TikTok, Barrikade, Bundestag – Wie die Linke plötzlich wieder Erfolg hat

Wo Heidi Reichinnek auftaucht, warten ihre Fans: Um die Linke-Spitzenkandidatin ist ein überraschender Hype ausgebrochen. Dabei helfen ihr eine Fokussierung auf Kernthemen, ein nahbarer Auftritt in den sozialen Medien – und Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz. Ihr Vorgehen sei „teils schrill“, so ein Experte.

Heidi Reichinnek stellt sich auf einen roten Klebestreifen, den ein Fernsehteam auf den Boden geklebt hat, und blickt in eine Kameralinse. Zwei Mädchen, acht und elf Jahre alt, nähern sich der Linke-Spitzenkandidatin zögerlich. „Können wir noch ein Selfie machen?“, fragt ihre Mutter schüchtern ins Kamera-Set. „Wir sind extra deswegen angereist.“

Der Saal auf dem Veranstaltungsareal Revier Südost in Ost-Berlin, wo sonst auf Partys getanzt und getrunken wird, füllt sich am Dienstagabend immer weiter. „Die Heidi-Fans sind da und stabil“, sagt ein junger Influencer im Kapuzenpullover und Linke-Schal in eine Smartphone-Kamera. Die Stuhlreihen sind voll, auf dem Boden dazwischen sitzen junge Linke im Studentenalter auf dem Boden. Sie tragen Leoparden-Muster-Schlaghosen, Antifa-Shirts, Piercings.

Reichinnek lässt das Fernsehteam kurz warten. Sie legt den Arm um die beiden Mädchen, die Mutter macht ein Foto. Eigentlich, sagt Reichinnek anschließend in die Kamera, sei das alles gar nicht ihr Ding. „Ich bin durchaus sehr, sehr schüchtern und sehe mich eigentlich gar nicht in dieser Rolle.“ Doch jene Rolle wird an diesem Wahlkampfabend deutlich: Die totgeglaubte Linke hat wieder einen Popstar.

Noch vor einem Jahr schien die Partei am Ende, das BSW von Ex-Genossin Sahra Wagenknecht drohte ihr die letzten übrig gebliebenen Wähler wegzunehmen. Doch entgegen aller Abgesänge kommt es in diesem Bundestagswahlkampf anders. Ob Rostock, Salzgitter oder Lüneburg: Überfüllte Hallen und jubelnde Mengen erwarten Reichinnek. Junge Frauen tauschen selbst gebastelte Perlenarmbänder wie bei Konzerten der Popsängerin Taylor Swift. Reichinnek trägt sie bei ihren Reden im Bundestag.

Die Partei steht bei fünf bis neun Prozent in Umfragen, erreicht Rekordmitgliedswerte, mehr als 91.000 sollen es sein. Tendenz: rapide steigend. Im Karl-Liebknecht-Haus gehen die Mitgliedsausweise aus. „Vor ein paar Monaten wären hier vielleicht zehn Leute gekommen, die wir mit Bier hätten locken müssen“, witzelt Reichinnek.

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Die 37-Jährige kommt aus Sachsen-Anhalt, studierte Nahoststudien und Politikwissenschaften, arbeitete mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und in der Jugendarbeit. Für die Linke zog sie 2021 in den Bundestag ein, davor saß sie im Osnabrücker Stadtrat. Auf TikTok folgen ihr mehr als 526.000 Menschen.

Der Höhenflug hat auch mit einem völlig neuen Fokus zu tun: Die chronisch zerstrittene Partei wirkt plötzlich geeint, sammelt sich hinter Reichinnek und dem 63-jährigen Co-Spitzenkandidaten Jan van Aken.

Dabei kam Reichinnek noch durch einen kleinen Putsch an die Spitze der Linke-Gruppe, Wunschkandidatin der Ex-Parteispitze Janine Wissler und Martin Schirdewan war sie nicht.

Statt Stimmen-Wirrwarr der Wagenknecht-Jahre hat die Partei mit ihrem offensiv-positiven Blick auf Migration ein Alleinstellungsmerkmal. Mit einem „Mietwucher-Check“ bietet sie Hilfe beim Mietpreis – und gilt plötzlich auch ganz praktisch wieder als „Kümmerer-Partei“. Mit der Forderung nach der Abschaffung von Milliardären trifft sie den Nerv vieler im Niedriglohnsektor. Die Zeiten, in denen man sich schwere „Sekten“-Vorwürfe machte, erbitterte Intrigen gegeneinander führte und Linke-Promis die Partei wegen Antisemitismus verließen, scheinen plötzlich vergessen.

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Das Auftreten der Partei ist jetzt wieder selbstbewusst. Die Linke-Urgesteine Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow – als „Silberlocken“ im Team angetreten, um die Linke zu retten – singen „Mahna Mahna“ in viralen Internetclips.

„Jungs wählen eher AfD, Mädchen eher die Linke“

Am Dienstagabend tanzen Hunderte zu mit Techno unterlegten Schnipseln aus Gysis Reden, aufgelegt von drei Männern in schwarzen Sturmhauben mit Antifa-Stick, die gemeinsam als „DJ Gysi“ auftreten. Als Reichinnek für die Linke-Bundestagsgruppe eine TikTok-Strategie ankündigte, schüttelten ältere Genossen im Bundestag noch den Kopf.

Reichinnek bricht mit dem üblichen Bild des Politik-Personals: Tätowiert (ihr Vorbild Rosa Luxemburg auf dem Unterarm), teils flapsig (Sie regt sich über „konservative Dullis“ auf), nahbar (spricht offen über Migräne-Anfälle im Bundestag). Bei Popkultur-Referenzen und Internet-Humor wirkt Reichinnek nicht verkleidet (wie die „Silberlocken“).

Auf TikTok erklärt sie Erst- und Zweitstimme, empfiehlt zu Weihnachten ihre „feministischen Lieblingsbücher“, führt aus, wieso ihre Partei keine Konzernspenden annimmt.

Doch der Erfolg Reichinneks hat nicht zuletzt mit der AfD zu tun – und mit Friedrich Merz (CDU). Nachdem der Kanzlerkandidat der Union Ende Januar einen Migrations-Antrag mit Stimmen von AfD, FDP und BSW durchgebracht hatte, attackierte Reichinnek ihn im Bundestag scharf.

„Die Brandmauer in diesem Land, das sind immer noch wir“, rief sie Merz vom Redepult entgegen. Und kündigte Protest an: „Wehrt euch, leistet Widerstand gegen den Faschismus in dem Land!“ Millionen Menschen sollen das Video der Rede seither gesehen haben. Auf einer „Brandmauer“-Demonstration in Köln stand auf einem Schild: „In einer Welt voller Friedrichs, sei eine Heidi.“

Gerade bei Jungen kommt das an. Bei Jungwählern von 18 bis 29 Jahren liegt die Linke laut Forsa-Umfrage mit 19 Prozent der Stimmen vorn, gefolgt von Grünen und AfD. Bei der U18-Wahl sind es gar 20,8 Prozent.

„Unter Jungwählern zeigt sich eine Polarisierung: Jungs wählen eher AfD, Mädchen eher die Linke“, erklärt Uwe Jun, Politikwissenschaftler an der Universität Trier, den neuen Hype um die Linke. Der Wahlkampf sei von einem „Links gegen Rechts“ geprägt, radikale Positionen kämen gut an – von beidem profitiere die Linke massiv. „Reichinneks Auftritt ist teils schrill, teils emotional, teils radikal“, sagt Jun. Das funktioniere insbesondere auf Social Media und unter jungen Großstädtern. Ein möglicher Rettungsanker im Gegenzug für die veraltete Wählerbasis der Partei, die sich teils zum BSW oder gar der AfD verabschiedet hatte.

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Dabei helfe der Fokus auf jenen „Kampf gegen rechts“ und Umverteilungsforderungen, so Jun. „Mehr Sozialpolitik, weniger Kulturthemen.“ Dass die Partei zunehmend in die Todeszone geriet, scheint den innerparteilichen Streit für den Moment verdrängt zu haben. Ob das dauerhaft gelte, sei noch offen.

Nach der Wahl geht’s zur Tätowiererin

Reichinnek will den Erfolg nicht allein als Phänomen internetaffiner, urbaner junger Menschen verstanden wissen. Sie erzählt von Genossen, die seit Jahrzehnten für ihre Partei kämpfen. Von Seniorinnen, die rote Socken und rote Schals für Obdachlosenheime strickten.

„Es ist egal, wie alt man ist. Es ist egal, wo man herkommt, welches Geschlecht man hat. Die Frage ist halt einfach: Bist du solidarisch, oder bist du ein Arschloch?“, fragt sie unter Jubel in Berlin.

Nach der Wahl will Reichinnek Schlaf nachholen. Der Wahlkampf sei aufreibend, die übliche Autogramm- und Selfie-Stunde muss an diesem Dienstagabend ausfallen. Und dann gehe es zur Tätowiererin. „Ich habe gerade in den letzten Wochen gemerkt, wie allergisch vor allen Dingen einige männliche Politiker auf wütende Frauen reagieren“, sagt sie, „und deshalb werde ich mir das als Erinnerung an den Wahlkampf und den erneuten Einzug in den Bundestag tätowieren lassen.“

Zu oft werde die Wut der Frauen als „hysterisch“ abgewertet. Auf ihrem Unterarm soll bald „Angry Woman“ stehen.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Linkspartei.

Source: welt.de