„Unsere Fremden“ von Lydia Davis: Sätze schreiben, Texte ernten

Guter Anfang: Lydia Davis schreibt vor dem Interviewtermin,
dass sie gar nichts dagegen habe, wenn uns die Videoplattform nach 45 Minuten
rausschmeißen und das Gespräch beenden würde. Sie sei dann sowieso leer geredet.
Aber, wenn es sein müsse, wäre ein Anschlusstermin mit noch einer
Dreiviertelstunde in Ordnung. Vielleicht ist das ein wenig weit vorgegriffen,
aber es scheint doch zu passen: Wenn man aus Lydia Davis’ literarischer
Arbeit zwei wesentliche Eigenschaften destillieren wollte, wären das wohl ihre
Fähigkeit zur radikalen Verknappung und ihre große Geduld.

Lydia Davis, geboren 1947 in Massachusetts, schreibt
Kurzgeschichten, die wie karge Aussaaten inmitten weitflächiger Auslassungen
wirken. Gedankensplitter, Situationen mit kuriosen Wendungen sind es, immer
wieder legen sie sich wie Gedichte oder als Listen über die Buchseite. Vor dem
Gespräch hatte sie mit der Zusage gezögert, das Wort cringy, peinlich oder beschämend, aus einer Mail vorab als Beispiel für eines der vielen Gefühle,
die ihre Texte hervorrufen würden, schmeckte ihr nicht.

Aber dann schaut aus ihrem Arbeitszimmer eine milde
amüsierte Frau in die Videokamera, die Katze huscht ab und an durch den
Hintergrund und über ein antik-frugales Holzmöbel. Davis wird Begriffe
vorschlagen, die weniger kräftige Reaktionen auf ihre Prosawelt als das Gefühl von Fremdscham bedeuten. Unbehagen zum Beispiel. Und die Frage, ob sie Schattierungen
der sozialen Überempfindlichkeit in den USA erkunde, ach nein, das sei doch zu
weit gedacht.

Gegenwärtige Formen des Unbehagens

Lydia Davis ist einerseits eine preisgekrönte Übersetzerin,
unter anderem von Marcel Proust und Gustave Flaubert – von Männern mit Drang
zum breiten Epos also, denen man sich geduldig zuwenden muss. Dazu gesellen
sich auch deutlich politischere Autoren wie Pierre Jean Jouve und Maurice
Blanchot. Andererseits veröffentlicht sie seit gut 45 Jahren Kurzprosa, ebenfalls
preisgekrönt, die so knapp daherkommt, dass manchmal der Titel länger als die
Geschichte selbst ist: In der gerade erschienen Sammlung Unsere Fremden
trägt einer jener literarischen Splitter die Überschrift Reife Frau gegen
Ende einer Diskussion über Regenmäntel beim Mittagessen mit einer anderen
reifen Frau
. Die Geschichte selbst geht so:

„Sie sagt in einem vernünftigen Ton,
‚Es muss ja nicht unbedingt ein Burberry sein!'“

Wenn man Lydia Davis’ Literatur untersucht, muss man den Spuren der
Kleinigkeiten hinterherspüren, die all dem Mitgemeinten einen Resonanzraum
verleihen. Oder Projektionen der Lesenden entstammen: Da ist im Titel also die bereits
ruhigere, saturierte Lebenssituation der Damen markiert, die bei Anschaffungen wohl
ein anderes Zeitfenster als die kurzatmigen Rhythmen der Mode bedenken – ein Mantel
soll mehr als nur einem Bild entsprechen, auf verschiedene Jahreszeiten passen,
etliche Umstände aushalten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat die längliche
Beratung über das Mahl einige zusammengetragen. Dagegen steht vielleicht der
Anschaffungspreis, für den man bei einer anderen Marke nicht nur ein
Kleidungsstück bekäme, sondern noch Geld übrig hätte, um fürs Wochenende ein Cottage
in der Herbstlandschaft zu buchen, durch die man den Mantel dann tragen könnte.
So gesehen wäre eine andere Entscheidung vernünftig, aber, tja, verrät uns die Betonung,
die Würfel sind längst gefallen: Zwingend ist es nicht, aber doch, Burberry wird
es werden. Davis spielt Themen an, das Drama, die Verästelungen, all die Farben
der Geschichten spielen in uns, den Lesenden.

Auch gegenwärtige Formen von Empfindlichkeit und Unbehagen, die
kleinen Probleme des Lebens, sickern in die kurzen Stücke: In einem
Boomer-Brief mit Verbesserungsvorschlägen an Liebes Team von Who Gives a
Crap
 bemängelt jemand „eine Haltung brutaler Gleichgültigkeit“,
die „in der heutigen Zeit nur allzu verbreitet ist“. Der Brief
an den U.S. Postal Service betreffend ein Poster
 bemängelt die Diskrepanz
zwischen überfreundlicher, gegen allerlei Probleme sehr aufgeschlossener
Unternehmens-PR und dem Umstand, dass dasselbe Unternehmen übergroße Pakete mit
Styroporchips auffüllt. Die könne man aus Umweltgründen nicht einfach wegwerfen,
und sie machten auch sonst nur Ärger. Die Jacques-Tati-Szenen, die dann vor dem
inneren Auge der Lesenden ablaufen, entstehen aus einer händeringenden Beschreibung:
„Ich vermute, es ist statische Elektrizität, durch die die Chips an meinen
Händen, Haaren und sonst auch allem anderen kleben bleiben, sodass es schwierig
ist, sie abzusammeln, und weil sie so gut wie nichts wiegen, ist es noch
schwieriger, sie in den Plastiksack reinzuschütteln.“

In etwa so kursorisch, wie ihre Geschichten auftreten, lässt Lydia Davis einen in die Umstände hineinschauen, unter denen sie entstehen: Etwas Gelassenes
und zugleich Willkürliches hafte dem Ganzen an, sie schreibe eben Kurzgeschichten, sammele diese in einem Ordner. Zeit vergehe. Dann schaue sie nach, mal sehen, ob es genug sind. Und weil sie in den letzten Jahren mit Übersetzungen und zwei Essaybänden zu tun hatte, sei eben viel Zeit vergangen, es hätte sich einiges angesammelt. Dann setze sie sich noch an die Geschichten, die
sie nur angedacht, angefangen, nicht durchgearbeitet hatte. Sanftes Lächeln: „Es
fühlt sich dann so an, als käme der Herbst und man erntet.“