US-Journalismus: Wie sie versagt nach sich ziehen

Jeff Jarvis ist Journalist, Autor und Medienexperte. Er lehrt Journalismus an der City University of New York und bloggt auf buzzmachine.com. Dieser Text ist zuerst in englischer Sprache bei Medium.com erschienen.

Es ist, als ob die Redaktion der Washington Post
eines Morgens aufgewacht wäre und mit Überschriften, die ich weiter unten zitieren werde, sich selbst gefragt hätte: „Was machen wir falsch?“

Diese Frage möchte ich gerne auch der New York Times, CNN und dem Rest des etablierten Journalismus als Erstes beantworten: Ihr habt euch geweigert, den Faschismus als solchen zu erkennen, der vor der Tür steht. Ihr beharrt darauf, über Autoritarismus zu berichten, als sei er
lediglich eine weitere Strömung in einer immer noch symmetrischen
US-amerikanischen Politik.

Ihr lest keine Geschichtsbücher. Lest um Himmels willen noch
einmal oder überhaupt Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus
(oder hört euch
wenigstens den Podcast an). Ihr versäumt es, die Geschichte heranzuziehen, um eurer Leserschaft den Kontext des Geschehens zu erklären – weil ihr
allzu gerne glauben wollt, dass ihr den „ersten Entwurf der Geschichtsschreibung“ verfasst (wie es in journalistischen Selbstbeschreibungen immer wieder heißt). Was für eine Hybris.

Ihr glaubt, dass unser wahres Problem in
Desinformation besteht, und dass ihr, da ihr im Informationsgeschäft tätig
seid, die Lösung dafür sein müsst. Arendt zeigte uns hingegen, dass die „Grunderfahrung
menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert
wird“, die „Erfahrung der Verlassenheit“ ist – wenn „ein Mensch aus dieser Welt
hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen
diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht“. Nicht von der
„Einsamkeitsepidemie“ ist da die Rede, über die ihr und der surgeon general, der oberste Wächter über Gesundheitsfragen in den USA, so gerne schwadroniert – von Incels, die keine Sexpartnerinnen finden. Arendt
sprach vielmehr davon, dass Menschen durch unbegründete Ängste von ihren
Gemeinschaften isoliert werden, sodass sie anfällig für die Sirenengesänge rassistischen Hasses werden. Der zeigt sich im Springfield-Verschwörungsmythos.

Ihr Journalistinnen und Journalisten lasst euch von unheilvollen Kräften dazu
instrumentalisieren, deren Fanatismus und Zorn zu verbreiten, den ihr mit eurer Schönrednerei und eurer Verständnishuberei abmildert und
normalisiert. Ihr erklärt eurer Leserschaft das Phänomen der Ritualmordlegende nicht. Weil ihr es selbst nicht erkennt?

Mit eurer Berichterstattung salutiert ihr vor ihnen

Ihr zitiert die vergifteten Worte dieser Leute und nehmt sie für bare Münze
– als Überzeugungen, als „alternative Fakten“ –, weil ihr nicht sehen wollt,
dass sie solche Dinge tatsächlich sagen, um ihre Zugehörigkeit zur Sekte
und Bewegung von Donald Trump zu signalisieren. Die Ruf-Antwort-Nummer von Trump/Vance und ihrem
Mob ist der Loyalitätstest einer autoritären Herrschaft. Arendt beobachtete an
Nazi-Deutschland und der Sowjetunion das „ganz unerwartete Phänomen eines
radikalen Selbstverlusts, diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit,
mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen
Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten
Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen
Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden
Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen
konnten“. Die gegenwärtigen US-Debatten um das Recht, Schusswaffen tragen oder Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen zu dürfen, um Immigration und die Rechte von Trans*-Menschen spielen im
Alltag der Leute, die sich darüber erregen, gar keine Rolle; es sind bloß Fähnchen, mit denen sie herumwedeln. Mit eurer Berichterstattung salutiert ihr
vor ihnen.

Ihr versteckt euch hinter eurem hilflosen Versuch, diesen Leuten mit Fact-Checking auf die Schliche zu kommen,
und seht nie – obwohl ihr oft davor gewarnt wurdet –, dass ihr deren Lügen mit
eurer Methode der Entlarvung nur immer weiter verbreitet; und dass ihr mit eurer
pedantischen Krittelei der anderen Seite in eurer irregeleiteten Suche nach
Ausgewogenheit tatsächlich einen falschen Eindruck von Gleichwertigkeit erzeugt. So nutzen sie euch aus.

Ihr belügt somit euch selbst und die Öffentlichkeit, der ihr
dient. Weil ihr euch weigert, Lügen auch wirklich Lügen zu nennen, Rassismus Rassismus,
Frauenfeindlichkeit Frauenfeindlichkeit, Autoritarismus Autoritarismus und
Faschismus Faschismus.