige Verleger ist seit mehr als zwanzig Jahre tot, der
Verlag vor Jahren nach Berlin umgezogen, das Haus verfällt. Niemand lebt mehr
da. Für 4,1 Millionen Euro kann man die Villa Unseld kaufen. 

Wer
jedoch einmal dort gewesen ist, zu der Zeit, als das Haus noch lebte, als es
mit Geist und Lebendigkeit und Gesprächen und Tradition gefüllt war bis
obenhin, für den ist der bevorstehende Verkauf eine große Nachricht. Denn: Was
für ein Haus war das, als es noch lebte!

Einmal
im Jahr, während der Frankfurter Buchmesse, war es für einen kleinen Kreis ein
offenes Haus. Dann war der sogenannte Kritikerempfang, das Hochamt der deutschsprachigen
Literatur. Wer in der Bundesrepublik Deutschland Romane oder Gedichte von
einigem Wert schrieb, wer zum Kanon gehörte oder gehören wollte, und wer
darüber schrieb und also mit über diesen lebendigen Kanon entschied, der musste
irgendwie hier reinkommen. Es war nicht leicht. Gegen die harte Tür der
Unseld-Villa ist der Eingang des Berghain ein offenes Tor.

Mich
hat Ende der Neunzigerjahre, ich war Hospitant im Feuilleton der FAZ, der
damalige Herausgeber Frank Schirrmacher einfach mitgenommen. „Eingeführt“ hätte
man damals wohl noch gesagt. Ich war natürlich viel zu schüchtern, wehrte mich
eigentlich, so ohne Einladung, mit der Furcht, abgewiesen zu werden, vor all
den Leuten. Schirrmacher war sorglos und siegesgewiss. „Klar kommen Sie da
rein. Ihre Einladung bin ich.“

Das
Haus ist in Wahrheit natürlich ziemlich unscheinbar, „Villa“ ist auch
eigentlich übertrieben. Ein paar Stufen führen hinauf, Efeu wächst um die
Eingangstür, Unseld selbst prüfte und begrüßte damals im Eingangsbereich die
Hereinströmenden. Wer ich sei, wollte er wissen. Schirrmacher winkte ihm zu und
mich durch. „Gehört zu uns.“ Damit war ich drin.

Es
ist ein Haus auf Büchern gebaut. Der Keller vor allem ist legendär. Nur Unseld
hatte einen Schlüssel dafür. Hinter Tresortüren lagerte sein Schatz, der Schatz
des Geistes der Bundesrepublik. Mehr als 12.000 Bücher (!) – also alle
Suhrkamp-Bände, die zu seiner Verlegerzeit erschienen waren. Das Fundament. Unselds
Biograf Peter Michalzik hat diesen Tresorraum des Geistes einmal beschrieben.
An den Wänden die Treppe hinunter hingen selbst gemalte Bilder der Kinder seiner
Autoren. Und im Tresorraum selbst war er stolz und ganz bei sich: „Hier unten
atmete er freier“, erinnert sich Michalzik.

Dieses
Haus in der Klettenbergstraße in Frankfurt war, noch mehr als der eigentliche
Sitz des Verlages in der Lindenallee, das Herz des Unternehmens. Leben und
Verlegen war für Unseld eins. Er lebte für die Bücher, für die Autorinnen und
Autoren. Wer einmal in diesem Haus zu Gast war, hat es erlebt und gespürt.

„Er hat es als Festung gebaut“

Seine
Frau Ulla Unseld-Berkéwicz hat bei seiner Beerdigung gesagt: „Das große
Gebäude, das er errichtet, an dessen Bau er 53 Jahre lang rastlos gewirkt hat,
er hat es als Festung gebaut, als eine Bastion gegen Hass und Fanatismus, gegen
Rassismus, Antisemitismus, gegen Menschenwahn.“

Eine
Festung. Beim alljährlichen Empfang wurden zu Beginn immer die Namen der
anwesenden Suhrkamp-Autoren verlesen, in alphabetischer Reihenfolge. Ein
Ausgewählter las dann aus einem noch unpublizierten Werk. Nur Peter Handke las
nicht selbst, ihm war das vielleicht zu profan, oder schon das Wort Kritiker
löste in ihm Unbehagen oder Übelkeit aus. Er war nicht gekommen und ließ Ulla
Unseld lesen. Rainald Goetz saß zu Füßen der Lesenden, Albert Ostermaier war immer
da, Peter Sloterdijk, lange Jahre noch Marcel Reich-Ranicki. Am besten stand es
sich auch hier, wie bei allen Partys, in der offenen Küche, der Warhol-Goethe
hing dort riesengroß. Im Wohnzimmer, wo gelesen und rumgestanden wurde, hing ein
wunderschönes kleines Porträt von Robert Walser, im Profil, mit Zigarette im
Mund. Angstsucht heißt das, gezeichnet von Jan Peter Tripp.

Peter
Handke
hat sich einmal erinnert, wie er hier ins Haus kam, im November 1971, da
war er ganz frisch Suhrkamp-Autor, und ein Bote des Verlages (ja, so lange ist
das alles her) hatte ihm nach Kronberg im Taunus, wo er gerade unterwegs war,
die Nachricht überbracht, dass seine Mutter sich das Leben genommen hatte.
Handke eilte in die Klettenbergstraße, „empfangen dann vom Verleger“.
„Empfangen? Ja, durch sein gegenwärtiges Schweigen“, schreibt Handke.
„Siegfried Unselds Schweigen zu den Trauerlauten hier und dort, Schweigen in
meinem Rücken, an meinem Rücken.“ Aus der Nachricht von diesem Tod folgte Peter
Handkes schönstes Buch – über seine Mutter: Wunschloses Unglück, hier hatte
es seinen Ausgangspunkt. Wie so viele andere Bücher.

Und
auch das Ende trat hier ein. Hier lag Siegfried Unseld im Herbst 2002 im
Sterben, als der fatale Roman Tod eines Kritikers von Martin Walser
erscheinen sollte, in seinem Verlag. Walser hatte hierin seinen vertrauten
Lebensfeind, den jüdischen Kritiker Marcel Reich-Ranicki, mit antisemitischen
Motiven als literarischen Untoten beschrieben, und er hatte einen Verleger, der
in vielem die Züge seines eigenen Verlegers, Unseld also, trug, sterben lassen.
Frank Schirrmacher hatte in der FAZ ein flammendes Plädoyer gegen dieses Buch
geschrieben, Unseld lag in der Klettenbergstaße im oberen Stockwerk,
ruhig gestellt durch Medikamente, im Sterben. Und unten musste der Stiftungsrat
und der verlegerische Geschäftsführer Günter Berg, den Unseld, nach legendär
vielen gescheiterten Versuchen, einen Nachfolger zu finden, als neuen
Suhrkamp-Chef eingesetzt hatte, darüber entscheiden. Der Roman ist erschienen.
Es war das letzte Buch Walsers bei Suhrkamp.

Kurz
bevor Unseld starb, hat er sich in einer Tonbandaufnahme an seine Mitarbeiter
gewendet. Er sagte: „Ich habe auf euch gebaut und ihr auf mich. Vielleicht kann
es in einer anderen Weise so bleiben.“

Natürlich
war das Schönste im Haus immer die Bücherregale an allen Wänden. So gut und
lustig und geistreich und böse und albern und lästernd die Gespräche auf den
Empfängen auch waren, noch lieber hätte man sich eigentlich immer eines dieser
alten Werke aus den Regalen genommen und gelesen. Hier war der Satz von Unselds
Lieblingsautor Hermann Hesse ganz besonders wahr: „Das in Büchern niedergelegte
Denken und Wesen der Autoren aller Zeiten ist nichts Totes, sondern eine
lebendige, durchaus organische Welt.“

Das
alles ist sehr, sehr lange her. Der Kritikerempfang fand in dem Haus bis
zuletzt statt. Aber er war nach Unselds Tod ganz anders geworden. Auch die
Bücher standen irgendwie nur noch so rum. Es war ein totes Haus. Der Suhrkamp Verlag
residiert heute in einem schicken, modernen Silberhaus in Berlin-Mitte.