Tourismus: Profitiert Rügen sozusagen von meinem Urlaub?

Sobald der Name Rügen fällt, denkt man an malerische Strände, die prächtige Bäderarchitektur und lebhafte Promenaden. Besonders der Ort Binz mit dem bekanntesten Seebad der Insel zieht viele Touristinnen und Touristen an. Mit mehr als 1,2 Millionen Gästen im Jahr ist Rügen die meistbesuchte Insel Deutschlands – und jeder Vierte davon übernachtet auf Binz. 

In Binz stehen entlang der Promenade opulente Villen mit weißen Balkonen, viele verziert mit Schnitzereien. Doch schon ein paar Meter dahinter sind die Fassaden trister und teilweise unsaniert. Der Kontrast ist so augenscheinlich, dass man sich fragt: Wo landet das Geld, das auf Reisen ausgegeben wird, eigentlich?  

Denn ausgegeben wird in Urlaubsregionen eigentlich immer mehr. Zum einen boomt der Tourismus, von den Stränden der Ostsee bis hin zu den Bergen in Bayern. Und das liegt vor allem an Menschen aus Deutschland. Im vergangenen Jahr haben sie fast 87 Milliarden Euro für Reisen bezahlt – so viel wie nie zuvor, wie die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen ausgewertet hat. Und: Rund drei Viertel aller Menschen aus Deutschland machen Kurzurlaube vor allem im eigenen Land – und geben dabei im Schnitt 1.240 Euro aus. 

Teures Leben, geringe Gehälter

Doch bei den Einwohnerinnen in Touristenregionen kommt von dem Geld offenbar oft nur wenig an. In Deutschland arbeiten 2,92 Millionen Beschäftigte im Tourismus – das sind 6,8 Prozent aller Erwerbstätigen. Studien zeigen, dass die Löhne dort generell gering sind. Die meisten Arbeiter im Hotelsektor sind auf Trinkgelder angewiesen. Das bestätigen auch aktuelle Gehaltsdaten der Bundesagentur für Arbeit, die ZEIT ONLINE ausgewertet hat. Während die Menschen im Mittel bundesweit 3.806 Euro brutto verdienen, liegen die Gehälter der Bewohner von Binz bei nur 2.616 Euro. Geringverdiener erhalten brutto dort sogar nur 2.185 Euro im Monat. Damit ist Binz bundesweit die Kleinstadt mit den niedrigsten Gehältern. Und das, obwohl die Gehälter dort in den vergangen zwanzig Jahren um 15,1 Prozent gestiegen sind.  Nicht nur in Binz ist das so. „Touristische Orte sind häufig in strukturschwachen Regionen“, sagt Felix Kempf, Leiter des Fachbereichs Tourismus und Hospitality an der IST-Hochschule in Düsseldorf. Daher sei dort typischerweise das Einkommensniveau niedriger. Auch auf Norderney liegt das durchschnittliche Gehalt bei 2.880 Euro brutto, also rund 1.000 Euro unter dem Durchschnitt.  

Seit dem Jahr 2002 sind die Gehälter in Binz inflationsbereinigt um 15,1 Prozent gestiegen: von 2.273 auf 2.616 Euro brutto im Monat. Damit liegen die Löhne der Menschen, die in Binz wohnen und sozialversicherungspflichtig angestellt in Vollzeit arbeiten, 1.190 Euro unter dem mittleren Lohn in Deutschland (3.806 Euro). Das geht aus neuen Daten der Bundesagentur für Arbeit hervor, die ZEIT ONLINE exklusiv ausgewertet hat.

Gehaltsentwicklung in Binz seit 22 Jahren
  • Mittleres Monatsgehalt
  • Deutschland im Vergleich
200220072012201720234.000 Euro brutto im Monat3.500 3.000 2.500 2.000 3.806 €2.616 €

Damit die Gehälter besser vergleichbar sind, werden sie hier inflationsbereinigt dargestellt. Das bedeutet: Bei der Auswertung ist berücksichtigt, wie sich Preise, etwa für Lebensmittel oder Wohnen, entwickelt haben, und somit wie viel sich Beschäftigte von ihrem Lohn tatsächlich kaufen können.

Bis Mitte der 2000er-Jahre sanken die Gehälter der Beschäftigten. Damals erlebte Deutschland eine Wirtschaftskrise, und viele Menschen ohne Arbeit mussten schlecht bezahlte Jobs annehmen – auch wegen der Hartz-IV-Reformen. Dann kam es zum Aufschwung, und die Löhne stiegen Jahr für Jahr – bis zur Coronapandemie.

Im Jahr 2020, als die ersten Covid-Fälle in Deutschland auftraten, wuchsen die Verdienste nur noch leicht. Im Jahr darauf sanken sie erstmals wieder bundesweit. Grund dafür waren unter anderem die steigenden Energiepreise und die Kurzarbeit, mit der viele Betriebe versuchten, Entlassungen zu vermeiden. In Binz dagegen sind die Gehälter im Jahr 2023 5,0 Prozent höher als vor der Pandemie.

Gehaltsschere innerhalb der Gemeinde

Geringverdienende, deren Gehälter zu den untersten 20 Prozent in Binz gehören, bekommen höchstens 2.185 Euro brutto monatlich. Die obersten 20 Prozent der Verdiener erhalten hingegen mindestens 3.626 Euro – und damit rund 1,7-mal so viel wie die Menschen in der Gemeinde, die besonders schlecht bezahlt werden. Vergleicht man Top- und Geringverdienende bundesweit, liegt dieser Wert bei 2,1.

Wie groß die Gehaltsunterschiede sind
  • Spitzenverdienende
  • Mittleres Monatsgehalt
  • Geringverdienende
  • Deutschland im Vergleich
200220072012201720236.000 Euro brutto im Monat5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0 5.693 €3.806 €3.626 €2.721 €2.616 €2.185 €

In Binz hat sich der Abstand zwischen ihnen seit dem Jahr 2002 weiter verkleinert. Die höchsten monatlichen Löhne sind hier um 147 Euro (4,2 Prozent) gestiegen, die niedrigen Löhne um 480 Euro (28,2 Prozent).

Das Problem sind jedoch nicht allein die Löhne, sondern auch die hohen Lebenshaltungskosten. In allen Tourismusregionen wie den Alpen, der Nordsee oder im Harz steigen diese dank Inflation. Ohne dass die Bevölkerung proportional von den Einnahmen des Tourismus profitiert. Für eine Wohnung zahlt man in Binz beispielsweise eine durchschnittliche Nettokaltmiete von zwölf Euro je Quadratmeter. Das sind 18 Prozent mehr als noch im Vorjahr und auch deutlich mehr als im bundesweiten Schnitt von 9,17 Euro. “ Aufgrund des erhöhten Fachkräftebedarfs und der Privatvermietungen kann in touristischen Regionen der verfügbare Wohnraum zu klein sein, woraus oft höhere Mieten resultieren“, sagt Ökonom Kempf. Doch nicht nur Wohnen ist teurer: Auch andere Kosten wie für Lebensmittel in Geschäften oder die Preise in Restaurants sind höher. Oft ist auch der öffentliche Nahverkehr teurer als im bundesweiten Schnitt.  

Dafür hat Bernd Eisenstein, Direktor des Deutschen Instituts für Tourismusforschung, eine logische Erklärung: Mit dem Besuch der Touristen am Reiseziel steige die Nachfrage nach bestimmten Produkten dort. Treffe diese erhöhte Nachfrage auf ein begrenztes Angebot, etwa beim Wohnraum, würden die Preise steigen. Touristen, die im Urlaub sind, verfügen in der Regel über eine höhere Kaufkraft, sie sind also schlichtweg bereit, mehr auszugeben als die einheimische Bevölkerung. Anbieter wie Cafés oder Restaurants könnten dadurch wiederum höhere Preise durchzusetzen. Diese Preise müssten dann auch von der einheimischen Bevölkerung gezahlt werden. Hinzukommt, dass es schwieriger ist, Restaurants und Supermärkte auf einer Insel, am Meer, in einem Erholungsgebiet oder auf dem Berg zu beliefern, als beispielsweise in einer Stadt. Das koste eben. 

Wer stattdessen profitiert

Die arbeitende Bevölkerung verdient also wenig und hat hohe Lebenshaltungskosten. Doch wo landet das Geld, das Touristen jedes Jahr dort ausgeben, stattdessen? Vor allem Hotels, Restaurants und Touranbieter leben von Touristinnen und Touristen. In Binz gehören die großen Hotels häufig internationalen Hotelketten oder großen Hotelgesellschaften. Beispiele hierfür sind das Hotel Vier Jahreszeiten Binz, das zur Steigenberger-Hotels-&-Resorts-Gruppe gehört, und das Hotel Grand Palais, das Teil der internationalen Kempinski-Gruppe ist. Bei internationalen Hotelketten wie Marriott oder Hilton fließen deren Gewinne in die Hauptsitze der Konzerne – also in die USA oder nach Großbritannien. Zudem gibt es zahlreiche Hotelanlagen, die von Investoren und Immobiliengesellschaften gehalten werden, die oft über große Immobilienfonds finanziert werden.  

Aber auch Eigentümerinnen von Ferienunterkünften profitieren. Hinzu kommen Einzelhandelsgeschäfte, Kunsthandwerker und Souvenirläden, die ihre Waren an die Besucher verkaufen. Auch Transportunternehmen, Reinigungsfirmen und Bauunternehmer haben etwas von dem Geld der Touristen.  

Doch die Menschen, die in der Gastronomie, im Einzelhandel und im Servicebereich beschäftigt sind, sehen oft nur einen kleinen Teil der Einnahmen. Außer vielleicht, sie arbeiten in einem Sternerestaurant, „da kann man auch mal höhere Gehälter und langfristige Verträge bekommen“, sagt Eisenstein. Viele andere haben nur befristete Verträge oder verdienen im Sommer deutlich mehr als im Winter, was sich nicht mit den hohen Lebenshaltungskosten vereinbaren lässt, die das ganze Jahr über teuer sind. „In der Saison verdienen viele Menschen in touristischen Gebieten gut, aber außerhalb der Saison sieht es ganz anders aus“, sagt der Tourismusforscher. 

Das Problem der Saisonarbeit

Doch sobald die Hauptsaison endet, steigt in Urlaubsregionen oft die Arbeitslosigkeit, wie Daten der Agentur für Arbeit zeigen. In Emden, wozu auch die beliebte Insel Borkum gehört, stieg die Zahl der Arbeitslosen am Ende der Sommersaison, im November 2023, um 7,6 Prozent. Ähnlich sieht die Entwicklung in Langeoog, Spiekeroog und auf Norderney aus. Diese Leute sind meist nur kurzfristig arbeitslos und warten darauf, dass die Touristensaison wieder losgeht. Viele von ihnen wohnen während der Saison in einfachen, vom Arbeitgeber bereitgestellten Unterkünften oder mieten kleine Zimmer. Andere pendeln vom Festland, was jedoch zeit- und kostenintensiv sein kann. 

Dass die Touristen im Winter wieder fliehen, belastet nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch viele lokale Unternehmer zusätzlich. Kleine Geschäfte haben zwar während der Urlaubssaison hohe Einnahmen, wenn die Touristen bei ihnen einkaufen, im Winter fehlen diese Einnahmen aber. Und das drückt wiederum das ganze Jahr lang die Löhne – ein Kreislauf, der letztendlich dazu führt, dass das Geld der Touristen nicht lange auf den Inseln bleibt.