USA | ATACMS-Raketen aufwärts Russland: Biden schafft vor Trump schnell Fakten, ohne jede Strategie


Bis zu 300 Kilometer Reichweite, wie die entsprechenden US-Waffensysteme: Britischer Storm-Shadow-Marschflugkörper

Foto: MBDA/Abacapress/Imago


Die Ukraine hat mit ersten US-Raketen russisches Gebiet angegriffen. Der Entschluss der US-Regierung, Kiew den Einsatz von weitreichenden Raketensystemen gegen Russland zu erlauben, gilt vornehmlich für den Raum Kursk


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Nun also doch. Auf den letzten Metern fasst die abgewählte Biden-Regierung einen womöglich folgenschweren Entschluss. Die Ukraine darf weitreichende US-Raketen abschießen, um Ziele in Russland zu treffen. Die erteilte Einsatzerlaubnis soll der von ukrainischen Truppen teilweise besetzten Region Kursk gelten, könnte aber auch darüber hinausgehen. Wolodymyr Selenskyjs Regierung will sie trotz hoher Verluste halten, um ein Faustpfand für Verhandlungen mit Russland zu haben. Die US-Entscheidung wird damit begründet, dass Moskau durch die Stationierung Tausender nordkoreanischer Soldaten eskaliere. Dem müsse man entgegentreten.

Inzwischen vermeldeten russische Nachrichtenagenturen bereits einen ukrainischen Beschuss mit sechs US-amerikanischen ATACMS-Raketen in der Region Brjansk in der Nacht auf Dienstag. Fünf der Raketen seien abgefangen worden, Trümmer einer Rakete seien auf eine Militäranlage gefallen und hätten einen Brand verursacht. Das ukrainische Militär hatte zuvor mitgeteilt, es habe in der Nacht ein Waffenlager in der Oblast Brjansk in der Nähe der Stadt Karatschew angegriffen.

Deutsche Falken fordern Tauraus-Lieferung an Kiew

Die USA haben ab Herbst 2023 ihre ATACMS samt Trägersystemen in mehreren Tranchen geliefert. Sie gehören nun zum ukrainischen Arsenal wie britische Storm-Shadow- und französische SCALP-Raketen, die – von Flugzeugen abgefeuert – mit bis zu 300 Kilometern eine ähnliche Reichweite haben wie die US-Systeme. Mit diesen wirksamen, schwer abzufangenden Geschossen lassen sich feindliche Verbände und militärische Infrastruktur hinter der Front effektiv bekämpfen – je nach Bewaffnung auch mit Streumunition zum großflächigen Angriff auf Truppenteile.

Selbst wenn die US-Raketen der Ukraine nur in begrenzter Stückzahl zur Verfügung stehen, kann das die russische Kriegsführung beeinträchtigen. Militärisch wäre das zwar kein Game Changer, aber es dürfte Russland Schaden zufügen. Die Falken-Fraktion in Deutschland applaudiert und fordert die Bundesregierung auf, ihrerseits Taurus-Raketen an Kiew zu schicken. Schließlich sei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) immer im Gleichschritt mit Biden marschiert. An der strategischen Lage der Ukraine ändert dies absehbar nichts. Russland wird weder damit aufhören, die ukrainische Energie-Infrastruktur massiv anzugreifen und Städte zu bombardieren, noch davon abgehalten werden, an der Donbass-Front weiter vorzurücken oder die Rückeroberung der Region Kursk voranzutreiben. Dazu wäre entschieden mehr Diplomatie notwendig.

Nach Olaf Scholz‘ Telefonat mit Wladimir Putin

Das viel kritisierte Telefonat von Scholz mit Wladimir Putin vor Tagen hat wohl ebenjenem Zweck gedient. In der Bewertung beider Vorgänge gibt es die alten argumentativen Muster: Mehr Waffen wären für Kiews Verhandlungsposition von Vorteil, so das vorherrschende westliche Lager. Damit werde nur ein für die Ukraine nicht zu gewinnender Abnutzungskrieg verlängert, so die Minderheitenposition. Der Umfang der NATO-Hilfen bei der Ausbildung und Ausrüstung ukrainischer Soldaten wie auch die massive Assistenz bei der Aufklärung führen bisher nicht dazu, dass Moskau von seinen Zielen ablässt. Vielmehr sucht auch Russland Unterstützung von außen – und findet sie. Nordkorea ist dafür ein Beispiel. Nicht zuletzt China würde eine russische Niederlage (nach der es aktuell aber keineswegs aussieht) vermutlich zu verhindern suchen. Dies alles befördert keine Deeskalation.

Es ist wahrlich paradox: Diejenigen, die permanent eine unrealistische und falsche Politik befördert haben, beklagen nun, dass ihr Weg keinen Erfolg hat, und verlangen – more of the same. Bidens Last-Minute-Entscheidung ist der Versuch, noch vor der Amtsübergabe an Donald Trump Fakten zu schaffen. Mit Strategie hat das wenig zu tun. Zugleich erklärt Wolodymyr Selenskyj, der Anruf von Scholz bei Putin öffne die Büchse der Pandora. Sollten ernsthafte Gespräche in Aussicht stehen, die vielleicht zu einem Waffenstillstand führen, wäre der Ukraine viel geholfen. Nur ist dazu Staatskunst statt Raketendiplomatie gefragt.

Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg und seit Mai 2024 Präses des Wissenschaftlichen Forums Internationale Sicherheit.