Verbrechen | True Crime: Warum werden die Verbrechen-Geschichten vor allem von Frauen gehört?
Wirft man einen Blick auf das Ranking der reichweitenstärksten Podcasts in Deutschland, könnte man beinah meinen, das Land hätte den Sommer im kollektiven Ermittlungsdienst verbracht. Fast die Hälfte der fünfzehn deutschen Formate mit den meisten Downloads im August ist laut der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse dem True-Crime-Genre zuzuordnen.
Um einen momentanen Trend handelt es sich dabei längst nicht mehr. Und die Faszination erschöpft sich nicht im Audiomarkt: Magazine wie Stern Crime oder Zeit Verbrechen, ausverkaufte Live-Tourneen und globale Serienhits zeigen, wie umfassend True Crime in die Gegenwartskultur eingesickert ist.
Im Streaming-Bereich profitiert Netflix wie kein anderer Anbieter davon. Erfolgreiche Serien wie Night Stalker, Conversations with a Killer oder Making a Murderer setzen auf eine Mischung aus (pseudo-)dokumentarischem Zugriff und dramatisierter Erzählweise.
Das Leiden der Anderen
Am deutlichsten zeigt sich dieser Trend in der Monster-Reihe von Serienschöpfer Ryan Murphy: Die erste Staffel der Anthologie-Serie um den Serienmörder Jeffrey Dahmer wurde allein binnen der ersten 60 Tage über eine Milliarde Stunden gestreamt. Die Nachfolgestaffel um die Brüder Menendez setzt diese Logik fort und etabliert eine serielle Täterdramaturgie, die reale Gewalt in Popkultur übersetzt: visuell hochgradig stilisiert, emotional aufgeladen und darauf ausgerichtet, Serienkiller zu Figuren mit wiedererkennbarem Markenwert zu machen.
Welche bizarren Auswüchse der Kult um das reale Verbrechen nehmen kann, zeigt aktuell der Fall der seit 2019 vermissten Schülerin Rebecca Reusch: Selbst ernannte Hobbydetektive stellen eigene Nachforschungen an, mutmaßen Tathergänge und veröffentlichen diese für ihre Follower im Netz – sehr zum Missfallen der Behörden, die vor der Gefährdung tatsächlicher Ermittlungen warnen. Einzelfälle wie diese mögen in der Berichterstattung grell hervorstechen, das wahrhaft Groteske ist aber die Tatsache, dass das minutiöse Nacherzählen grausamer Gewalttaten und die Verdichtung von Opferschicksalen zu Spannungsbögen zu alltäglicher Unterhaltung geworden sind – konsumiert nebenbei, beim Bügeln, Joggen, auf dem Weg zur Arbeit oder als Einschlafhilfe. Wie seltsam leicht sich das Leiden der Anderen doch in das Unterhaltungsrepertoire einer Gesellschaft integrieren lässt.
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Wie kann man dieses Phänomen erklären? Liegt ihm eine besonders ausgeprägte Law-and-Order-Mentalität zugrunde, die in jedem Mordfall vor allem die Bestätigung für das Funktionieren von Polizei und Justiz sucht?
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So jedenfalls wird die ungebrochene Popularität des Tatort erklärt, als liebste sonntagabendliche Fernsehroutine der Deutschen. Oder geht es im True Crime, wo die „Ordnung“ am Ende oft gerade nicht wiederhergestellt ist, vielmehr um eine voyeuristische Lust am Schaudern, gespeist aus den realen Abgründen, die dem eigenen Leben glücklicherweise verschlossen bleiben?
Vielen geht es darum, die Motive hinter den Taten zu verstehen
Fundierte wissenschaftliche Untersuchungen dazu sind bislang rar. Die Erkenntnisse der ersten groß angelegten empirischen Studie zum True-Crime-Konsum, durchgeführt an der Universität Graz, deuten aber durchaus in diese Richtung: So ist das meistgenannte Motiv der Befragten, die Psychologie hinter den „schrecklichen Taten“, das Warum, verstehen zu wollen. Gefolgt von „grundlegendem Interesse am Justizsystem, an Polizeiarbeit und kriminalistischen Ermittlungen“ und „Neugier“ als weiteren Beweggründen.
Vergleicht man diese Motive mit den populärsten Formaten im Podcast-Bereich, wird schnell fraglich, wie sehr Anspruch und Realität übereinstimmen. Im Format Mord auf Ex etwa, der zwischenzeitlich mehr als sechs Millionen Downloads im Monat erzielte, verrät der Titel viel über das Konzept: True-Crime-Geschichten werden im lockeren Erzählton präsentiert – ursprünglich begleitet von Drinks. Zwar wird inzwischen kaum noch getrunken, doch der Jingle ist geblieben: Es wird eingeschenkt und angestoßen – aber worauf eigentlich?
In Mord auf Ex stehen längst nicht nur die Fälle im Vordergrund, sondern auch die Moderatorinnen: Linn Schütze und Leonie Bartsch, die auf dem Cover lässig mit zwei Küchenmessern posieren. In einer aktuellen Folge geht es mit Trommelwirbel los: Neue Tourtermine werden verkündet („Wir haben so, so Bock!“) und die Tickets als perfektes Weihnachtsgeschenk für Freunde angepriesen – nur die Mütter solle man beim Schenken bitte nicht vergessen. Später folgt ein Promo-Code für ein Fernstudienprogramm, eingebettet in einen Plauderton, der mühelos von Marketing zu Mordfall übergeht.
Mordlust: Der Spitzenreiter des Genres
Das Konzept ähnelt dem noch erfolgreicheren Podcast Mordlust von Paulina Krasa und Laura Wohlers, dem aktuellen Spitzenreiter unter den deutschen Vertretern des Genres. Auch hier rahmen Anekdoten noch die schwersten Fälle. „Du bist ja auch Vermieterin“, sagt die eine zur anderen und betont, dass sie noch nie eine Erhöhung verlangt habe. Und was ihr eigener Mieter für einer sei? „Ein unauffälliger, so wie man sich das wünscht.“
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Authentizität ist der zentrale Reiz von True Crime, darauf weist auch Corinna Perchtold-Stefan, Psychologin und Leiterin der Grazer Studie, in zahlreichen Interviews hin. Viele Hörerinnen und Hörer hätten demnach das Bedürfnis, wahre Geschichten aus dem echten Leben zu verstehen. Doch mit Blick auf die erfolgreichsten Podcasts zeigt sich, dass eine zweite Facette von „Authentizität“ – oder besser: ihre Inszenierung – ebenso entscheidend zu sein scheint. Gefragt sind gerade jene Formate, die Kriminalfälle nicht rein faktenbasiert und nüchtern nacherzählen, sondern eine vermeintlich „echte“ Unterhaltungssituation und eine Beziehung zu den Moderatorinnen herstellen.
Das erklärt womöglich auch, warum True Crime zwar weltweit erfolgreich ist, in westlichen Gesellschaften aber besonders floriert. Hier gilt das Versprechen von Authentizität seit Jahrzehnten als Mehrwert in Kunst, Kultur, Konsum: Von „authentischen“ Reiseerlebnissen über Reality-Sendungen bis zu Influencer-Inszenierungen im Privaten leben ganze Wirtschaftszweige vom Reiz des vermeintlich Ungefilterten. Mit den digitalen Plattformen hat dieser Echtheitskult eine neue Stufe erreicht – und in Podcasts seine vielleicht reinste Form gefunden.
Der Ur-True-Crime-Podcast: Serial
Unmittelbar damit verknüpft ist der aktuelle True-Crime-Boom: Denn Genre und Medium haben sich gegenseitig großgemacht. Ob sich Podcasts ohne True Crime so schnell verbreitet hätten oder True Crime ohne das Format zu einem solchen Welterfolg geworden wäre, lässt sich kaum mehr feststellen. Als Katalysator gilt das US-Format Serial. Die erste Staffel erschien 2014 und rollte den Mord an der Schülerin Hae Min Lee neu auf – mit durchschlagendem Erfolg. Die dramaturgisch ausgefeilten Episoden machten Podcasts zum Massenphänomen und markierten zugleich den Beginn des globalen Hypes um reale Verbrechensgeschichten.
Doch dieses Authentizitätsversprechen hat seinen Preis. Schon lange steht True Crime in der Kritik, nicht nur zur Heroisierung von Tätern beizutragen, sondern auch das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen öffentlich auszuschlachten, oft mit retraumatisierenden Folgen.
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Dass es für die Opfer kaum rechtlichen Schutz gibt, bringt Betroffene in eine zusätzlich prekäre Lage: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht endet in Deutschland mit dem Tod, lediglich eine zehnjährige Schutzfrist für das Recht am eigenen Bild und am „Leben“ bleibt bestehen. Auch deswegen drehen sich viele True-Crime-Formate um ältere Fälle. Danach schützt zwar der sogenannte postmortale Achtungsanspruch das Andenken der Verstorbenen, doch dieser Schutz ist schwach und schwer durchzusetzen. In der Praxis überwiegt der Täterschutz häufig den Opferschutz, was von Medienanwälten und Opferschutzorganisationen seit Jahren kritisiert wird.
Warum sind 90 Prozent der Podcast-ZuhörerInnen Frauen?
Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass sich auch immer mehr öffentlich-rechtliche Produktionen dem True-Crime-Trend widmen, zwiespältig. Zwar darf man dort eher von einer gründlichen Recherche ausgehen als bei privaten Anbietern. Doch auch Formate wie ARD Crime Time verwandeln Gewalt letztlich in ein Spektakel. Prestigeprojekte wie der ZDF-Zweiteiler Lillys Verschwinden treiben diese Logik noch weiter.
Nur wenige Formate – etwa der Cosmo-Podcast Schwarz Rot Blut, der Verbrechen mit rassistischem Motiv in gesellschaftliche Kontexte stellt – durchbrechen die gängige True-Crime-Dramaturgie. Dabei liegt gerade dort der eigentliche Mehrwert des Genres: Nicht in der detailreichen Rekonstruktion einzelner Taten, sondern in der Analyse von Strukturen, die Gewalt fördern oder ermöglichen, wie sozioökonomische Faktoren, institutionelle Machtverhältnisse und patriarchale Muster.
Gerade die Einordnung in größere Zusammenhänge, etwa warum Männer die meisten Gewalttaten begehen und Frauen – insbesondere in Partnerschaften – überproportional häufig Opfer sind, drängt sich geradezu auf. Es sind weiterhin mehrheitlich Frauen, die True Crime konsumieren. Je nach Studie machen sie 60 bis 85 Prozent des Publikums aus, im Podcast-Bereich sind es teilweise sogar über 90. Viele von ihnen geben an, sich mit dem Genre zu beschäftigen, um das Gefühl zu bekommen, auf Extremsituationen im eigenen Leben besser vorbereitet zu sein.
Echte Aufklärung abseits aufregender Ausnahmekriminalfälle scheinen aktuell aber nur die wenigsten Genrevertreter anzubieten. Journalistische Standards gelten selbst bei etablierten Medienhäusern nicht durchgehend, wie eine Studie der Universität Wien aufzeigt. True Crime funktioniert als Ware. Als solche erzählt sie weniger über Verbrechen als über die Gesellschaft, die es sich zur Unterhaltung macht. Solange True Crime das Schicksal von Opfern zum Konsumprodukt macht, ist es nur folgerichtig, auch die Wahl eines Formats als Kaufentscheidung zu begreifen. Die hat auch eine ethische Dimension – welche dann deutlich wird, wenn man sich fragt, ob man das Leben eigener Angehöriger in dieser Folge oder auf jener Bühne aufgearbeitet sehen wollte.