Umweltpolitik: Die Grünen sind noch nicht radikal genug

Felix
Ekardt forscht als Leiter der Leipziger
Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik sowie Professor an der Uni
Rostock zu Politikkonzepten für mehr Nachhaltigkeit. Er sucht anlässlich
seiner oft sehr kontroversen Positionen die Diskussion mit den Leserinnen und Lesern
von ZEIT ONLINE. Auch diesmal antwortet er direkt unter dem Artikel auf
Leserkommentare. Diskutieren Sie mit!

Grünen-Bashing
ist gerade ein Hauptteil der politischen Debatte, gerade beim Klimaschutz, aber
auch sonst. Ohne dieses Bashing wären auch die Wahlerfolge der AfD und des Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) kaum denkbar.
Die Debatte verliert sich allerdings schnell darin, über das Für und Wider
einzelner realer oder vermeintlich grüner Politikprojekte zu streiten, etwa das umstrittene Heizungsgesetz. Dabei geht unter, dass die umfassende Grünen-Kritik von
drei falschen Voraussetzungen ausgeht.

Zuerst ist da das allzu menschliche Kassandra-Problem: Klimawandel,
Artensterben & Co. wurden nicht von den Grünen erfunden. Die Grünen sind lediglich die Überbringer der schlechten
Nachricht. Die Überbringer zu schlagen, wenn sie auf akuten Handlungsbedarf
hinweisen, ist erwartbar wie sinnlos. Klimawandel und Biodiversitätsverlust
verschwänden als Probleme nicht, wenn man die Grünen als Partei
abschaffen würde.

Zweitens dominiert der irrationale
Glaube die Debatte, dass sich die imaginäre „gute alte Welt“ einfach beibehalten ließe. Also
schön weiter mit billigem russischem Gas, wie es etwa das BSW gern hätte. Ein Zurück in eine Welt mit beliebig viel günstiger, fossiler Energie gibt es jedoch nicht –
schon aus geopolitischen Gründen. Und so eindeutig toll
war diese Welt auch keineswegs: Die massive Luftverschmutzung, die
Landschaftszerstörung, die gewaltsamen Umsiedlungen, die vielen
Krebs-Todesfälle und Kinder mit Atemwegserkrankungen aufgrund der Kohlenutzung zu DDR-Zeiten haben viele scheinbar schon vergessen.

Der dritte Irrglaube der Kritiker ist, dass Umweltschutz wirtschaftsfeindlich sei. Dabei wäre ein Festhalten an
der fossilen Wirtschaft ökonomisch äußerst
riskant. Will man etwa das Heizen dauerhaft bezahlbar machen, ist eine rasche
Wärmewende sinnvoll, die steigenden CO₂-Preise sollen genau dafür sorgen. Außerdem schaffen erneuerbare Energien und
Wärmedämmung in der Summe mehr Arbeitsplätze und mehr Wertschöpfung, als es die
Fossilen vermochten. Das ist wiederholt vorgerechnet worden, auch für Ostdeutschland und die
Lausitz als Kohleregion. 

Wissenschaftlich gesehen ist zudem unstreitig: Die Kosten, die Folgen des
Klimawandels zu managen, sind um den Faktor zehn oder mehr höher als eine
anständige Klimapolitik. Naturkatastrophen wie das Hochwasser im Ahrtal kosten
Abermilliarden. Noch schlimmer wird es, wenn wegen erwärmungsbedingter
Nahrungs- und Wasserknappheit Klimakriege beginnen. Lässt man den Klimawandel einfach weiterlaufen, trifft dies vor
allem die Ärmeren.

Die Grünen sind gar nicht so radikal

Sicherlich stimmen Bürgerinnen und Bürger dem zu, ergänzen aber sofort: Alle Maßnahmen müssen freiwillig sein, Klimapolitik muss ohne Verbote
klappen. Aber: Regeln gehören zur Freiheit, denn nur so können
viele Konflikte zwischen der Freiheit der einen und der Freiheit der anderen
friedlich gelöst werden. 

Auch wer Migranten und Migrantinnen strenger abschieben oder von
vornherein draußen halten will – oder wer das Gendern verbieten will, wie in
Bayern –, setzt auf Verbote. Und es gibt auch keine klare Grenze zwischen
Verboten und Anreizsystemen. Der EU-Emissionshandel etwa beeinflusst zwar die
Preise für verschiedene Energieträger, sein Kern ist jedoch ein hartes Verbot,
mehr Emissionen auszustoßen, als das System gestattet.

Nach all dieser Verteidigung der Grünen muss man allerdings sagen: Aus wissenschaftlicher Sicht tun die
Grünen sogar noch zu wenig beim Klima- und Biodiversitätsschutz. Sie sind gar
nicht die radikalen Ökos, als die sie in der öffentlichen Debatte gebrandmarkt werden. Die klimavölkerrechtlich
verbindliche 1,5-Grad-Grenze für die weltweite Erwärmung verlangt globale
Nullemissionen
in
wenigen Jahren, nicht erst 2050 oder gar später. Das verbleibende
Treibhausgas-Budget für 1,5 Grad, oder selbst 1,7 Grad, haben Industriestaaten wie
Deutschland sogar nach den aktuellen naturwissenschaftlichen Daten bereits
jetzt erschöpft. Auch deswegen wird
gegen die ausbleibende Klimapolitik

der Ampel beim Bundesverfassungsgericht geklagt.

Das Artensterben ist noch schlimmer

Eine Regierung unter grüner
Beteiligung macht also nicht zu viel, sondern zu wenig Klimaschutz. Noch
gravierender als der Klimawandel sind andere Umweltprobleme wie das Arten- und
Ökosystemsterben. Dort sind die Belastungsgrenzen der Erde nach wissenschaftlich
einhelliger Auffassung noch weit drastischer überschritten.
Obwohl die UN-Biodiversitätskonvention seit 1993 den Erhalt der Biodiversität
vorschreibt, geht der Biodiversitätsverlust weltweit und in Deutschland
ungebremst weiter – wiederum trotz einer Ampel-Regierung. Auch neue EU-Vorgaben in diesem Bereich werden das Artensterben nur unzureichend
bekämpfen. Denn sie arbeiten mit langen Fristen, vielen
Ausnahmeregelungen und vagen Erfolgsverpflichtungen.

Was man den Grünen vorwerfen kann: Sie gehen zu vorsichtig vor. Ein Grund sind sicherlich die Koalitionspartner SPD und FDP. Doch auch bei den Grünen
selbst wirkt es seit Längerem so, als würden sie ihre umwelt- und klimapolitischen Forderungen so ausrichten,
dass sie niemanden im Lebenswandel stören und damit auch für eine breite
Mitte akzeptabel sind. 

Die sich anbahnende Habeck-Kanzlerkandidatur wird diese
Tendenz wohl noch verstärken. Das mag erst einmal einleuchten: Man müsse eben realpolitische und keine
ambitionierten Forderungen präsentieren, wenn man gewählt werden will. Nur
erreicht man dann eben auch in der Sache wenig. Live zu besichtigen ist das
auch in Baden-Württemberg, das seit 2011 einen grünen Ministerpräsidenten hat.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht im Ländle weiterhin nur schleppend voran.

Falsch verstandene Zurückhaltung

Nur kann
das ernsthaft das Ziel der Grünen sein? Irgendwie regieren, dann aber beim Kernthema
Umwelt viel weniger erreichen als nötig? Auch die vage Hoffnung, man müsse
nur langsam anfangen und werde dann irgendwann eine Art Hegemonie erreichen,
wird eher widerlegt durch die aktuellen Wahlprognosen – und durch die
sich für 2026 abzeichnende Abwahl der Grünen in Baden-Württemberg. Statt immer
vorsichtiger zu werden, wie aktuell bei den Themen Wärmewende und Wärmepumpen, ist vielleicht die Flucht nach vorn Erfolg vielversprechender.

Das bedeutet, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Ich
bin seit 1997 eine grüne Karteileiche, also Parteimitglied ohne wirkliche
Aktivität in der Partei. Im Jahr 2013 habe ich als wenig in der Partei verankerter Kandidat für das Amt des Leipziger Oberbürgermeisters beworben – mit wissenschaftlichem
Öko-Profil. Damals habe ich, auch weil ich keine Ambitionen auf eine Politikerkarriere hatte, viele ökologische Notwendigkeiten viel klarer angesprochen, als die Grünen es sonst tun. In BILD-Zeitungs-Interviews habe ich gesagt, dass wir viel weniger fliegen und Fleisch essen müssen. Das Ergebnis: Ich holte das bis dahin beste Ergebnis bei einer Personenwahl für die Grünen in Ostdeutschland. 

Den Leuten reinen Wein einzuschenken und zugleich im persönlichen Verhalten sehr konsequent zu bleiben, könnte mehr Erfolg versprechen als falsch verstandene
Zurückhaltung.