Ukraine-Krieg: US-Regierung debattiert zusätzlich Einsatz von US-Waffen gegen Russland

Innerhalb der US-Regierung scheint die bisherige Vorgabe, dass die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland von den USA gelieferte Waffen nicht gegen russisches Staatsgebiet einsetzen darf, zu bröckeln. Eine entsprechende Initiative gehe vom US-Außenminister Antony Blinken aus, berichtet die New York Times. Der Vorschlag, der US-Präsident Joe Biden allerdings noch nicht vorgelegt worden sei, werde ausformuliert.

Anlass für den Vorstoß ist demnach Russlands Offensive im Norden der ukrainischen Region Charkiw. Blinken sei nach einem „ernüchternden“ Besuch in Kiew vergangene Woche zur Überzeugung gekommen, dass das der Ukraine auferlegte Einsatzverbot für US-Waffen auf russischem Gebiet zu einer Eskalation in Charkiw beigetragen habe. 

Tatsächlich hatte sich Blinken bereits in Kiew offen dafür gezeigt, die Einschränkung aufzuweichen: Die USA hätten zwar keine ukrainischen Angriffe auf russisches Territorium unterstützt oder ermöglicht, sagte er damals – „aber letztlich muss die Ukraine selbst entscheiden, wie sie diesen Krieg führen will“. Regierungsbeamte um Blinken hätten ihre Position ebenfalls in diese Richtung geändert, heißt es im Bericht der New York Times.

Abgeordnete fordern Aufweichung des Einsatzverbots

Russland habe seine Truppen in Grenznähe zu Charkiw in dem Bewusstsein formieren können, dass die Ukraine sie nicht mit schlagkräftigen US-Waffen angreifen könne, heißt es weiter. Das Argument, ein Einsatz von US-Waffen gegen Ziele in Russland könne zu einer Eskalation führen, wäre damit aufgewogen durch die Eskalation in Charkiw, die von der Einsatzeinschränkung befördert worden ist. 

Ähnlich argumentiert auch eine Gruppe von Abgeordneten der Demokraten und Republikaner. Die elf Mitglieder des Repräsentantenhauses, angeführt vom Chef des Geheimdienstausschusses, Mike Turner, hatten sich am Montag in einem offenen Brief an das Verteidigungsministerium gewandt. „Ukrainische Vertreter haben wochenlang gesehen, wie russische Truppen ukrainische Orte ungestraft von russischem Gebiet aus angegriffen haben“,
heißt es in dem Schreiben. „Die Ukrainer waren wegen der derzeitigen Politik der
(US-)Regierung nicht in der Lage, sich zu verteidigen.“ 

Es sei „essenziell“, dass die Ukraine das „volle Spektrum der
Operationen“ nutzen dürfe, schreiben die Abgeordneten weiter. Dies sei notwendig, um die Angriffe
abzuwehren. Daher müsse der Ukraine erlaubt werden, „strategische Ziele auf russischem Gebiet unter bestimmten Umständen“ auch mit US-Waffen anzugreifen.  

Gebiete mit schweren Kämpfen, letzte 24h

Russische Befestigungsanlagen

Russische Kontrolle

Vortag

seit Kriegsbeginn

vor Kriegsbeginn

Zurückerobert

Vortag

Gegenoffensive

Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Kritik an „Sicherheitszone“ für Russland

Auch der republikanische Abgeordnete Michael McCaul, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik im Repräsentantenhaus, erhob ähnliche Forderungen. In einer Befragung Blinkens vor dem Ausschuss zeigte McCaul am Dienstag vor Kamera eine Karte, die vom Thinktank Institute for the Study of War (ISW) erstellt wurde. Das Institut gilt als eines der wichtigsten Analysezentren zum Ukraine-Krieg. Die Karte zeigt die Reichweite von US-Artillerie- und Raketenartilleriesystemen – und wie weit sie nach Russland schießen könnten, wenn die USA der Ukraine einen solchen Einsatz erlauben würden. 

In der dargestellten Zone liegen Ziele wie Militärflugplätze, von wo aus Russland derzeit seine Kampfjets aufsteigen lassen kann, um ukrainische Grenzregionen zu bombardieren. Fast 2.500 ukrainische Ortschaften könnten nach ISW-Einschätzung so bombardiert werden, ohne dass russische Jets den Luftraum ihres Landes verlassen müssten.

McCaul sprach von einer „Sicherheitszone“ für Russland, die von den bisherigen Regeln zum Einsatz von US-Waffen ermöglicht werde. „Ihre Regierung und (der Nationale Sicherheitsberater) Jake Sullivan haben den Einsatz der Waffen beschränkt, sodass die Ukraine sich nicht verteidigen und nach Russland zurückschießen kann“, sagte der Abgeordnete. Die US-Regierung lege der Ukraine Einschränkungen auf, die es etwa beim Einsatz von US-Waffen durch Israel im Krieg gegen die Hamas nicht gebe. Zudem verwies er darauf, dass die vom US-Kongress abgesegneten Militärhilfen solche Einschränkungen nicht vorsahen. Sie kämen aus der Regierung.

Auch im Bericht der New York Times heißt es unter Berufung auf Regierungskreise, dass es vor allem in der US-Regierung Sorge vor einer aggressiven Reaktion Russlands gebe, sollten die Einschränkungen wegfallen. Vor allem der Sicherheitsberater Sullivan gilt als Vertreter einer vorsichtigen Linie bei der Unterstützung der Ukraine. 

Hunderte Ziele auf russischem Gebiet in Reichweite von US-Waffen

Deren Regierung wiederum fordert seit Monaten, das Einsatzverbot aufzuweichen. „Das gehört zu unserer Verteidigung“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj der britischen Times. „Wie können wir uns vor diesen Angriffen schützen? Das ist der einzige Weg.“

Experten des ISW stimmen dem ukrainischen Präsidenten in dieser Hinsicht zu. „Die USA sollten der Ukraine erlauben, legitime militärische Ziele in Russlands Hinterland mit US-gelieferten Waffen anzugreifen“, schrieb das Institut in seiner Analyse der Situation vor zwei Wochen. Mindestens 15 Militärflugplätze und „Hunderte“ weitere Ziele wie Munitions- und Treibstofflager, Radarstationen, Kasernen und Kommandostellungen könnten auf diesem Weg getroffen werden. Die Ukraine könnte, wenn sie die Erlaubnis dazu bekäme, die russischen Operationen „signifikant“ unterbinden. „Weder Russland noch irgendein anderes Land haben das Recht, sein Staatsgebiet in einem Angriffskrieg, das es begonnen hat, als unverwundbar zu betrachten“, schrieb das ISW weiter.

Die Ukraine wiederum greift seit Monaten Ziele im russischen Hinterland an, vor allem Ölraffinerien. Dabei setzt sie selbst entwickelte Drohnen ein. Deren Sprengköpfe sind allerdings etwa zehnmal kleiner als die von US-Raketen oder Marschflugkörpern aus anderen westlichen Ländern. Dennoch konnte Russlands Benzinproduktion durch die Angriffe binnen weniger Wochen um mehr als zehn Prozent verringert werden. Für großflächige Angriffe auf Militärflugplätze reicht das Arsenal an selbst entwickelten ukrainischen Waffen nicht aus. Auch der Abschuss von russischen Kampfjets mit westlichen Luftverteidigungssystemen über russischem Gebiet – laut ISW die effektivste Methode, russische Luftangriffe zu verhindern – fällt unter die derzeit gültigen Einschränkungen.