Union: Still und starr ruht die Union
Es ist im Augenblick nicht ganz einfach, die ehrliche Gemütslage der CDU zu lesen: Weil unklar ist, wo Loyalität und Gehorsam enden, wo Angst beginnt, wo nur alte Ablehnung gärt und wer was aus Überzeugung mitträgt. Still und starr ruht die Union. Nur so viel: Am Tag nachdem die Union sich ihre Mehrheit erstmals von der AfD beschaffen ließ, wagt sich allein eine einzige Kritikerin von Friedrich Merz laut und deutlich nach vorn.
Am Mittwoch hatte die Unionsfraktion auf Betreiben ihres Kanzlerkandidaten einen Antrag in den Bundestag eingebracht – einen Fünf-Punkte-Plan für weniger irreguläre Migration. Der kam durch, weil neben der FDP auch die AfD dafür stimmte. Neutral gesprochen: ein Novum. Mindestens eine Zäsur. SPD und Grüne empören sich: ein Dammbruch.
Jetzt schaltet sich die Altkanzlerin ein. Sie halte es für „falsch“, (…) „sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen“, schreibt Angela Merkel auf ihrer Homepage. Sie erinnert Merz an sein Versprechen, das er noch im November gegeben hatte, nach dem Auseinanderbrechen der Ampelkoalition: keine rechten Mehrheiten anzustreben.
Stattdessen sei es erforderlich, „dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können“. Jubel für so viel prominente Unterstützung im Wahlkampf kommt von SPD und Grünen, das Konrad-Adenauer-Haus winkt ab: kein Kommentar.
Kaum jemand will als illoyal gelten
Aber auch in der Merz-CDU scheint es zu rumoren. Unnötig sei die Partei jetzt in der Defensive, ist aus CDU-Kreisen zu hören. Hinter den Kulissen sei die Stimmung nach dem Votum im Bundestag explosiv. Von einem Tiefpunkt ist die Rede. Nach Daniel Günther, dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, gibt es nun aber noch einen zweiten prominenten CDU-Amtsinhaber, der seinem Parteichef öffentlich die Gefolgschaft verweigert. Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister von Berlin, hat bei einer Senatsdebatte am Donnerstag angekündigt, dem sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz, das Merz am Freitag zur Abstimmung bringen will, im Bundesrat nicht mittragen zu wollen. Auch hier hat die AfD angekündigt, Merz‘ Vorhaben mit ihren Stimmen zum Erfolg zu verhelfen. Das wäre dann das zweite Mal binnen drei Tagen. Im Bundestag droht erneut Tumult.
Dennoch: Leute wie Wegner und Günther sind derzeit eine Minderheit. Das breite öffentliche Stimmungsbild in der CDU ist ein ganz anderes. Wohl auch deshalb, weil kurz vor der Wahl kaum jemand als illoyal gelten will. Aber auch in den nicht öffentlichen Runden der innerparteilichen Demokratie, im Präsidium, im Vorstand, in der Fraktionsführung und auch in der Bundestagsfraktion gab es zuletzt vor allem breite Unterstützung für Merz und seinen Kurs. Wie steht die CDU wirklich zu dem hochriskanten Kurs ihres Vorsitzenden? Kaum zu entziffern.
187 Abgeordnete der Union sind am Mittwoch Merz gefolgt. Eine Gegenstimme kam aus den eigenen Reihen – acht Abgeordnete gaben ihre Stimme nicht ab. Die meisten von ihnen Frauen, Relikte der Kanzlerinnenära, die kein neues Bundestagsmandat anstreben. Unter ihnen etwa der Abgeordnete Marco Wanderwitz, der zu den führenden Köpfen gehört hinter einem Gruppenantrag zum AfD-Verbotsverfahren, der derzeit im Bundestag beraten wird, sowie seine Frau Yvonne Magwas. Beide wollen nicht erneut für den Bundestag kandidieren.
Das seien „Frauen aus einer Zeit, die jetzt ende“, sagt eine Person aus der Parteiführung. Respekt für die Haltung. Aber wenn die Union das Migrationsproblem nicht in den Griff bekomme, verlöre man das Land an die AfD.
Auf X meldet sich etwa der Gesundheitspolitiker Sepp Müller zu Wort. Er sei „Mekelianer“, habe noch immer ein Bild der Kanzlerin im Büro. „Ich stehe zu 1000% hinter dem Kurs von Friedrich Merz.“ Andere Parteifreunde äußern sich ähnlich zum Statement der Kanzlerin a. D.
Müller stammt aus Sachsen-Anhalt, wo viele Christdemokraten einer überstarken AfD gegenüberstehen – und wo die CDU bei den vergangenen Landtagswahlen auch deshalb punkten konnte, weil sie sich glaubhaft von der AfD abhob.
Im Osten nehme er dennoch „durchweg Unterstützung“ für Merz wahr, meint ein Christdemokrat aus Brandenburg, der sich ebenfalls eher dem liberalen Lager zurechnet. Eigene Positionen zurückziehen aus Angst vor der AfD? Keine Option! Von „Hochverrat“ spricht gar eine Parteifreundin aus demselben Landesverband – sie meint Merkel, nicht Merz. Die Kanzlerin habe große Verdienste, solle sich aber nicht aus persönlichen Animositäten gegen Merz in den Wahlkampf einmischen. Wenn die CDU beim Thema Einwanderung kleinbei gebe, brauche man sich im Osten gar nicht mehr blicken lassen, glaubt sie.
Urteil über Merz erst nach der Wahl
Tatsächlich führte Merz‘ Antrag im Bundestag thematisch mitten hinein in die Ära Merkel und in einen Streit, der die Union seit gut zehn Jahren aufwühlt: Die Union will Schutzsuchende an der Grenze abweisen. Derzeit werden die Außengrenzen zwar kontrolliert, sobald Migranten ohne Papiere aber um Asyl bitten, muss dieses Gesuch geprüft werden. Jahrelang hatte Merkel vor allem mit der Schwesterpartei CSU genau um diesen Punkt gerungen. Als Ministerpräsident, später als Bundesinnenminister, trieb Horst Seehofer den Streit bis zum Äußersten, ließ es sogar auf einen Bruch der Fraktionsgemeinschaft der beiden C-Parteien ankommen.
Es war nicht Merz‘ einsamer Entschluss, nun eine Kehrtwende einzuleiten. Der Antrag, den die Union im Bundestag einbrachte, ist gedeckt vom neuen Grundsatzprogramm der CDU, demnach Asylzuwanderung nur noch in Drittstaaten und über Kontingente möglich sein soll – und das Programm hat ein Parteitag beschlossen, nicht Merz allein durchgeprügelt.
Am Ende zählt in der Politik: Recht hat, wer Erfolg hat. Ihr Urteil über Merz wird die Partei also wohl erst Ende Februar fällen.