USA | Die Letzte, die nicht aufgibt: Sara Paretskys Thriller „Wunder Punkt“
Da ein vorheriger Auftrag in einem Blutbad endete, ist V. I. Warshawski, Privatdetektivin in Chicago, aus der Bahn geworfen. Sie macht sich Vorwürfe und hat Albträume aufgrund ihrer Schuldgefühle. Nur weil Bernie – Bernadine, sozusagen Warshawskis Patentochter – sie aufmuntern möchte und nicht lockerlässt, begleitet die Privatermittlerin die junge Frau und deren WG-Mitbewohnerinnen, allesamt Sportstudentinnen, nach Lawrence in Kansas.
Hier soll eine von ihnen ein wichtiges Basketballspiel bestreiten. Am nächsten Morgen ist eine der Studentinnen verschwunden. Bernie drängt so lange, bis Warshawski widerstrebend nachgibt und sich auf die Suche macht. Schon recht bald kann sie die junge Frau aufspüren in einem heruntergekommenen Haus, das für Drogenpartys genutzt wird. Doch nicht nur das: Im Keller des Hauses findet die Privatermittlerin die Leiche einer toten Hobbyhistorikerin.
Prompt gerät sie unter Verdacht: Hat sie die junge Sportlerin mit Drogen vollgepumpt und die andere Frau ermordet? Nun muss sie sich gegen das FBI, die örtliche Polizei, aber auch gegen eine Millionärsfamilie und gelackte Schnösel aus einer Studentenverbindung behaupten. Beim Versuch, ihre Unschuld zu beweisen, gräbt Warshawski tief in der Vergangenheit der toten Historikerin – und gerät auf gefährliches Terrain: Geht es um Lebenslügen? Um Geschichtsklitterung und ein geschöntes Bild der Gründungsjahre von Kansas – oder um handfeste wirtschaftliche Interessen und Drogendelikte?
Die Heldin ist draufgängerisch und hartnäckig
Zum 22. Mal schickt die 1947 in Ames im Bundesstaat Iowa geborene Sara Paretsky ihre toughe Detektivin los, um gegen alle Widerstände für Gerechtigkeit zu sorgen. Ihren ersten Auftritt hatte Victoria Iphigenia – kurz V. I. – Warshawski 1982 in dem Buch Indemnity Only (es erschien vier Jahre später auf Deutsch mit dem Titel Schadenersatz). Sie ist angelegt als Gegenentwurf zu den bis dahin gängigen Klischees von Frauen in Kriminalromanen: Weder ist sie eine Femme fatale oder ein Gold Digger, wie viele Frauenfiguren in den Hardboiled-Krimis seit den Dreißigerjahren, noch ist sie eine „alte Jungfer“ aus dem Cozy-Crime-Umfeld.
Sie ist draufgängerisch und hartnäckig, sie verbeißt sich in ihre Fälle und hat kein Problem damit, die Nerven anderer gehörig zu strapazieren, wenn sie einem Verbrechen auf den Grund geht. Als Privatermittlerin ist sie unabhängig und in kritischer Distanz zu staatlichen Strafbehörden (mit denen sie regelmäßig aneinandergerät) und positioniert sich mit Vorliebe aufseiten der Unterdrückten und Ausgegrenzten – aber dies nicht naiv und kritiklos, wie im aktuellen Roman wieder deutlich wird.
Warshawski löst ihre Fälle nicht mit Intuition und feinsinniger Beobachtung wie die „Spinsters“ des „Golden Age of Crime“. Anders als Miss Marple zieht Warshawski durch die „mean streets“ US-amerikanischer Groß- und Kleinstädte, knackt Türschlösser und Passwörter, um an Informationen und versteckte Wahrheiten zu kommen. Die Romane von Sara Paretsky sind eindeutig der Hardboiled-Tradition verpflichtet. Wie Dashiell Hammetts Sam Spade oder Raymond Chandlers Philip Marlowe teilt auch V. I. Warshawski kräftig aus: Sie scheut nicht vor körperlichen Auseinandersetzungen zurück, muss dabei viel einstecken, schlägt aber auch ordentlich zu. Und wie ihre männlichen Vorläufer hat sie stets einen coolen Spruch auf den Lippen – die Krimis von Sara Paretsky haben einen herrlich trockenen und oft giftig treffenden Humor.
Sara Paretsky schreibt mit feministischem Anspruch
Doch anders als jene „private investigators“ steht Warshawski nicht unverbunden im Leben – ganz im Gegenteil. Während sich jene erdrückt von der Last der Welt allein in ihr Büro mit einer Flasche Whisky zurückziehen, holt sich Warshawski Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld. Denn im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen kann Warshawski stabile Beziehungen eingehen: Enge Verwandtschaftsbindungen, langjährige Freundschaften und tiefe Liebesbeziehungen begleiten sie. Warshawski kann um Hilfe bitten und sie annehmen – das macht sie nicht immer gern, aber sie weiß, wo ihre Grenzen liegen und wann sie den Beistand anderer braucht.
Zusammen mit Krimiautorinnen wie der Engländerin Liza Cody und der Amerikanerin Sue Grafton gehört Sara Paretsky zu den Pionierinnen des Hardboiled-Krimis mit weiblichen „private investigators“, die in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts begannen, die Krimilandschaft zu erobern.Diese waren nicht einfach als feminine Abziehfiguren ihrer männlichen Kollegen gedacht, sondern traten von Anfang an mit einem dezidiert feministischen Anspruch auf.
Es ging nicht darum, die hartgesottenen Ermittler zu imitieren; vielmehr versuchten gerade die frühen Autorinnen die Spielregeln zu ändern: Vielfältigere Plots und vielschichtigere Figuren bestimmten die Romane, die gesellschaftspolitisch eindeutig Position bezogen und versuchten, für sich und ihre Leserinnen mehr Handlungsspielraum zu erringen, ohne Realitäten zu leugnen.
Von Selbstzweifeln regelrecht gelähmt
So ist auch Warshawski keine Superheldin, sondern eine Frau mit Ecken und Kanten, mit sehr sympathischen Zügen und auch eine Nervensäge, zutiefst menschlich – und eigentlich immer voller Energie. Sie ist in den vorherigen Romanen stets diejenige, die den Mut nicht verliert und nach Lösungen sucht, wenn andere schon längst resigniert haben.
Darum markiert der Anfang von Wunder Punkt einen starken Einschnitt. Dass die Figur, die sich sonst mit aller Kraft für Gerechtigkeit einsetzt, zunächst aufgrund von Selbstzweifeln regelrecht gelähmt wird, ist frappant. Ursache dafür ist, wie schon erwähnt, ein früherer Fall, ein Hassverbrechen: Auf Bitten ihres Lebensgefährten Peter, ein Professor für Archäologie, hatte Warshawski eine seiner Studentinnen aufgespürt, eine junge Transfrau, die sich vor ihren Eltern verborgen hielt.
Obwohl Warshawski deren Aufenthaltsort nicht preisgegeben hatte, konnten die Eltern das Versteck herausfinden. Die Ermittlerin kam zu spät, um zu verhindern, dass der Vater das eigene Kind erschoss, weil er nicht damit zurechtkam, dass es sich als Frau und nicht als Mann fühlte. Dies kann Warshawski sich nicht vergeben. Auch ihr Lebenspartner schreibt ihr die Schuld am Tod der Studentin zu und hat sich von ihr abgewendet.
Das Buch zeigt ein gespaltenes Amerika
Dieser Fall zeigt die Verfasstheit der heutigen Gesellschaft der Vereinigten Staaten – zutiefst gespalten, die Menschen auf der einen Seite des Grabens erfüllt von Hass auf Andersdenkende, auf alternative Lebensentwürfe. Warshawskis Selbstzermürbung lässt sich auch lesen als Hilflosigkeit der Menschen auf der anderen Seite, als Ohnmacht der liberalen Anteile der US-Gesellschaft: Wie umgehen mit Hass, mit patriarchalem Backlash, mit rechtsextremen Auswüchsen in Gesellschaft wie in der amerikanischen Regierung?
Sara Paretskys Kriminalromane zeichnet aus, dass sie stets aktuelle Probleme in Politik, Wirtschaft wie Gesellschaft der Vereinigten Staaten aufgreifen – unaufdringlich und nicht moralisierend. Nicht aufgesetzt, sondern einfach durch das Schildern von unterschiedlichen Lebensumständen und Biografien, durch die Ermittlungen in Verbrechen und indem Warshawski Finger auf wunde Punkte legt, werden Abgründe und Grauzonen sichtbar.
So geht es im aktuellen Roman neben dem Hass auf alles Woke um die Opioid-Krise, die auch die bürgerlichen Schichten der Vereinigten Staaten erschüttert, um den Umgang mit Afghanistan-Veteranen, die von Regierung und Gesellschaft alleingelassen werden, um die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, aber auch um illegale Landnahme und Rassismus. Und auch um Beschönigung der Vergangenheit des US-Bundesstaates Kansas.
Zwischen 1855 und 1859 kam es im Kansas-Territorium, dem Vorläufer des Bundesstaates, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Frage, ob Kansas als „Free State“, also als sklavereifreier Staat, der Union beitreten oder sich den die Sklaverei befürwortenden Staaten des Südens anschließen solle. Entschieden wurde dieser Konflikt im Jahr 1861 durch die Verabschiedung einer Verfassung, die sich gegen die Sklaverei aussprach, und die anschließende Anerkennung als 34. Staat der Vereinigten Staaten von Amerika. Entgegen dem Selbstverständnis als vorurteilsfreie Gesellschaft, die sich gegen die Sklaverei aufgelehnt hat, gab es jedoch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein einen nur halbherzig verdeckten strukturellen Rassismus.
Ein Leben für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung
Eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen spielte die Stadt Lawrence. Sara Paretsky ist dort aufgewachsen und hat dort studiert. Wie sie im Nachwort zu Wunder Punkt schreibt, wurde ihr erst vor wenigen Jahren bewusst, wie lange noch in Lawrence Rassentrennung herrschte und dass es Immobilienabsprachen gab, die regelten, wo Schwarze, Indigene und Menschen jüdischen Glaubens leben durften – sodass der gesellschaftliche Stolz auf die Sklavereigegnerschaft letztlich nicht begründbar ist. Die Recherchen zu ihrem Roman wurden für Sara Paretsky zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der der Stadt. Es spricht für die Autorin, dass sie eine kritische Distanz wahrt, sorgfältig mit den komplexen historischen Zusammenhängen umgeht und daraus einen spannenden, durchdacht konstruierten Plot formt.
V. I. Warshawski ist bei ihren Ermittlungen konfrontiert mit Menschen, die überzeugt sind, aufgrund ihres gesellschaftlichen Engagements anderen moralisch überlegen zu sein oder dank ihres Reichtums über dem Gesetz zu stehen. Sie muss sich mit Gesetzeshütern herumschlagen, die mehr daran interessiert scheinen, Verbrechen zu decken als sie aufzuklären.
All diese Auseinandersetzungen bringen sie dazu, nach und nach ins Leben zurückzufinden. Zum Glück hat sie die Konstitution dafür. Wie Sara Paretsky auf ihrer Lesereise durch Deutschland in diesem Oktober bei einer Veranstaltung in Hamburg scherzte, ist Warshawski wesentlich besser gealtert als sie selbst. Beide seien 1982 im gleichen Alter gestartet, doch während sie nun 78 Jahre zählt, ist Warshawski gerade mal 50 Jahre alt und damit fit genug für die Kämpfe, die ein Leben für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung mit sich bringt.
Sara Paretsky bekräftigte: Solange sie schreiben könne, werde es Kriminalromane mit V. I. Warshawski geben. Das ist tröstlich. Denn in Zeiten, in denen Vielfalt und demokratische Grundsätze bedroht sind, sind unbeugsame Menschen wie V. I. Warshawski – egal ob fiktiv oder real – dringend notwendig.
Wunder Punkt Sara Paretsky Else Laudan (Übers.), Ariadne im Argument-Verlag 2025, 498 S., 25 €