„Tyrannen“: Wie werde ich ein guter Tyrann?

Sollte Hillary Clinton wegen Hochverrats angeklagt werden? „Ja, auf jeden Fall.“ Sollte Donald Trump wegen Hochverrats angeklagt werden, sobald sich bestätigt, dass er geheime Dokumente einbehalten hat? „Negativ, nein.“ Warum? „Weil Trump ein Patriot ist, Hillary nicht.“ Diese kürzlich aufgezeichnete Unterhaltung eines amerikanischen Videojournalisten mit einem Unterstützer des ehemaligen US-Präsidenten hat Seltenheitswert. Die geschickten Nachfragen und die bewundernswerte Ehrlichkeit des Antwortenden legen ein Problem offen, das nicht nur die amerikanischen Verfassungsväter ein für alle Mal lösen wollten, sondern das jahrtausendelang beinahe sämtliche politischen Philosophen der europäischen Tradition beschäftigte: die Möglichkeit der Tyrannei.

Als Tyrann galt seit Platon und Aristoteles derjenige, der alle Macht des Staates auf sich vereinigt, ohne jedoch dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Jemand, der über alle herrscht – aber strikt zum eigenen Vorteil. Trump darf Gesetzwidriges tun, weil er Trump ist, also ein Patriot: So widersinnig dieses Urteil auch scheinen mag – es sollte mehr als nur Anlass zu Spott sein. Denn die Geschichte der Menschheit kennt unzählige solcher Urteile. Der Band mit dem Titel Tyrannen, herausgegeben von den beiden Frühneuzeit-Historikern André Krischer und Barbara Stollberg-Rilinger, setzt genau bei solchen Urteilen und ihren Folgen an. Insgesamt zwanzig Fallstudien und Porträts sind darin versammelt, um von Caligula bis Putin, von Katharina von Medici bis Kim Jong Un der Frage nachzugehen, was „Machthaber über die Jahrhunderte hinweg zu Tyrannen oder Despoten“ qualifizierte, gegen „welche Regeln und Normen legitimer Herrschaft“ sie dabei verstießen. „Und zum anderen: In wessen Augen machte sie das zu Tyrannen – und in wessen Augen womöglich zum Helden?“

Auffällig dabei: Die Plausibilität zeitgenössischer Tyrannen-Verdikte ist bis in die Neuzeit hinein meistens zweifelhaft. War Caligula ein verschwendungssüchtiger, größenwahnsinniger, inzestuöser Gewaltherrscher, der „unliebsame Senatoren skrupellos ermorden ließ“ und „sein Pferd zum Konsul machen wollte“, wie Aloys Winterling in seinem Beitrag fragt? Oder spricht aus diesen durch Quellen beglaubigten Urteilen nicht vielmehr die gekränkte Eitelkeit einer Senatorenschicht, die es nicht verkraften konnte, dass jemand die „augusteische Fassade“ ihrer Republik einriss, hinter der längst eine Monarchie stand? Ähnliche Skepsis gilt für Nero, Heinrich IV. und Richard III., die alle auf ihre Weise der teils berechtigten, teils übertriebenen Despoten-Verleumdung anheimfielen. Der Tyrannen-Vorwurf war schnell zur Hand, wo immer Adel oder Kirche ihre angestammten, aber selbst interpretierten Rechte verletzt sahen.

Noch bemerkenswerter jedoch: Seit dem 18. Jahrhundert ideologisieren sich die Beurteilungskriterien der Tyrannei, was wohl nicht zufällig mit der Aufklärung zusammenhängt. Obwohl die Informationslage immer besser wird, gehen die Meinungen weiter auseinander denn je: So wurde etwa Peter der Große, als er Russland zur westeuropäischen Zivilisation emporheben wollte, von nicht wenigen Anhängern im In- und Ausland als „aufgeklärter Despot“ bezeichnet. Das war keineswegs negativ gemeint: Man war sich zwar einig darüber, dass der russische Zar mit „eiserner Faust“ und außerordentlicher „Grausamkeit“ herrschte (wenn er beispielsweise die Proteste der Bauern niederschlagen ließ). Aber, so beschreibt es der Wiener Historiker Jan Hennings in seinem Essay, man betrachtete das als notwendiges Übel auf dem Weg in Richtung aufgeklärter Zukunft. Nicht ob jemand sich über die tradierten Rechte hinwegsetzte, war jetzt also politisch umstritten – sondern ob er es im Namen der richtigen Ideologie tat.

Diese neue Lage macht verständlich, wieso moderne Tyrannen oft sogar Volksbewegungen hinter sich vereinen können, während sie in der Antike meist auf ausländische Staaten oder Leibwächtertruppen zurückgriffen: Es müssen ihnen nur genügend Anhänger glauben, mit ihnen auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Solange das so ist, etwa in Napoleons guten Tagen, geben sie sich auch mit der „Illusion der Mitbestimmung“ (Daniel Schönpflug) zufrieden oder akzeptieren es, wenn Mao Zedong sich selbst stolz einen Tyrannen nennt, der im Gegensatz zum gewaltbesessenen chinesischen Reichsgründer Qin Shihuangdi im 3. Jahrhundert v. Chr. nicht bloß 460 Konfuzianer lebendig begraben, sondern „46.000 Konfuzianer unter die Erde gebracht“ habe.

Es ist also kein Zufall, dass diejenigen Autoren des Buches, die sich den neueren Vertretern der Gewaltherrschaft widmen – Pinochet, Mugabe, Assad, Erdoğan, Putin –, zumeist sogar auf die Tyrannen-Vokabel verzichten, wodurch der rote Faden des Bandes zum Schluss etwas ausfranst. Seit es für die Tyrannen-Klassifizierung auf die Ideologie des Betrachters ankommt und nicht mehr auf die formale Einschätzung von weithin unabänderlichen Herrschaftsgewohnheiten, hat der Begriff seine alteuropäische Prägnanz verloren. Sein eigentlicher Inhalt, nämlich die Ex-negativo-Wertschätzung geteilter Verfassungsgrundsätze, erscheint dadurch aber umso bedeutsamer. Nur sie garantieren letztlich, dass auch Hochverrat von Präsidenten Hochverrat bleibt – möge man zu dem Verbrecher politisch stehen, wie man wolle.

André Krischer/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“; C. H. Beck, München 2022; 352 S., 29,95 €, als E-Book 22,99 €