Türkei oder Deutschland?: Doppelte Fanschaft

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Während der Fußballeuropameisterschaft
der Männer
wehen an manchen Autos in Berlin türkische und deutsche Fähnchen
zugleich. Würde man die Fahrer fragen, für welches Team sie denn nun seien,
würden die vermutlich antworten: „Für beide.“ Doch sowohl in der Türkei als auch in Deutschland gefällt diese Antwort nicht allen. Von türkischer Seite
käme Kritik, weil sie die deutsche Flagge zeigen, von deutscher, weil sie die
türkische Fahne hochhalten. Dabei stammt die Familie des Kapitäns der deutschen
Nationalmannschaft aus der Türkei und der Kapitän der türkischen ist in
Deutschland geboren – beweist das nicht deutlich die Verflechtung beider
Länder? Warum sollte man Fans das Recht absprechen, selbst zu entscheiden,
welche Mannschaft sie unterstützen, wenn doch türkische Fußballer in deutschen
Teams und deutsche Fußballer in türkischen Teams spielen dürfen? Warum sollte
die Antwort, man freue sich über die Tore beider Mannschaften, befremden?

Die Realität
lässt leider keine so einfache Schlussfolgerung zu. Sobald die Politik den
grünen Rasen betritt, wird aus dem Spiel ernst, schließen sich die Reihen,
werden Rote Karten verteilt.

Erinnern wir uns: Als Mesut Özil als Spieler
der deutschen Nationalmannschaft 2017 bei Länderspielen die deutsche
Nationalhymne nicht mitsang, entbrannte eine Diskussion darüber, ob er loyal zu
Deutschland steht. Umgekehrt sind in den Augen nationalistischer Kreise in der
Türkei in Deutschland geborene Personen mit türkischem Migrationshintergrund,
die für die deutsche Mannschaft eintreten, Deutsche, deren türkischen Adern
vertrocknet sind. Schlimmer noch, wer sich nicht für die eine oder die andere
Mannschaft entscheidet, wird behandelt, als hätte er sich nicht für das eine
oder das andere Land entschieden. Türkeistämmige Personen, die bei
Fußballspielen in Deutschland für die türkische Mannschaft sind, gelten als
Musterbeispiele gescheiterter Integrationspolitik, genau wie in Deutschland
lebende Personen, die bei Wahlen in der Türkei für Erdoğan stimmen.

Als jemand, der
den größten Teil seines Lebens in der Türkei, die letzten Jahre aber in
Deutschland verbracht hat, kommen mir solche Urteile übertrieben vor. Tatsache
ist, dass Deutschland und die Türkei Länder mit recht unterschiedlichen
kulturellen, politischen, religiösen und nationalen Codes sind. Ihre Geschichte
ist so verschieden, wie es ihre Menschen sind. Soziogenetisch in einem der
beiden Länder aufgewachsen, ist es wirklich schwierig, im anderen Wurzeln zu
schlagen. Entsprechend ist das Dazwischen, in dem die Eingewanderten aus der
Türkei seit 60 Jahren leben, leicht nachzuvollziehen. Dabei ist von
Bedeutung, in welche Richtung sich die Konzepte „Identität“ und
„Zugehörigkeit“, die zahlreichen Problemen zugrunde liegen, entwickelt haben.
Wo fühlen sich die fast drei Millionen türkeistämmigen Menschen in Deutschland
zugehörig? Und was liegt ihrer Wahl zugrunde: Das Gefühl, ausgegrenzt zu sein?
Die wirtschaftliche Situation? Religiöse Überzeugungen? Ändert sich das von
Generation zu Generation? Nähern sich die beiden Gesellschaften im Laufe der
Zeit an oder entfernen sie sich voneinander?

Statt in
Vorurteile zu verfallen, gilt es, die konkrete Situation zu beobachten und
herauszufinden, in welche Richtung es geht, um Lösungen zu entwickeln. Der
Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, Hacı
Halil Uslucan, erwähnte in einem Interview eine interessante Studie, in der
über 2.000 deutsche und türkische Jugendliche im Alter zwischen 14 und 19
Jahren in Deutschland gefragt wurden, wie sie sich definieren. Die deutschen
Jugendlichen sagten an erster Stelle: „Ich bin Deutscher“, dann folgten
regionale oder persönliche Identitäten wie „Berliner“ oder „Bayern München“
oder auch Zuschreibungen anhand von Beruf oder Hobby wie „Ingenieur“ oder
„Musiker“ etc. Auf dieselbe Frage antworten türkische Jugendliche ebenfalls an
erster Stelle mit einer nationalen Zuschreibung, sagen allerdings: „Ich bin
Türke.“ Danach kam „Muslim“ und an dritter Stelle: „Ich bin Ausländer.“ Hier
wird deutlich, dass die ausländische Herkunft zu einem Teil der Identität geworden
ist. Wir haben es hier mit einer Verfassung zu tun, die entsteht, wenn man,
obwohl seit drei Generationen in Deutschland, ständig gefragt wird, woher man
kommt, und spürt, dass diese Frage impliziert, dass man nicht dazugehört.
(Quelle: Jürgen Raithel & Joachim Mrazek: Jugendliche Identität zwischen
Nation, Region und Religion,
2004.)

In einer Studie der Stiftung Zentrum für
Integrationsforschung wurden 2017 Migrantinnen und Migranten aus der Türkei
gefragt, welchem Land sie sich zugehörig fühlen. 37,5 Prozent nannten
Deutschland, über 61 Prozent aber die Türkei. Interessant dabei war, dass auf
die Frage nach der räumlichen Verbundenheit der Prozentsatz jener, die sich der
Türkei verbunden fühlen, seit 2010 kontinuierlich anstieg und 2017 über 50
Prozent kletterte. Die Studie belegt, dass die Schere von Jahr zu Jahr weiter
auseinandergeklafft ist und jene, die sich in erster Linie Deutschland
verbunden fühlen, zur Minderheit wurden.

Hauptverantwortlich für dieses Ergebnis sind
laut den Leitern der Studie zwei Faktoren: einerseits zunehmende Religiosität,
zum anderen nachlassende Interaktion mit der Gesellschaft. Sinkt das Niveau der
Religiosität und steigt die soziale Interaktion, verringert sich die
Verbundenheit mit der Türkei und die Loyalität zu Deutschland und/oder zu
beiden Ländern steigt überdurchschnittlich an. Insbesondere bei der dritten
Generation tritt Verbundenheit mit beiden Ländern in den Vordergrund.

Die Studie ist
äußerst lehrreich. Sie lässt besser verstehen, warum Erdoğan, der der
türkischen Community in Deutschland Identität im Übermaß bietet, die Wahlen
gewann; warum Menschen der dritten Generation die türkische Mannschaft
unterstützen, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, und
welche Folgen der ausgrenzende Diskurs „Du gehörst nicht zu uns“ zeitigt. Je
stärker zunehmende Fremdenfeindlichkeit Ausgrenzung befördert, desto stärker
werden bei Eingewanderten die Bande der Zugehörigkeit zum Herkunftsland.

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Ausgangsfrage: Warum soll nach Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in
Deutschland
doppelte Fanschaft so schwierig sein?

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe