Umweltthriller „Verschollen“: Bäume pflanzen, damit die Savanne stirbt

Zur Verabschiedung seines Vaters Klemens Stadler (Axel Milberg) wird Jan (Max Hubacher) nicht kommen. Dass die beiden sich voneinander entfremdet haben, liegt nicht nur daran, dass Klemens früher eine Affäre hatte, die sein Sohn ihm nicht verzeiht. Auch den Ingenieursberuf des Vaters sieht er kritisch. Wo Klemens schließlich seine Schwiegertochter Eva (Elisa Schlott) stolz durch das Großprojekt führt und von der Kunst am Bau schwärmt („350 Tonnen Stahl für 27 Lichtbäume, zehn Lebensjahre“, gemacht für „die Ewigkeit“), bevor seine Party zum Renteneintritt startet, bricht Jan überstürzt nach Brasilien auf. „Ach, mal wieder den Amazonas retten“, meint Klemens.

Von seinem Sohn fehlt jede Spur

Immerhin ist er selbst zur kirchlichen Taufe der Enkelin gereist, aufs Land, wo Jan mit Familie bewusst inmitten intakter gesellschaftlicher Strukturen lebt. Klemens irrt. Sein Sohn beschäftigt sich gerade nicht mit der Rettung des Amazonas-Regenwaldes, sondern mit dem anderen wichtigen Naturgebiet Brasiliens, der Cerrado-Savanne. Noch hat der Vater nicht die leiseste Ahnung, worum es hier geht und wie bedrohlich sich der Umweltprojekt-Zertifiziererjob für seinen Sohn noch gestaltet, aber das wird sich für ihn und die Zuschauer schnell ändern im neuen Thriller von Daniel Harrich (Regie und Buch). Für den Hauptdarsteller Axel Milberg mit leicht zerzaustem Pensionärsvollbart geht es zackig in medias res und auf eine finstere Recherchereise in die Abgründe weltpolitisch gewollter Aufforstungsprojekte und verbrecherischer Auswirkungen des Missbrauchs des CO2-Zertifikatehandels in Brasilien.

Von Jan fehlt plötzlich jede Spur. In der Nacht zuvor hat er noch eine E-Mail abgesetzt. Die Umwelt-Zertifizierung für das von den Vereinten Nationen, der Weltbank und verschiedenen Regierungen massiv geförderte Projekt „Tree Planet“ könne er nicht erteilen. Ein Mann allein gegen die Mächtigen. Da Jan verschwunden bleibt, reist sein Vater nach Brasilien, um ihn zu suchen. Als Ingenieur ist Klemens ein nüchterner Mensch. Die Mauer des Schweigens vor Ort baut er Stein für Stein ab. Noch in Deutschland hat er mit Jans Mentorin bei der Weltbank, Diana Creutz (Julia Koschitz), ein interessantes Gespräch zum brasilianischen Aufforstungsprojekt und zu den diplomatischen Herausforderungen solcher Naturschutzmethoden in Ländern des globalen Südens geführt. Jeden Anschein von Neokolonialismus gelte es zu vermeiden, meint diese.

Gewaltsame Vertreibung und Mord

Dass aber Neokolonialismus die Haltung gegenüber den indigenen Bewohnern der betroffenen Gebiete bestens beschreibt, wird Klemens herausfinden, und dass sie auch gewaltsame Vertreibung, gar Mord einschließt. Dass dies die Grundlage international vermeldeter Erfolgserlebnisse im „Kampf gegen die Klimakrise“ bildet, schockiert nicht nur den Reisenden auf der Suche nach seinem Sohn und der Wahrheit.

Harrichs Spielfilm, dem eine Doku mit seinen Rechercheergebnissen folgt, wirkt wie ein Beitrag zum gerade in Brasilien stattfindenden Klimagipfel COP30, bei dem die USA durch Abwesenheit glänzen. Zehn Jahre nach dem Pariser Klimaschutzabkommen, das als Meilenstein gilt, scheint das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, in die Ferne gerückt. Dass der Preis von Klimaschutzprojekten zu hoch sein kann, vor allem sobald auf dem Papier gut aussehende Maßnahmen auf ausbeuterische Geschäftspraktiken von Konzernen treffen, zeigt Harrichs Film deutlich. Wie in früheren seiner Filme, etwa zu illegalen deutschen Waffenexporten nach Mexiko („Meister des Todes“) oder zu Problemen der Privatisierung der Wasserversorgung hierzulande („Bis zum letzten Tropfen“), erwarte man keine besonderen ästhetisch-filmischen Absichten. Die Meriten liegen hier anderswo. Fiktion ist für Harrich ein Vehikel, seine Recherche zu präsentieren, seine Absicht ist es, deutlich zu sein und aufzuklären. Das Ziel erreicht er.

„Verschollen“ARD

Vor Ort trifft Klemens bei der Suche nach dem verschwundenen Sohn auf bestenfalls desinteressierte Polizei, gefährliche Sicherheitsleute, den dubiosen „Tree Planet“-Projektleiter Kurt Winkler (Benjamin Sadler) und die Anwältin der Bewohner der Stadt Rio Pardo und umliegender Dörfer, Taís Gonçalves (Luka Omoto), deren Vater, der lokale Staatsanwalt, sich nach ermüdenden Protesten mit dem Projekt arrangiert zu haben scheint. Klemens wird selbst bedroht und knapp aus der Hand staatlicher Killer befreit. Er trifft nicht nur Diana Creutz vor Ort wieder und erfährt, warum hier seit der deutschen Nazi-Nachkriegszeit viele so gut Deutsch sprechen. Er findet auch heraus, was mit Jan geschehen ist, dass für das Aufforstungsprojekt Menschen unter Zwang umgesiedelt werden, die eigentliche Biodiversität beseitigt wird und dass die Produktionsabsicht billigen und grünen Stahls in Brasilien auf Täuschung und Verbrechen beruht.

Neben der Besetzung überzeugen in „Verschollen“ vor allem die Naturbilder des Kameramanns Walter Harrich, Daniel Harrichs Vater: Hier das aufgeforstete Gebiet, Stecken in Reih und Glied über Kilometer, dort die gewachsene Savanne. Hier die ikonographisch romantisierte deutsche Natur, dort die absurderweise durch das Klimaprojekt und „übergeordnete Interessen“ zerstörte brasilianische Natur und die zerrissene Gemeinschaft. „Verschollen“ mag kein Spielfilmkunstwerk sein, aber es ist ein wichtiger Film, der die Komplexität der Zusammenhänge vor Augen führt.

Verschollen läuft heute um 20.15 Uhr im ­Ersten, danach Verschollen – Die Doku. Beide Filme stehen in der ARD Mediathek.

Source: faz.net