Therapie | Im brüchigen Nest: Die intimen Protokolle von Joan Didion erscheinen posthum

Die große Autorin Joan Didion beschrieb in den „Notizen für John“ ihre Psychotherapie. Die Notizen kreisen um den Alkoholismus der Tochter, Schuld, Mutterschaft und Selbstermächtigung. Jetzt erscheinen sie nach ihrem Tod. Darf man das?


Ihr Verhältnis war komplex: Joan Didion und ihre Tochter Quintana

Foto: Christopher Smith/Invision/AP/picture alliance


Ein zerbrechlicher Vogel, der aus dem vertrauten Nest gestoßen wird, um fliegen zu lernen: Auf dieses Bild greift Joan Didion in ihren Notizen und Briefen zurück, wenn es um ihre Tochter Quintana geht. Das komplexe Verhältnis von Mutter und Adoptivtochter ist Thema der Notizen für John, die die Brüchigkeit des gemeinsamen Nestes in zwei parallel laufenden Therapiesitzungen zu Alkoholismus, Depression, Suizid und Selbstzweifeln enttarnen.

Didions Notizen sind radikale Selbstoffenbarung oder zumindest der Versuch davon. Alle sind im literarischen Du an ihren Mann John verfasst. Er selbst kommt nicht zur Sprache, die Aufzeichnungen sind Beleg dessen, was Joan selbst in ihren Therapiesitzungen fokussiert: der rücksichtslose Bezug zum Ich – ein Mechanismus, der gerade Frauen mit Vehemenz historisch abtrainiert wurde, ist Teil feministischer Einordnungen, die die Notizen nachhallen lassen. Quintana, stark alkoholabhängig und depressiv, über lange Strecken suizidgefährdet, ist Anfangs- und Endpunkt jedes von Joans Gedanken.

Eine Rutschbahn ins Nichts

Didion verhandelt im Gespräch mit Therapeut MacKinnon ihre Schuldgefühle als Mutter und eigene Traumata. Quintanas Gefühle sind Teil einer Mauerschau, die Didion verzweifelt vornimmt. Sie rückt nicht weiter vor, als zu erahnen, was Quintana wohl beschäftigen mag. Fragen nach Schutz und Kontrolle quälen sie. Was ist eine gesunde Trennung von der eigenen Tochter, fragt sie MacKinnon. Er rät ihr vor allem eins: Das Mitgefühl nicht zu verlieren.

Die Notizen zeigen schmerzhaft auf, dass diese Form der Auseinandersetzung mit dem Selbst die richtige Phase im Leben erfordert. Bei Didion wird diese Kategorie des Richtigen an das Alter geknüpft – was sicherlich keine Allgemeingültigkeit einfordert. Die Rutschbahn ins Nichts, auf der Quintana sich laut MacKinnon befindet, ist ein Bild, dem Didion nicht entkommen kann. Akribisch geschilderte Versuche, die Tochter zu unterstützen – finanziell, sozial, emotional –, scheitern dominohaft einer nach dem anderen. Das Unvorhersehbare im Leben setzt sich aus all dem zusammen, was man bereits zu wissen glaubte und nie zu erleben hoffte.

Die Dramaturgie der Notizen spiegelt diese Haltlosigkeit präzise wider, ohne konkretes Ziel, aber als Reflexion eines ganzen Lebens mit Schlaglöchern auf dem Weg. Hilflos und repetitiv lesen sich die Einträge, die vom Beginn des Jahres 2000 bis Anfang 2003 reichen. Während gerade die Anfangszeit der Einträge dicht, drückend und voller anekdotischer Schimmer sind, zerfließen Gedanken und Sitzungen im Verlauf der Edition. Dass Didion vor allem Arbeit als Bewältigungsstrategie gewählt hat, zeigen zeitliche Leerstellen auf – eine schlüssige Konsequenz literarischer Formsprache.

Joan Didions Notizen wirken tief

Einzig das Du erscheint in dieser Zusammenstellung, der Verhandlung von Mutter und Tochter, Sucht und Trauer, kaum von Belang. Viel prägnanter – parallel zum Fortschreiten der Zeitstempel der Notizen – ist der alternde Körper Didions, der vom Hüftbruch bis zur Krebserkrankung dem Unvorhergesehenen ausgeliefert ist.

Was sie hier beginnt, ist Teil einer sich fortsetzenden literarischen Spur, die weibliches Altern zunehmend in den Blick nimmt – seine Prekarität und komplexe Verschränkung von Stärke und Zerbrechlichkeit. Die Notizen wirken tief und sind trotzdem nur Protokoll. Sie spiegeln innere Wirklichkeit in der Form zweier Leben, von denen eins greifbar wird und das andere in der Schwebe bleibt – eine Therapie für sich, qualvoll, ehrlich und Ausdruck eines Selbstverständnisses feministischen Sichtbarmachens.

Die Veröffentlichung in den USA löste Anfang des Jahres bei einigen KritikerInnen heftiges Unbehagen aus, sie fragten sich, ob die große Stilistin Didion der Publikation dieser privaten Aufzeichnungen zugestimmt hätte. Was die Notizen für John eindrücklich zeigen: Wie zerbrechlich der Baum war, auf dem dieses Nest gebaut wurde.

Notizen für John Joan Didion Antje Rávik Strubel (Übers.), Ullstein 2025, 256 S., 23,99 €