Vermächtnis – „Misere“ von Helena Adler: Der Faschismus des kleinen Mannes
Sie galt als der aufgehende Stern am Firmament der österreichischen Literatur. Mit ihrem kratzigen und furiosen Schreibgestus sahen viele Helena Adler in der großen Traditionslinie von Karl Kraus, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. Nachdem sie bereits für ihren Roman Die Infantin trägt den Scheitel links (2020) frenetisch gefeiert wurde, der von einer jungen Rebellin in einer engstirnigen Alpengemeinde erzählt, sollte sie vergangenes Jahr die große Bühne des Ingeborg-Bachmann-Preises erhalten. Doch es kam anders. Denn kurz davor erhielt sie die Diagnose eines Hirntumors. Nach schwerer Krankheit verstarb sie im Januar dieses Jahres mit nur 40 Jahren.
Zumindest eine Ahnung von ihrem Können vermitteln ihre letzten drei, posthum erschienenen Erzählungen, aus denen übrigens auch der diesjährige Juryvorsitzende bei den Tagen der Deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, Klaus Kastberger, in memoriam vorlas. Noch einmal bündelt sie hier ihre gesamten literarischen Kräfte und führt uns in die von ihr so gern beleuchteten Abgründe des Lebens. Im Zentrum der ersten Geschichte steht der Maurer Josef, eine einfache, aber zuverlässige Seele, einer von der Sorte Mensch, die nicht „Nein“ sagen kann und buckelt, bis sie umfällt. So einer wird schnell ausgenutzt, gerade im rauen Kaff Unterjoch. Das N-Wort wird dort anstandslos gebraucht, die man so nennt, sind nicht gern gesehen, Frauenhintern zum Draufklatschen dagegen schon. Wer von „Gemeindepascha(s)“, die alle irgendwie miteinander verwandt sind, hinter der Scheune vergewaltigt, pardon, „zwangsbeglückt“ oder „gerudelt“ und anschließend aus christlichen Gründen direkt zur Ehe verpflichtet wird, findet nur wenige arme und liebe Trottel wie ihn. Maria hat nun das Glück und bittet ihn bei ihrer Trauung um Fluchthilfe. Und da Josef ohnehin bald sterben muss, begeht er eine letzte gute Tat, rettet die Frau und betoniert die schweinische Hochzeitsgesellschaft kurzerhand mit großem Mischer ein.
In den beiden anderen Texten hat die Schriftstellerin die menschliche Verkommenheit schon längst hinter sich gelassen. Mit einem kurzen Zwischenruf meldet sich ihre Erzählerin aus dem Reich der Toten, um daraufhin eine größere Reise durch das innere Jenseits anzutreten. Vorbei an den Hiobsboten gerät sie in die Fänge eines Wesens mit vielen Namen: „Gnom“, „Nachtmahr“ – oder einfach: die psychischen Abgründe, die unendliche Traurigkeit. Je schwächer das Ich wird, desto stärker wird dieser ihm im Nacken sitzende, nicht abzuschüttelnde Dämon. Erst am Ende, zu ihrem eigenen Begräbnis, scheint es mit ihm seinen Frieden zu finden.
Das hat Witz und Feuer
Welch eine Energie bietet die 1983 im Salzburger Land geborene Schriftstellerin in diesen späten Texten doch auf! Als „Vertriebene mit Austrieben“ kreiert sie in bester österreichischer Tradition knallige Wortspiele und groteske Mentalitätskarikaturen des österreichischen Kleinbürgertums. Das hat Witz und Feuer, ohne zugleich auf das melancholische Moll zu verzichten. Gewahr wird man eines Schreibens, das vollends auf Emanzipation zielt. Damit setzt sie ihr Projekt fort, das sie von ihrem Debüt Hertz 52 (2018) bis zu ihrem letzten Roman Fretten (2022) immer weiter vorantrieb: die schonungslose Offenlegung des Faschismus des „kleinen Mannes“.
Dass Adler darüber hinaus vor ihrer schweren Erkrankung begonnen haben muss, sich künstlerisch mit dem Tod auseinanderzusetzen, verleiht diesen furiosen Texten zudem eine beinah visionäre Aura. Hier hat jemand noch aus der Hoffnung heraus sein Vermächtnis verfasst. Dem Gnom, diesem absonderlichen und gierigen Geschöpf, begegnet die Erzählerin zuletzt mit der „Trägheit meines Herzens (…) Was träge ist, ist widerständig. Was träge ist, ist unbeirrbar.“ Selbst die Ohnmacht lässt sich umwandeln und dient unversehens zum störrischen Kontra. Diese Sprachwucht wirkt so stark, dass man sie im Gedächtnis behält.
Miserere Helena Adler Jung und Jung 2024, 72 S., 16 €