Ukraine | Macron und Starmer spendieren sich denn Lotse jener „Koalition jener Willigen“
Der Krieg in der Ukraine ist trotz aller Bemühungen um einen Waffenstillstand noch lange nicht zu Ende. Die von Washington betriebene 30-tägige partielle Waffenruhe, die vorsieht, dass Angriffe auf Energieinfrastruktur unterbleiben sollen, bleibt brüchig, die Kriegsziele Kiews und Moskaus gelten weiterhin. Beide Seiten geben sich zwar verhandlungsbereit, stellen allerdings für den jeweiligen Widerpart nicht oder schwer hinnehmbare Bedingungen. Man beschuldigt sich gegenseitig, die Feuerpause beim Beschuss von Energieinfrastruktur zu brechen. Russland scheint im Vorteil zu sein, da es materiell und personell überlegen ist. Das Durchhaltevermögen der bereits stark geschwächten Ukraine wäre ohne jede US-Unterstützung absehbar gefährdet.
Kontrolleur und Korrektiv
Bereits das kurze Aussetzen amerikanischer Aufklärungsdaten Anfang März, womit Kiew gefügig gemacht werden sollte, hat gezeigt, wie verwundbar es ist. Die Europäer haben zwar vollmundig angekündigt, ihren militärischen Support zu erhöhen, doch können sie den amerikanischen Anteil nicht ersetzen. Und dann sind sie sich auch nach den dritten Treffen der „Koalition der Willigen“ uneinig, wie Militärhilfe fortan konkret aussehen soll. Es gilt zu bedenken: Je mehr Waffen und Munition an die Ukraine geliefert werden, desto länger dauert nicht nur der Krieg, umso mehr schmelzen auch die heute bereits ausgedünnten eigenen Arsenale dahin.
Emmanuel Macron – neben dem Briten Keith Starmer einer der beiden informellen, selbsternannten Führer der „Koalition der Willigen“ – hat zwar verkündet, dass man den „Frieden gewinnen will“, doch verlange das eine Politik der Stärke, da Präsident Putin nur diese Sprache verstehe. Entsprechend sehen sich die „Koalitionäre“ als Gegenpart, mindestens aber Korrektiv bei den von den USA betriebenen Gesprächen mit Moskau oder Kiew im saudischen Riad. Sie wollen verhindern, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Einer ihrer – negativen – Hebel ist es, die von Moskau ins Spiel gebrachte partielle Aufhebung von Sanktionen als Gegenleistung für eine Waffenruhe im Schwarzen Meer als „verfrüht“ abzulehnen. Dieser Moment komme erst – so Noch-Kanzler Olaf Scholz – , „wenn Frieden ist“. Das sieht man in Washington und Moskau freilich anders. Die einen wollen zügig voranschreiten, die anderen stellen Forderungen, deren bloße „kategorische“ Ablehnung durch das Gros der Europäer ziemlich kurzsichtig anmutet. Zu einem eigenen konstruktiven Angebot sind sie wegen eines fehlenden, vor allem abgestimmte Konzepts nicht in der Lage. Dabei gäbe es angesichts zahlloser Sanktionspakete genug Verhandlungsmasse, um sie als positiven Hebel zu nutzen.
Der andere, seit einiger Zeit geschmiedete Hebel ist die mögliche Stationierung europäischer Truppen in der Ukraine, um einen Waffenstillstand abzusichern. Dieses Bemühen erinnert an Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, in dem der Kaiser nackt dasteht, ohne es wahrhaben zu wollen. Der weitgehend britisch-französische Vorschlag setzt mittlerweile auf drei „Verteidigungslinien“. In der ersten soll die ukrainische Armee stehen. Ob direkt an einer Kontaktlinie oder vor einer demilitarisierten Zone ist unbekannt. Für die zweite wären dann 10.000 bis 30.000 europäische Soldaten zu dislozieren. Die sollen zwar kampfbereit sein, hätten aber keinen Kampfauftrag, sondern seien für logistische und andere unterstützende Aufgaben vorgesehen.
Die dritte „Verteidigungslinie“ wurde noch nicht näher bestimmt, was zeigt, wie rudimentär der Ansatz ist. Und wer wird Soldaten stellen außer Briten, Franzosen, Dänen und Schweden, die sich bereits erklärt haben? Ob ein Kanzler Friedrich Merz die Bundeswehr in ein gefährliches Waffenstillstandsgebiet lotsen wird, ist noch offen.
Einig sind sich alle, dass dieses Tableau ohne Zusage der USA, die Europäer notfalls herauszuhauen, nicht funktioniert. Soll US-Militär die dritte Verteidigungslinie bilden? Dabei haben die politischen Spitzen in Washington oft genug zu verstehen gegeben, was sie von „schmarotzenden Europäern“ halten, und dass diese allein für eine militärische Nachsorge in der Ukraine zuständig seien. Nur dürfte ohne US-Backstop kein europäisches Land bereit sein, das nicht auszuschließende Risiko einer direkten militärischen Konfrontation mit Moskau einzugehen. Selbst wenn sich die US-Position ändern würde, wonach es derzeit nicht aussieht, stellt sich die Frage, wie verlässlich sie wäre. Also ist der Kaiser eigentlich nackt.
Nicht zu vergessen ist die bislang von den Europäern einfach übergangene Klippe, dass Russland gar keine europäischen Kampftruppen in der Ukraine akzeptiert. Alternative Modelle, etwa ein UN-Blauhelmkorps mit starken Anteilen der BRICS-Staaten einzusetzen, werden gar nicht erst erwogen. Doch ist es unumgänglich, einen Frieden bereits während des Krieges vorzubereiten. Das gibt einem selbst Orientierung und signalisiert dem Gegner mögliche Rahmenbedingungen. Im Zweiten Weltkrieg einigten sich die USA und Großbritannien unter dem Eindruck des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion bereits 1941 auf die Atlantik-Charta. Darin legten sie acht Grundprinzipien einer Nachkriegsordnung fest, die kurz darauf von den anderen Alliierten, einschließlich der Sowjetunion, bestätigt und am 1. Januar 1942 in die Deklaration der Vereinten Nationen aufgenommen wurden.
Die Europäer stehen gegenwärtig vor der doppelten Herausforderung, den Krieg in der Ukraine durch realistische Beiträge schnell beenden zu helfen und künftig selbst für die eigene Sicherheit zu sorgen. Beides verlangt danach, sich um eine dritte Verhandlungsebene neben den bilateralen amerikanisch-russischen und den ukrainisch-russischen Gesprächen zu bemühen.
Die Agenda müsste sich neben der komplexen Ukraine-Frage auch der geopolitischen Herausforderung einer europäischen Sicherheitsordnung stellen. So käme das Europa der EU in eine diplomatische Offensive, statt seine kognitiven Defizite beim Lagebild auszustellen.