Umstrittene Anleihekäufe: Wo Mario Draghi richtig lag – und wo nicht

Vor zehn Jahren, im März 2015, begann die Europäische Zentralbank mit den Käufen von Wertpapieren im Rahmen ihres im Januar 2015 von Präsident Mario Draghi angekündigten Anleihekaufprogramms. Die seinerzeitige vor allem in Deutschland beobachtbare Aufregung über den Ankauf von Staatsanleihen hat längst einer wirtschaftspolitischen Agenda Platz gemacht, in der Fragen von Geopolitik und Globalisierung und von Militär- und Zollpolitik einen vorderen Platz einnehmen.

Mit der Ankündigung einer sehr expansiven Finanzpolitik in Deutschland und den unklaren Wirkungen der Veränderungen in der Welt auf das Inflationspotenzial verdient die Geldpolitik weiterhin Beachtung. Die Prüfung der Erfahrungen aus Anleihekaufprogrammen ist daher ein zeitgemäßes Unterfangen.

In den vergangenen rund drei Jahrzehnten haben Zentralbanken im wesentlichen zwei Begründungen für den Kauf von Wertpapieren genannt. Die Bank von Japan, die Ende des vergangenen Jahrhunderts mit solchen Programmen begonnen hatte und lange deswegen als ein Exot galt, nannte als Grund die Bekämpfung von Gefahren einer Deflation in einem Umfeld, in dem Senkungen der Leitzinsen, das traditionelle Instrument zur Lockerung der Geldpolitik, nicht mehr zur Verfügung standen.

Sicherung der Inflationsziele

Die Begründung eines Unterschießens des Inflationsziels und die Unmöglichkeit weiterer Zinssenkungen wurden auch von Draghi im Januar 2015 für das Programm der EZB angeführt. In diesem Szenario dienen Anleihenkaufprogramme der Sicherung der Inflationsziele, also der Kernaufgabe der Geldpolitik.

Eine zweite Begründung für Kaufprogramme bildet die Sicherung der Funktionsfähigkeit von Märkten. Die Federal Reserve beschloss im November 2008 den Ankauf von Wertpapieren der staatlich geförderten Immobilienfinanzierer Fannie Mae, Freddie Mac und Ginnie Mae mit dem Argument, die schlechte Bewertung der Papiere dieser Unternehmen schade dem Immobilienmarkt. Zu Käufen von Staatsanleihen griff die Fed erst im weiteren Krisenverlauf.

Im Herbst 2002 stützte die Bank of England durch Käufe den Markt für britische Staatsanleihen mit langen Restlaufzeiten, nachdem Berichte über ein schuldenfinanziertes Steuersenkungsprogramm der Regierung Truss den Markt in Unruhe versetzt hatte. Die Turbulenzen drohten britische Pensionsfonds zu ergreifen. Der Bank of England gelang es, den Markt zu beruhigen.

Kaufprogramme kurzfristig einsetzen

Die Stabilisierung von Finanzmärkten gehört für viele Zentralbanken nicht zum offiziellen Aufgabenkatalog; sie wird aber seit dem 19. Jahrhundert immer wieder von ihnen wahrgenommen. Schließlich können Anleihekaufprogramme auch mit dem Ziel beschlossen werden, sowohl der Erreichung des Inflationsziels als auch der Stabilisierung des Finanzsystems zu dienen. Dies gilt für Programme, die 2020 im Zuge der Pandemie beschlossen wurden, darunter das PEPP genannte Programm der EZB.

Aus den reichen Erfahrungen mit Kaufprogrammen lässt sich ein Schluss ziehen, den Isabel Schnabel vom Direktorium der EZB in zwei 2024 gehaltenen Reden („The benefits and costs of asset purchases“ und „Reassessing monetary policy tools in a volatile macroeconomic environment“) ausgearbeitet hat: „Solche Programme eignen sich vor allem für die Stabilisierung des Finanzsystems, während das Verhältnis von Kosten und Erträgen im Falle von Programmen zur Erreichung von Inflationszielen weniger vorteilhaft aussieht.“

Konsequent angewendet, führte diese Erkenntnis zur Option, Kaufprogramme kurzfristig und vorübergehend in Zeiten extremer Spannungen im Finanzsystem einzusetzen. Ihr längerfristiger Einsatz zur Beeinflussung der Inflationsrate, wie im Falle der EZB ab 2015, ist dagegen kritischer zu sehen.

Theoretische Unwirksamkeit der Programme

Um Kosten und Erträge der Programme zu beurteilen, ist es notwendig, ihre Wirkungen zu analysieren. (Im Folgenden wird ausschließlich der in der Praxis dominierende Fall des Kaufs von Staatsanleihen betrachtet.) Hier lässt sich ein Paradoxon konstatieren, das der frühere Vorsitzende der Fed und spätere Träger des Nobel-Gedächtnispreises, Ben Bernanke so beschrieben hat: Die Programme „funktionieren in der Praxis, aber nicht in der Theorie.“

Die theoretische Unwirksamkeit hatte der Ökonom Neil Wallace 1981 in einem formalen Modell gezeigt. Danach werden an perfekt funktionierenden Kapitalmärkten die Wirkungen von Anleihekäufen der Zentralbanken durch Anlageentscheidungen rationaler privater Anleger konterkariert. Dieses Ergebnis heißt in der Fachliteratur „Wallace-Neutralität“. Den Zusammenhang eingängig erläutert hat der Ökonom Michael Woodford 2012 auf dem geldpolitischen Symposium von Jackson Hole. Er erinnerte an eine fundamentale Aussage der Finanztheorie, nach der rationale Anleger Wertpapiere anhand der von ihnen in der Zukunft erwarteten Erträge und Risiken bewerten.

Damit ist die Bewertung eines Wertpapiers unabhängig davon, in wessen Besitz es sich befindet. Wenn nun eine Zentralbank Staatsanleihen erwirbt, müsste sich als Ergebnis der zusätzlichen Nachfrage ein höherer Preis ergeben, der aber nicht mehr zum ursprünglichen Ertrags- und Risikokalkül der privaten Anleger passt. Daher verkaufen private Anleger so lange Staatsanleihen, bis sich der alte Preis wieder einstellt, weil das zusätzliche Angebot den Preis drückt. Die Anlageentscheidungen der privaten Anleger haben die Wirkungen der Käufe durch die Zentralbank neutralisiert.

Anleger sind nicht völlig frei

Wie die übrigen der neoklassischen Wirtschaftstheorie entstammenden und in Lehrbüchern vermittelten Irrelevanztheoreme – die bekanntesten sind das Modigliani/Miller-Theorem, das die Irrelevanz der Kapitalstruktur von Unternehmen thematisiert, und das Barro/Ricardo-Theorem von der Irrelevanz der Staatsverschuldung – beruht auch das Wallace-Theorem auf idealtypischen Annahmen, hier über die Perfektion von Märkten und das rationale Verhalten von Anlegern. Unmittelbar einleuchtend ist, dass eventuelle reale Wirkungen von Kaufprogrammen durch Abweichungen der realen Welt von der idealen Modellwelt erklärbar sein müssen.

Aus Abweichungen können mehrere Effekte entstehen. So sind viele institutionelle Anleger in der Wahl ihrer Kapitalanlagen aus regulatorischen Gründen nicht völlig frei; im Besonderen können sich Versicherungen, Stiftungen und Banken zur Begrenzung von Risiken veranlasst sehen, Staatsanleihen guter Bonität zu halten. Daher mögen sie nicht in der Lage sein, trotz eines durch ein Anleihekaufprogramm gestiegenen Preises Staatsanleihen zu verkaufen. Diese Segmentierung des Kapitalmarkts durch handlungsgebundene Anleger zerstört die „Wallace-Neutralität“; der Zentralbank gelingt es dann, durch Käufe den Preis von Staatsanleihen über dem alten Gleichgewichtspreis zu halten. Der höhere Preis bedeutet spiegelbildlich eine niedrigere Rendite der Staatsanleihe.

Für Anleger mit einem diversifizierten Portfolio und der Möglichkeit, Staatsanleihen zu verkaufen, stellt sich nach einem Preisanstieg die Frage, ob sie ihr Portfolio anpassen und für die teuer gewordenen Staatsanleihen ähnliche Wertpapiere, etwa Pfandbriefe oder Unternehmensanleihen mit sehr guter Bonität, erwerben. Abhängig von den Substitutionsbeziehungen zwischen Anlageformen kann sich der durch Anleihenkäufe der Zentralbank ausgelöste Preisanstieg Umschichtungen durch den gesamten Finanzmarkt ausbreiten. Erreicht er die Preise für Immobilien und Aktien, kann dies die Bauwirtschaft und, über günstigeres Eigenkapital dank höherer Aktienkurse, private Investitionen anregen.

Volumenstarke Programme in der Kritik

Das ist der berühmte Portfolioeffekt, der von der Generation vor Wallace analysiert wurde und der sich vor allem mit dem Namen James Tobins, ebenfalls ein Träger des Nobel-Gedächtnispreises, verbindet. Tobin hat diesen Effekt und seine Folgen für die Geld- und Finanzpolitik einprägsam in einer Schrift erläutert, die vor fast einem halben Jahrhundert in deutscher Sprache mit dem Titel „Grundsätze der Geld- und Staatsschuldenpolitik“ erschienen ist.

Der Portfolioeffekt ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Effekt, der während Anleihekaufprogrammen denkbar erscheint. In schweren Finanzkrisen stützen sich Anleihekaufprogramme unter anderem auf den Liquiditätseffekt. Indem die Zentralbank sich bereit erklärt, Wertpapiere von Finanzhäusern auch dann zu kaufen, wenn sich kein anderer privater Käufer findet, trägt sie zur jederzeitigen Zahlungsfähigkeit der Finanzbranche bei.

Die Auflage von Anleihekaufprogrammen wird begleitet von Versuchen, ihre Wirkungen zu messen. Vor allem sehr volumenstarke und langlaufende Programme, die dazu dienen, eine zu niedrige Inflationsrate anzuheben und die Wirtschaft zu stimulieren, werden heute kritischer gesehen als vor zehn Jahren, weil die positiven Wirkungen zum Teil überschätzt und die negativen Wirkungen unterschätzt wurden. Dies gilt auch für das 2015 von der EZB aufgelegte Anleihekaufprogramm.

Der Spielraum der Zentralbank ist begrenzt

Es ist hilfreich, in die damalige Zeit zurückzukehren. In einer vielbeachteten Rede hatte der Ökonom Larry Summers 2013 an das alte Konzept einer „säkularen Stagnation“ erinnert. Summers beschrieb eine Art „Nullzeit“, in der die Demographie und ein die Wirtschaft wenig stimulierender technischer Fortschritt die Industrienationen für lange Zeit in eine Zeit eines sehr niedrigen Wirtschaftswachstums bei einem geringen Produktivitätswachstums sowie Zinsen und Inflationsraten nahe Null führen.

Bei einem Zinssatz nahe Null erschöpft sich jedoch der Spielraum der Zentralbank, mit Zinssenkungen eine Deflation und einen Sturz der Wirtschaft in eine Depression wie in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zu verhindern. Die EZB hatte 2014 einen Leitzins ins Minus fallen lassen, aber die Aufregung darüber übertraf jeden positiven Effekt, sofern es einen gegeben haben sollte. Die Ökonomen Markus Brunnermeier und Yann Koby haben in einer häufig zitierten Arbeit („The Reversal Interest Rate“) gezeigt, dass der wirtschaftlich sinnvolle Spielraum für Leitzinssenkungen in den negativen Bereich begrenzt ist.

Da der Leitzins als Instrument ausfiel, wurden Anleihekaufprogramme erwogen. Heute betont Schnabel eine Abhängigkeit der Wirkungen der Kaufprogrammen von der jeweiligen Wirtschaftslage. Sie seien „am effektivsten, wenn Banken, private Haushalte, Unternehmen und Regierungen in der Lage und willens sind, auf niedrige Zinsen zu reagieren, womit sie die Wirtschaft beleben und die Inflationsrate in die Nähe ihres Ziels erhöhen.“ Schnabel sieht diese Voraussetzungen eher nach dem Auflegen des PEPP-Programm in der Pandemie als nach dem Start des Programms von 2015 gegeben, da damals viele Regierungen versucht hätten, ihre Haushalte zu konsolidieren.

Draghis Neuinterpretation

Für Draghis Programm von 2015 diagnostiziert sie ein Missverhältnis von Aufwand und Ertrag: „Nach Schätzungen der EZB wurden zwischen Januar 2015 und Ende 2018 Anleihenkäufe von 2,6 Billionen Euro benötigt, um die Renditen fünfjähriger Staatsanleihen um 0,8 Prozentpunkte zu drücken.“ Daraus leitete sich kein starker Impuls für Inflationsrate und Wirtschaftswachstum ab.

In Frage stellt sie auch die Motivation des Programms von 2015: Eine Zentralbank sollte in der Lage sein, eine Phase mit einer gegenüber ihrem Ziel etwas niedrigeren Inflationsrate ohne drastische Maßnahmen durchzustehen, zumal die Deflationsgefahr überschätzt worden sein mag. Hier findet eine Neuinterpretation statt, denn noch 2019 hatte anlässlich des 20. Geburtstags der EZB ein Autorenteam um Massimo Rostagno in einer ausführlichen Studie („A tale of two decades: the ECB’s monetary polica at twenty“) die von Draghi kommunizierte Begründung des Anleihekaufprogramms bekräftigt.

Die Zeiten haben sich gegenüber der Mitte der Zehnerjahre geändert. Summers’ Analyse einer säkularen Stagnation ist mit dem die Pandemie und die geopolitischen Verwerfungen begleitenden Inflationsschub in den Hintergrund getreten – obgleich viele ihrer Grundlagen wie der demographische Wandel, das niedrige Potenzialwachstum sowie bescheidene Produktivitätszuwächse immer noch Gültigkeit beanspruchen können.

Hohe Anleihebestände als Bremsklotz

Die jüngsten Erfahrungen haben die Zentralbanken gelehrt, dass sich das wirtschaftliche Umfeld rasch und schwer prognostizierbar ändern kann. Eine notwendige Flexibilität geldpolitischen Handelns wird behindert durch sehr hohe Anleihebestände, die sich gerade in Krisenzeiten nicht schnell wieder verkaufen ließen. Ein langfristiger Aufbau von Anleihebeständen kann zudem die Funktion von Märkten beeinträchtigen, wenn die frei verfügbaren Bestände an Anleihen nur mehr gering sind. Schnabel verweist auf Erfahrungen aus 2022, als Bundesanleihen, die als Sicherheit für Finanzgeschäfte geschätzt werden, knapp wurden.

Wenn der Portfolioeffekt die Wirkung von Anleihekäufen durch den gesamten Finanzmarkt verbreitet, können sich dort sehr hohe Bewertungen einstellen, die mit der Gefahr von Finanzmarktkrisen einhergehen. Nicht jeder Preisanstieg ist allerdings ein Indiz für eine Spekulationsblase. Die hohen Bewertungen tragen jedoch zur Ungleichheit von Vermögen bei.

Zudem können umfangreiche Anleihenkäufe von Zentralbanken Regierungen ermuntern, ihre Staatsverschuldung auszuweiten. Aktuell fallen sehr hohe Verluste von Zentralbanken an, weil die Zinserträge aus niedrig verzinslichen Altanleihen niedriger ausfallen als der Aufwand, der aus der Verzinsung der von Geschäftsbanken bei Zentralbanken gehaltenen Einlagen entsteht. (Es gab allerdings auch schon Zeiten, in denen diese Einlagen nicht verzinst wurden.)

Zehn Jahre nach Draghis Ankündigung liegt Schnabels Schlussfolgerung nahe: Kaufprogramme haben in Notzeiten als vorübergehendes Krisenbekämpfungsmittel ihren Platz. Als langfristiges Instrument zur Inflationssteuerung eignen sie sich weniger. Für die laufende Strategieüberprüfung der EZB sind diese Erfahrungen zweifellos hilfreich.

Source: faz.net