Turner-Preis-Ausstellung: Der Sound des Ford Escorts unterm Häkeldeckchen
Jasleen Kaurs roter Ford Escort hat ein riesiges weißes Häkeldeckchen auf dem Dach, aus seiner Anlage dröhnen Fetzen von Pop, Hip-Hop und Qawwali-Gebetsliedern. Er provoziert Gelächter und ist gleichzeitig so etwas wie das Totem-Bild der diesjährigen Turner-Preis-Schau in der Tate Britain, die voller kultureller Kollisionen und Registerwechsel steckt.
In Delaine Le Bas’ labyrinthischer Installation regnet es Tinte. Sie mündet in Herzen und Schädel und Gesichter sowie eine Menagerie aus Hasenmenschen, Baummenschen und Korallen. Blutrote Fußabdrücke ziehen sich über den Boden der Tate. Nackte Beine tanzen Cancan, in transparenten Baumwollzelten zeichnen sich bedrohliche Figuren ab. Das Werk der Romni durchziehen mythologische und magische Zeichen und Vorzeichen. „Gypsy-Hippie-Punk“-Ästhetik nennt sie selbst es.
Herkunftsgeschichten flossen in mehrere Werke ein. In Pio Abads Fall ist es die Kindheit in Manila, wo das Haus der Familie von Anhängern des Marcos-Regimes mit Maschinengewehrfeuer beschossen wurde. Bei Jasleen Kaur sind es die Erinnerungen an den Besuch von Cash-’n’-Carry-Großmärkten in Glasgow, in denen ihr Vater arbeitete, und ihr Sikh-Hintergrund.
Und so schweben über unseren Köpfen Flaschen mit dem Softdrink Irn-Bru, Warnkleidung, Haarsträhnen, schottische Pfundnoten, Lottoscheine, Nusrat-Fateh-Ali-Khan-CDs und im Dunkeln leuchtende Gebetsperlen. Sie liegen auf einer durchsichtigen Plane, die über einem riesigen Teppich aufgespannt ist, der zum Hinsetzen, Hinschauen und Hinhören auffordert, als könnten wir durch den Tag schweben.
Aber hier ist so viel los, Verweilen scheint unmöglich. Glocken klimpern auf hölzernen Fingern, und das gehauchte Keuchen eines mechanisch betriebenen Harmoniums begleitet den Gesang der Künstlerin, der wie aus dem Nichts kommt. Und was ist mit den Fotos am Boden, auf denen Sikhs und Muslime gemeinsam beten, und einer protestierenden Menge, die auf einer Straße in Glasgow einen Transporter der Einwanderungsbehörde umzingelt? Kaurs Arbeit ist voller Textur, Humor und Komplexität. Und dann noch das verflixte Auto mit der dröhnenden Anlage.
Installationsansicht von Pio Abads „Ashmolean NOW“ in der Tate Britain
Foto: Hannah Pye/Ashmolean/University of Oxford
In Pio Abads Installation steht auf einem niedrigen Sockel eine gigantische Betonversion eines 30-karätigen Rubin-und-Diamant-Perlenarmbands, Teil des 21 Millionen Dollar schweren Schmuckschatzes, den Imelda und Ferdinand Marcos dem philippinischen Volk stahlen. Entdeckt wurde er in den Windeln der Enkel, als der Kleptokrat 1986 ins Exil nach Hawaii floh. Es ist eine von vielen Überarbeitungen dieser obszönen Beute, die Abad mit seiner Frau, der Schmuckdesignerin Frances Wadsworth Jones, als Langzeitprojekt durchführt. Abads schöne und schmerzhafte Werke befassen sich auch mit dem Diebstahl der Benin-Bronzen im 19. Jahrhundert und dem Schicksal von wohl 90 Prozent des materiellen Erbes der Philippinen, das sich heute in westlichen Museen befindet. Man braucht Stunden, um die Komplexität und die Ungerechtigkeiten in seiner Installation zu entschlüsseln.
Claudette Johnsons großformatige Porträts in Pastell, Ölkreide und Gouache an den Wänden haben da im Vergleich mit der Trägheit des von ihr gewählten Mediums zu kämpfen, wirken fast ein wenig behäbig. Auch sie selbst schaut uns aus einem an, wie ertappt beim Schauen, als sei sie sich ihres eigenen Blicks nicht sicher. Für mich liegt die Energie in dieser Ausstellung woanders: bei Jasleen Kaur.
Turner Prize 2024 Tate Britain, London, bis 16. Februar 2025