Ukraine | Selenskyj-Herausforderer Walerij Saluschnyj: Drahtseilakt in London

An einem Nachmittag Anfang März, drei Tage nach dem Crash zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus, liefen in der ukrainischen Botschaft in London die Telefone heiß. Das Team von Vizepräsident J.D. Vance wollte ein Gespräch mit Walerij Saluschnyj vereinbaren, dem ukrainischen Botschafter und früheren Oberbefehlshaber der Armee.

Von seinem Sofaplatz aus hatte Vance seinen Anteil daran, dass es zur Konfrontation zwischen Trump und Selenskyj im Oval Office kam. Nun wollte er offenbar Alternativen zum unbequemen Machthaber in Kiew ausloten. Nach Rücksprache mit Selenskyjs Stabschef lehnte Saluschnyj eine Entgegennahme des Anrufs ab. Im Weißen Haus wurde später verlautbart, es habe sich um eine „übliche diplomatische Kontaktaufnahme“ gehandelt, der Vizepräsident stehe regelmäßig im Austausch mit Regierungsbeamten aus der Ukraine.

Die Episode spiegelt den Drahtseilakt, den Saluschnyj vollführt, seit ihn Selenskyj im Februar 2024 als Armeechef entlassen und nach London abgewickelt hat. Viele im Inland wie Ausland sehen in ihm den nächsten Präsidenten der Ukraine und drängen Saluschnyj, eine politische Kampagne zu starten. Informationen dazu basieren auf Interviews mit Personen aus dem Umfeld des Generals wie mit Insidern, die über eine intime Kenntnis der Ereignisse verfügen.

Weil das Thema einigermaßen sensibel ist, bestanden die meisten von ihnen auf Anonymität, wohl auch, weil ihre Aussagen „Zustände“ spiegeln. In der Ukraine sind bis auf Weiteres keine Wahlen geplant. Selbst entschiedene Gegner Selenskyjs halten das gegenwärtig für technisch unmöglich. Aber alle wissen – und Umfragen bestätigen das –, käme es zur Abstimmung über den künftigen Staatschef, wäre Saluschnyj, der zu Beginn des Krieges im Raum Kiew die erfolgreiche Abwehr des russischen Angriffs kommandierte, der Bewerber, von dem eine ernsthafte Bedrohung für Selenskyj ausgehen würde – vorausgesetzt, er sollte antreten.

Entscheidung von Walerij Saluschnyj erst im letzten Moment

Öffentlich hat Saluschnyj bisher nie diesbezügliche Ambitionen laut werden lassen und lehnt alle Interview-Anfragen dazu ab. In London werden Veranstaltungen sorgfältig gemieden, bei denen unangenehme Fragen gestellt werden könnten. Nichtsdestotrotz gibt es einen ständigen Strom der Pilger Richtung ukrainische Botschaft, die in einer Villa am Holland Park im Westen Londons liegt.

Wie man hört, wird Unterstützung angeboten oder versucht herauszufinden, ob der General für die Präsidentschaft zu kandidieren gedenkt. Zu den Besuchern zählen ukrainische Parlamentarier, Gesandte reicher Geschäftsleute oder der in Ungnade gefallene frühere Trump-Berater Paul Manafort, der Saluschnyj seine Dienste als Berater für Wahlkampagnen anbot – der lehnte bisher ab.

Ein häufiger Gast war Andrij Jermak, Selenskyjs mächtiger Stabschef. Bei einem Treffen im November 2024 soll der Saluschnyj vorgeschlagen haben, formal Teil eines politischen Teams des ukrainischen Präsidenten zu werden, um sich bei künftigen Wahlen als geeinte Front zu präsentieren. Saluschnyj konnte das nicht überzeugen, allerdings versicherte er Kiew der fortgesetzten Loyalität bis „zu einem gewissen Punkt“. Er versprach Jermak, Selenskyj nicht öffentlich zu kritisieren, solange der Krieg andaure. Er soll zu Jermak gesagt haben: „Wenn ich mich entschließe, in die Politik zu gehen, werden Sie das als Erster erfahren – und zwar privat.“

Bisher hat sich Saluschnyj dieser Botschaft enthalten, obwohl in der Ukraine die Überzeugung wächst, dass er sich auf eine Kandidatur für das höchste Staatsamt vorbereitet. „Er hat die klügste Taktik gewählt“, glaubt der Politikexperte Volodymyr Fesenko in Kiew. „Er wird die endgültige Entscheidung erst im letzten Moment treffen, kurz vor möglichen Wahlen.“

Unkonventionelle Art von Saluschnyj

Saluschnyj war 48, als Selenskyj ihn im Juli 2021 zum Armeechef ernannte, ein Schritt, der für die meisten in der Generalität überraschend kam, auch für Saluschnyj selbst. „Er war ein mutiger und ambitionierter Kommandeur, hatte aber auch etwas von einem Harlekin, der dafür bekannt war, mit seinen Untergebenen herumzualbern, statt sie zu disziplinieren“, schreibt der Journalist Simon Shuster in seiner Selenskyj-Biografie.

Genau diese unkonventionelle Art war es, die Selenskyj ansprach, den früheren Comedian und Schauspieler, der im Frühjahr 2019 sensationell zum Präsidenten gewählt worden war. Bei einer Sitzung des ukrainischen Sicherheitsrates am 22. Februar 2022, keine 48 Stunden vor Beginn des russischen Einmarschs, sprachen sich Saluschnyj und der damalige Verteidigungsminister Oleksiy Reznikov für die Verhängung des Kriegsrechts aus, während Selenskyj Bedenken hatte, damit Panik auszulösen.

Letztendlich stimmte das Gremium für weniger einschneidende Maßnahmen. Diese Differenzen, die hinter den Kulissen ausgetragen und von Selenskyjs heroischer Haltung nach Ausbruch des Krieges relativiert wurden, könnten stärker in den Fokus rücken, wenn sich die beiden Männer tatsächlich in einem Wahlkampf gegenüberstehen.

Als die Invasion begann, überließ Selenskyj die Militärstrategie anfangs seinem Armeechef, während er sich darauf konzentriert, internationale Unterstützung zu sichern. Selenskyj wurde international zum Symbol für Widerstandswillen, Saluschnyj erreichte Kultstatus als ein Kriegsheld, der sich in einem anhaltenden Zustand des durch Adrenalin ausgelösten Schlafentzugs befand.

Rückkehr an die Front

Als sich die Kampfhandlungen dann hinzogen, kam es erkennbar zu Spannungen. Fast jedes Strategietreffen endete mit unterschiedlichen Auffassungen. Im Team des Präsidenten wuchs außerdem die Unruhe über Saluschnyjs Popularität, wie sie sich in nicht veröffentlichten, internen Umfragen niederschlug. Er schien sich einem unantastbaren mythischen Status anzunähern. Im Februar 2024 hatte Selenskyj genug. Nach Wochen der Spekulation entließ er Saluschnyj und schickte ihn nach Großbritannien.

Die Armee brauche „einen neuen Input an Ideen“, so die Begründung. „Das hat nichts mit Namen zu tun und schon gar nicht mit Politik“, erklärte Selenskyj damals seine Entscheidung. Wenige glaubten das. Aber Saluschnyj nahm seine neue Verwendung gelassen hin. Nach einem privaten Treffen trennte man sich freundschaftlich. Für ein Foto posierte der entmachtete General mit dem auf Macht bedachten Präsidenten, um zu beweisen, dass es keine Verstimmung oder gar Feindschaft gäbe. Es war das letzte Mal, dass sie sich zu einem persönlichen Gespräch getroffen hatten.

Vergangenen Monat kam Saluschnyj zu einem sechstägigen Treffen ukrainischer Botschafter nach Kiew. Die Diplomaten hörten sich Reden Selenskyjs und einiger Militärchefs an, sie besuchten Gebiete an der Frontlinie in der Region Saporischschja. Für die meisten Diplomaten eine seltene Erfahrung, man hatte den Krieg vor Augen und nahm diesen Eindruck in das jeweilige Gastland mit. Für Saluschnyj müssen es surreale Momente gewesen sein, als Teil einer solchen Exkursion an die Front zurückzukehren. „Er war freundlich, aber extrem vorsichtig“, erzählte später ein Teilnehmer. „Man konnte spüren, dass er sich davor hütete, Leuten gegenüber offen zu sein, die er nicht persönlich kannte und von denen er nicht wusste, auf welcher Seite sie standen.“

Shaun Walker ist Ukraine- und Russland-Autor des Guardian