Ukraine-Krieg: Russische Einheiten stoßen in Charkiw gen ukrainisches Gebiet vor

Das
russische Militär hat Bodenangriffe auf die nordostukrainische Region
Charkiw gestartet. Es handelt sich um den ersten Angriff mit Bodentruppen, bei dem russische Einheiten die Staatsgrenze zur Ukraine überqueren und nicht an der seit fast einem Jahr nahezu stabilen Frontlinie innerhalb des Landes angreifen.

Das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete über einen Beginn der Angriffe am Morgen. Bereits in der Nacht seien die ukrainischen Stellungen in Grenznähe mit Artillerie und Gleitbomben beschossen worden. „Ungefähr um fünf Uhr (morgens) kam es zu einem Versuch (…) des Durchbruchs unserer Verteidigungslinie“, teilte das Ministerium mit. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden diese
Angriffe abgewehrt.“ Ein Statement der russischen Militärführung gab es zunächst nicht.

Charkiws Gouverneur Synjehubow berichtete auf Telegram von einem Angriff nahe der Stadt Wowtschansk in Grenznähe zu Russland.
Die Stadt war zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung geraten und
wurde von der Ukraine bei ihrer Charkiw-Offensive im September 2022
befreit. Synjehubow meldete ebenfalls, dass die Angriffe abgewehrt seien: „Es ist kein Meter verloren“,
schrieb er. Die Stadt Charkiw sei derzeit nicht
bedroht: „Die
Gruppierung des Gegners stellt keine Gefahr für Charkiw dar, seine
Kräfte reichen nur für Provokationen im nördlichen (Front-)Abschnitt“, schrieb Synjehubow.

Fotos von Kämpfen sollen geringfügigen Vormarsch bestätigen

Die Stadt Wowtschansk wird derweil nach lokalen Angaben evakuiert. Das sagte Tamas Gambaraschwili, der Leiter der örtlichen Militärverwaltung, dem ukrainischen Sender Hromadske. Die Stadtverwaltung organisiere Fahrten für Menschen, die keine Autos haben, andere verließen die Stadt in eigenen Fahrzeugen auf eigene Faust. Die Evakuierung betreffe neben Wowtschansk auch angrenzende Orte. 

Wowtschansk liegt wenige Kilometer südlich einer der beiden Grenzabschnitte, die laut Beobachtern von russischen Einheiten überquert worden sind. In der Stadt lebten vor Kriegsbeginn etwa 20.000 Menschen. Gouverneur Synjehubow berichtete von einem Toten und fünf Verletzten in Wowtschansk. „Die Anwohner sagen, dass sie so einen Beschuss noch nie gesehen haben“, zitiert Hromadske den lokalen Militärverwalter Gambaraschwili. Russland setzte seit den frühen Morgenstunden Gleitbomben, Artillerie und Raketenwerfer ein. Ukrainische Medien veröffentlichten ein Video, das starke Zerstörungen im Zentrum Wowtschansk zeigt, bei denen es sich um die Folgen der nächtlichen Angriffe handeln soll.

Das ukrainische Open-Source-Projekt DeepState, dessen Karten des Frontverlaufs als zuverlässig gelten, spricht von russischen Grenzüberquerungen an zwei Orten: nahe Wowtschansk sowie 30 Kilometer nordöstlich der Stadt Charkiw. Als
bestätigt stuft die Beobachtergruppe einen zumindest vorübergehenden
russischen Vormarsch um drei Kilometer ein. Dafür spreche ein laut DeepState geolokalisiertes Foto zerstörter russischer Militärtechnik, das etwa drei Kilometer südlich der Grenze nahe dem Dorf Olijnykowe aufgenommen worden sei.

Selenskyj sieht Armee für Verteidigung Charkiws gerüstet

Die Angaben scheinen somit der Mitteilung von Gouverneur Synjehubow, dass den russischen Truppen kein Vormarsch gelang, zu widersprechen. Allerdings ist unklar, ob der Vormarsch bereits gefestigt ist oder die bis zu drei Kilometer in ukrainisches Gebiet hineinragende Zone noch aktiv umkämpft ist.

Letzteres scheint das ukrainische Militär zu bestätigen. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unter Verweis auf eine „hochrangige Quelle“ im Militär, dass russische Einheiten um etwa einen Kilometer ins Landesinnere vordringen
konnten. Demnach nimmt
die Armee an, dass Russland einen Vormarsch um bis zu zehn Kilometer entlang der Staatsgrenze anstrebt. Auch Charkiws Gouverneur Synjehubow sagte im Staatsfernsehen, die Angreifer hätten ihren Vormarsch unterbrechen und sich wieder zurückziehen müssen. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj teilte mit, das Militär sei auf den Angriff vorbereitet. Die Lage sei unter Kontrolle, sagte er auf einer Pressekonferenz in Kiew. In dem Frontabschnitt seien mehrere Heeresbrigaden sowie Artillerieeinheiten stationiert. Zugleich warnte er, dass die russischen Truppen weitere Verbände hinzuziehen könnten.

Wie viele Kräfte Russland derzeit dort einsetzt, ist derzeit noch nicht klar. Offizielle Schätzungen vom ukrainischen Militär gab es dazu bislang noch nicht. In Medienberichten ist von mehreren Bataillonen die Rede, was insgesamt höchstens wenigen Tausend Soldaten entspricht. Um einen Großangriff, wie er in dem Gebiet seit Monaten befürchtet wird, handle es sich nicht.

Großangriff auf Millionenstadt Charkiw gilt als unwahrscheinlich

Spekulationen über eine neue russische Charkiw-Offensive gibt es spätestens seit Russlands Präsident Wladimir Putin Mitte März ankündigte, eine „Pufferzone“ entlang der russisch-ukrainischen Grenze einrichten zu wollen. Dabei umriss er nur vage, wie groß diese sein solle – legte aber nahe, dass die gleichnamige Regionalhauptstadt Charkiws Teil davon werden könnte. Zudem wird Charkiw seit Monaten intensiv beschossen, nahezu täglich kommt es zu Verletzten und Toten in der Stadt.

Charkiw liegt etwa 30 Kilometer südlich der Grenze. Russland scheiterte zu Kriegsbeginn daran, die Metropole mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern einzunehmen. Nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive im Süden des Landes im vergangenen Jahr begann die Ukraine allerdings mit dem Bau von Verteidigungsanlagen entlang der Front – darunter auch in Charkiw. Satellitenbildern der Anlagen zufolge sind diese Anlagen allerdings nicht durchgängig ausgebaut, da deren Bau erst im Winter begonnen hat.

Militärexperten zufolge ist eine russische Eroberung der Stadt unwahrscheinlich. Dafür würde Russland eine Streitmacht von deutlich mehr als 100.000 Soldaten zusammenziehen, was sich kaum verbergen ließe. Derzeit gibt es keine Belege dafür, dass nahe Charkiw russische Verbände dieser Größenordnung stationiert sind. So weisen Experten etwa darauf hin, dass Russlands Armee sowohl für die Eroberung Awdijiwkas im Februar als auch Bachmuts im vergangenen Mai – die letzten beiden mittelgroßen Städte, die Russland unter seine Kontrolle bringen konnte – jeweils mehr als 50.000 Soldaten eingesetzt hat. Beide Städte sind um ein Vielfaches kleiner als Charkiw.

Mehrere Zehntausend russische Soldaten stehen vor allem an der Grenze zwischen der Region Charkiw und der besetzten Region Luhansk, mutmaßlich aber nicht an der russisch-ukrainischen Landesgrenze. Der Großteil der russischen Angriffe in den vergangenen Monaten konzentriert sich zudem auf die südlicher liegende Region Donezk. Allerdings kann ein russischer Angriff in Charkiw Analysten zufolge ukrainische Verbände von stärker umkämpften Abschnitten der Front ablenken.