Türkei | Türkei erlebt weitere #MeToo-Welle: Wenn dieser Aufschrei losbricht

Fünf Jahre nach den ersten großen #MeToo-Debatten in der Türkei erlebt das Land derzeit eine neue Welle von Enthüllungen. Regisseure, Comedians und Schauspieler stehen im Zentrum von Vorwürfen sexueller Belästigung und Gewalt. Am 22. August 2025 veröffentlichte die Instagram-Seite Susma Bitsin – das türkische Pendant zur #MeToo-Bewegung – ein Statement. Die Initiative, 2018 gegründet, richtet sich an Frauen und LGBTQ+-Personen in der Kultur- und Medienbranche. „Wir stehen in Solidarität an der Seite aller Frauen und LGBTQ+, die den Mut gefunden haben, ihre Täter zu konfrontieren“, heißt es dort.

Begonnen hat diese Welle mit Vorwürfen gegen mehrere Fotografen. Ende August beendete ein Streamingdienst und Festival die Zusammenarbeit mit Regisseur Selim Evci, nachdem eine ehemalige Assistentin, Yaprak Civan, ihm sexuelle Belästigung vorgeworfen hatte. Wenige Tage zuvor hatte Comedian Mesut Süre seine erfolgreiche Youtube-Show verloren. Innerhalb weniger Wochen nannten Betroffene öffentlich mehr als 100 Namen.

„Diese Welle ist kein neues Phänomen, sondern die Fortsetzung eines langen feministischen Kampfes mit Auf- und Abschwüngen“, erklärt Fulya Kama Özelkan, die im Bereich Gender Studies an der Sabancı-Universität forscht und als Lehrbeauftragte an der Istanbul-Teknik-Universität (ITÜ) tätig ist. Der erste in der Türkei bekannt gewordene #MeToo-Fall betrifft die Vorwürfe gegen Talat Bulut. Im Juni 2018 beschuldigte die Kostümassistentin Özge Şimşek den Schauspieler während der Dreharbeiten zur Serie Yasak Elma der sexuellen Belästigung. Im Dezember 2020 erhoben mehr als 20 Frauen ähnliche Anschuldigungen gegen den Autor Hasan Ali Toptaş.

Die Schriftstellerin Pelin Buzluk machte die Vorwürfe erstmals öffentlich, indem sie ihre Erfahrungen mit ihm auf Twitter teilte. Toptaş entschuldigte sich öffentlich und sprach von unbeabsichtigtem Fehlverhalten, was viele unzureichend fanden. In der Folge kündigte der türkische Verlag Everest die Zusammenarbeit mit ihm, und die geplante Verleihung eines Literaturpreises wurde zurückgezogen.

Das Besondere an der aktuellen Welle ist ihre Reichweite in den sozialen Medien: Die Beiträge verbreiten sich in Instagram-Storys in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund. Frauen schildern detailliert ihre Erlebnisse, nennen Täter. Die Inhalte erreichen innerhalb weniger Stunden Tausende Nutzer. So schrieb Yaprak Civan: „Kurz bevor meine Arbeitszeit im Büro endete, spürte ich etwas an meiner Hüfte. Zuerst dachte ich, es sei mein Schal. Doch als ich danach griff, merkte ich, dass es Selim Evcis Hand war – ich erstarrte.“ Aus Angst vor „Verleumdung“ schwieg sie lange.

Neue Solidaritätsnetzwerke von Frauen in der Türkei

Auch die Fotografin Dilan Bozyel erhebt Vorwürfe gegen den Schauspieler Mehmet Yılmaz Ak, bekannt für seine Rollen in den Serien Bahar und Yargı. Er habe versucht, sie mit vorgehaltener Waffe zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, als beide um die 16 Jahre alt waren. Sie habe sich retten können, aber auch sie schwieg jahrelang.

Die Frauen wirken in ihren Enthüllungen zugleich verletzlich und stark. Sie wollen Mut machen und auf die Strukturen hinweisen, die Gewalt ermöglichen. Dabei bietet Social Media eine Bühne, erhöht aber gleichzeitig das Risiko: „Früher haben drei, vier Leute gegen dich gehetzt, jetzt können es Millionen sein“, sagt Özelkan, die für ihre Doktorarbeit untersuchte, wie sich feministischer Aktivismus gegen sexuelle Belästigung in der Türkei seit der #MeToo-Bewegung sowohl online als auch offline entwickelt, wofür sie Strategien und Solidaritätsnetzwerke von Frauen analysiert.

Plattformen wie Susma Bitsin schaffen neue Räume feministischer Solidarität. Die dort stattfindenden Debatten kreieren ihre eigenen Begriffe: Konzepte wie „rıza inşası“ (Konsensbildung), „fail aklayıcılık“ (Täterreinwaschen) oder „kadının beyanı esastır“ (die Aussage der Frau ist Grundlage) sind mittlerweile Teil der öffentlichen Diskussion. „Sehr junge Frauen führen diese Debatten – und sie tun es mit bemerkenswerter analytischer Schärfe“, betont Özelkan.

Trotz der Sichtbarkeit seit dem Sommer 2025 bleiben die juristischen Folgen der #MeToo-Bewegung begrenzt. Die Türkei trat 2021 aus der Istanbul-Konvention aus, die Frauen und LGBTQ+-Personen besser hätte schützen sollen. Stattdessen greift das Gesetz 6284. Zumindest theoretisch schützt es Frauen vor häuslicher Gewalt, ermöglicht Opfern rechtliche und psychologische Unterstützung und bestraft Täter. Die Realität sieht anders aus: Hohe Beweislast, schleppende Verfahren und fehlende unabhängige Beratungsstellen schrecken Betroffene ab. Auch die Polizei ist oft unzureichend geschult und nimmt Anzeigen nicht ernst genug.

Täter:innen wird häufig Strafmilderung zugesprochen, wenn sie durch Wut oder seelischen Schmerz zu der Tat „provoziert“ wurden. Während die von Gewalt betroffenen Frauen auf der anderen Seite praktisch nie ein klares Nein geben können, ohne dass ihnen Vorwürfe gemacht werden: Kleidung, Alkoholkonsum oder die Uhrzeit ihres Aufenthalts werden ihnen von der Gesellschaft oft als Mitschuld ausgelegt. Gerade aus diesen Gründen ist die Verbreitung der aktuellen #MeToo-Enthüllungen auf Social Media wichtig. Özelkan sagt: „Es ist eine informelle Gerechtigkeitssuche – ein Versuch, dort Gehör zu finden, wo die offiziellen Mechanismen versagen.“

Metoo-Fälle werden in der Türkei nur selten juristisch aufgearbeitet

Ein Beispiel ist der Schauspieler Ozan Güven, der wegen „vorsätzlicher Körperverletzung“ zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt wurde. 2020 hatte ihn seine damalige Partnerin Deniz Bulutsuz beschuldigt, sie geschlagen zu haben. Obwohl das Verfahren noch lief, bekam er im Theaterstück Yedi Kocalı Hürmüz die Hauptrolle. Erst nach der Enthüllungswelle in diesem August erklärte die Produktion, Güven habe gekündigt, um dem Projekt nicht zu schaden – eine Formulierung, die ihn als altruistischen, selbstlosen Mann inszeniert, der aus Rücksicht auf das Ensemble verzichtet.

Doch die Welle zeigt auch ein wiederkehrendes Muster: Auf öffentliche Empörung folgen kurzfristige berufliche Konsequenzen. Nur selten werden die Fälle juristisch aufgearbeitet. Was hingegen entsteht, sind neue Formen feministischer Praxis. Özelkan nennt sie Aktionen des Mikrowiderstands: Frauen würden Filme boykottieren, Netzwerke dokumentieren Vorfälle, ein Café würde Tätern den Zutritt verweigern.

Ob die aktuelle Welle dauerhaft wirkt, hängt davon ab, ob sie institutionelle Strukturen verändern kann. Beispielsweise bräuchte es Intimacy-Koordinator:innen an Sets und verbindliche Richtlinien in Produktionsfirmen. „#MeToo hat den Bruch geschaffen, den feminist snap“, fasst Özelkan zusammen. Der Begriff „feminist snap“ beschreibt den Moment, in dem angestaute Erfahrungen von Gewalt und Schweigen in kollektiven Widerstand umschlagen – ein plötzlicher Bruch, der Debatten anstößt. „Aber solange Täter keine Verantwortung übernehmen und kaum jemand aufrichtig um Verzeihung bittet, wird diese Bewegung weiter nötig sein“.

Eine Entschuldigung hat es immerhin gegeben: Der Comedian Kaan Sezyum schreibt in seiner Instagram-Story, er habe die Situation falsch eingeschätzt und sich sofort entschuldigt. Er könne nur versprechen, dass er in Zukunft niemandem mehr eine so schreckliche Erfahrung zumuten werde. In Zukunft soll es auch in der Türkei Intimacy-Koordinator:innen geben.

Noch nie war die Resonanz auf #MeToo in der Türkei so groß – doch ohne konsequente rechtliche Durchsetzung und strukturelle Veränderungen bleibt es bei einem Aufschrei, der öffentlich sichtbar, juristisch jedoch folgenlos bleibt.