USA | Verschwörungstheorien aufwärts Tiktok, X und Instagram: Der große Charlie-Kirk-Schwindel

Die gegenwärtige Politik in den USA braucht Verschwörungen. Und so dauerte es nach dem Mord am rechten Hasardeur Charlie Kirk nur ein paar Minuten, bis sich die Agora auf Tiktok, X und Instagram in eine Gladiatoren-Arena verwandelt hatte. Kirks mutmaßlicher Mörder, Tyler Robinson, war da noch nicht einmal gefasst. Dafür vermüllten bereits Videos, in denen über den Hintergrund der Tat spekuliert wird, das Netz mit immer neuen verrückten Ideen und mit jeder davon verband sich die alte, konspirative Frage: Qui bono? Wer profitiert?

Klar, die erste Welle an Spekulationen galt dem politischen Charakter des Täters. Rechte gaben den Linken und Linke den Rechten die Schuld. Und manch ein Kommentator der Hardcore-Polarisierung selbst. Einigen linken Tiktokern reichten dabei schon alte Facebook-Fotos, auf denen Tyler Robinson in einem Halloweenkostüm zu sehen ist, das wage an „Pepe The Frog“ erinnert – eine Meme-Figur ultrarechter Online-Communities –, um den potenziellen Mörder von Charlie Kirk zum sogenannten Groyper zu erklären – einem Anhänger des besonders radikal-nationalistischen Meinungsmachers Nick Fuentes.

Bei einigen MAGA-Hardlinern war Charlie Kirk in Ungnade gefallen

Eines stimmt zumindest: Fuentes, der offen Hitler verehrt, hatte Kirk in der Vergangenheit mehrfach als zu moderat kritisiert. Außerdem hasste er Kirk für dessen pro-israelische Haltung. In einem seiner Videos, das wiederum von linken Spekulanten aufgegriffen wurde, fordert er deshalb, dass Kirk „von der Bühne verschwinden“ müsse. Und auch bei anderen MAGA-Hardlinern, wie der Trump-Loyalistin Laura Loomer, war Kirk kurz vor seinem Tod in Ungnade gefallen. Loomer bezeichnete Kirk auf X als „Scharlatan“ und „Opportunisten“, der dem US-Präsidenten immer öfter in den Rücken fiele. Gemeint war damit Kirks scharfes Urteil über Trumps Verwicklung in die Epstein-Affäre – dem Skandal, der die MAGA-Bewegung gerade fundamental in konkurrierende Lager zerlegt.

Ein Glück also, zumindest für uneinige Trumpisten, dass die lokalen Ermittlungsbehörden in Utah schleunigst die Gravuren bekanntgaben, die der Täter in seine für Kirk bestimmten Patronen eingeritzt hatte. Denn die lasen sich mit „Bella Ciao“ oder „Catch, Fascist!“ doch ziemlich eindeutig links; auch wenn Linke und Liberale meinten, in anderen Gravuren, wie der, die auf das OwO-Meme Bezug nahm, die Sprache der rechtsnihilistischen Incel-Bewegung zu erkennen. Als dann aber das FBI zusätzlich Chat-Protokolle veröffentlichte, aus denen hervorgingen, dass Tyler Robinsons Freundin trans ist, schien die Identitätsverwirrung endgültig geklärt zu sein: Charlie Kirks Mörder war ein linksradikaler LGBTQ-Aktivist.

Die Spekulationen über Charlie Kirks Tod gingen indes weiter. Das heißt, kurz vor Kirks megalomanischer Beerdigung am vergangenen Sonntag lebten sie erst so richtig auf. Und das wegen mehrerer ziemlich verstörender Clips. Zwei davon brachte Erika Kirk selbst in Umlauf. Im ersten sah man die Witwe weinend vor dem offenen Sarg ihres verstorbenen Mannes sitzen und seine orange-gelb geschminkten Hände küssen. Weil die so nach Wachspuppe aussahen, häuften sich schnell die Videos, in denen darüber gerätselt wird, ob der echte Charlie Kirk nicht doch noch irgendwo lebendig herumspringt.

Wirkte Charlie Kirks Witwe nicht wie fremdgesteuert?

Kurz danach veröffentlichte Erika Kirk ein zweites Video, was die wahnhafte Spurensuche weiter eskalieren ließ. Und tatsächlich: Erika Kirk wirkt darin irritierend fremdgesteuert. An einem Rednerpult mit dem Logo von Turning Point USA stehend, der rechtsevangelikalen Sekte ihres Mannes, dankt sie Donald Trump für seine „Liebe“ und ruft am Ende des mehrminütigen Clips eigenartig programmatisch dazu auf, Teil ihrer Sekte zu werden: „Charlie hätte das geliebt!“ Was die Verschwörungstheoretiker im Netz darüber denken? Alles Fake! Kirks Tod, ein Machtmanöver.

Aber von wem eigentlich? Von US-Präsident Trump selbst. Und von seinem Beschützer, dem von ihm eingesetzten Chef des FBI und Kirk-Freund, Kash Patel. Fakt ist: Der soll gerade vor dem Senat erklären, warum bestimmte Dokumente der Epstein-Ermittlungen immer noch zurückgehalten werden. Da kommt die Aufregung um Kirks Tod ganz gelegen. Denn was die Ermittlungsakten zum Vorschein bringen könnten, droht vor allem in Trumps ultrarechtem Vorfeld zu einem echten Problem zu werden. Dort sehen Anhänger ihren Präsidenten und damit auch Kash Patel zunehmend im Zentrum einer zionistischen Verschwörung.

Besonders Candace Owens, eine der führenden rechten Influencerinnen und langjährige Wegbegleiterin von Charlie Kirk, propagiert diese Idee. Ihr X-Account ist voll von erratisch judenfeindlichen Tweets, in denen sie mutmaßt, dass Israels Ministerpräsident Netanjahu Trump mit kompromittierenden Sex-Clips erpresse, die von Jeffrey Epstein stammten und Israel die amerikanische Unterstützung im Krieg gegen die Hamas sichern sollen. Und Charlie Kirk? Laut Owens soll der Teil des zionistischen Komplotts gewesen sein. Ermordet wurde er, so Owens, weil er neulich einen Deal mit Netanjahu abgelehnt und seine pro-israelische Haltung überdacht habe.

Der irre Satz des FBI-Chefs Kash Patel: „Wir sehen uns in Valhalla.“

Klingt verrückt? Ist es auch. Gleichzeitig erkennt man anhand all dieser Spekulationen, was Trumps permanente Angriffe auf die Wahrheit angerichtet haben: Nichts stimmt mehr, also kann alles stimmen. Und dann sagte ja auch noch Kash Patel kurz nach Kirks Ermordung diesen einen irren Satz, den er an seinen „Bruder“ Charlie Kirk richtete, und der Verschwörungstheoretikern wie Candace Owens exakt den Stoff lieferte, den sie brauchten, um ihre Wahnerzählung von der großen Vertuschung weiterzustricken: „Wir sehen uns in Valhalla.“

Valhalla?! Ausgerechnet das nordisch mystische Paradies für gefallene Krieger? Man kann dieses Zitat nur als Lockruf an die Rassenideologen der Incel-Bewegung und an Nick Fuentes’ Groyper verstehen. Und das vom Chef des FBI, gerade jetzt, wo der scheinbar moderate Kirk weg ist und die Frage im Raum steht, wer in Zukunft noch Trumps MAGA-Vorfeld mobilisieren kann. Aber ist das nicht die wahre Verschwörung? Die Ablenkung von Trumps Schwachstellen? Ein Versuch, die Reihen hinter ihm zu schließen, mit einem noch extremeren christlichen Nationalismus?

Die Antwort findet man wie immer in den USA auf offener Bühne, bei Charlie Kirks Beerdigungsshow in Arizona. Hier demonstrierten Trump, Vance und – ja, er ist wieder zurück – Elon Musk eine neue kampfbereite Einheit. Und siehe da, Musks Incels feiern das auf X als ihren Erfolg. Alle anderen spekulieren weiter. Die große Charlie-Kirk-Verschwörung ist gelungen.