Theater: Unbesiegbar?

Es gibt keine Weltgegend, in der die Theaterhäuser so dicht gesät sind wie hier. Von Flensburg kurz vor Skandinavien bis nach Konstanz an der Schweizer Grenze, von Aachen im Dreiländereck bis nach Cottbus im äußersten Osten – man könnte monatelang durch das Land reisen und jeden Abend ein Theater besuchen, ohne ein Stück zweimal sehen zu müssen. Deutsches Theater, tapferes immaterielles und materielles Weltkulturerbe! Es behauptet sich gegen allerhand Plagen: gegen billigere, bequemer anzapfbare, süchtig machende Unterhaltungsquellen. Gegen rechtsradikale Politiker, die für den Fall ihrer Machtübernahme mit Etatkürzungen und Programmeingriffen drohen. Hellhörig und gerecht soll es auf die Weltlage reagieren (was soll man spielen nach dem 24. Februar 2022? Darf man überhaupt noch spielen nach dem 7. Oktober 2023?). Und es sollte möglichst die Welt retten.

Spaß machen sollte das Theater obendrein auch noch – denen, die zusehen, und auch denen, die mitspielen. Letztere tun das oft in komplizierten hierarchischen Verhältnissen (Stichwort: Intendanten und ihre Macht).

Ist das alles denn überhaupt zu schaffen? Das kann nur die Zuschauerin oder der Zuschauer beurteilen: Indem sie und er hingehen. An den Ort, an dem es noch gibt, was sonst kaum irgendwo zu haben ist: „Öffentlichkeit unter Anwesenden“ (Alexander Kluge).

Ziehen wir also los! Werfen wir einen – höchst subjektiven – Blick auf das, was uns in diesem Herbst erwartet.

Niemand kommt hier unbemerkt raus

Ein neuartiges Virus befällt die Menschen. Es hat die Wirkung, dass zwei, die einander berühren, sich nie mehr voneinander trennen können. Sie bleiben aneinander kleben und müssen ein synchrones Leben führen. Welche Folgen hätte die Seuche für unsere Gesellschaft? „Es entstehen immer mehr Menschenklumpen (…) Wuchernde Menschenklumpen, die sich durch die Straßen wälzen. Wer in der Mitte von so einem Klumpen feststeckt, der hat mal richtig Pech.“

Das Virus ist der Fantasie der deutschen Dramatikerin Dea Loher entsprungen. Sie lässt es in ihrem neuen Stück auf die Welt los – als bizarre Utopie. Frau Yamato ist noch da handelt von Menschen, die eher nicht in Klumpen leben und sich auch nicht wie Laich durch die Städte wälzen. Im Gegenteil: Sie sind von Unverbindlichkeit und Kontaktunfähigkeit gezeichnet. Für sie wäre ein Virus, das sie mit anderen zusammenklebt, vielleicht die Rettung.

Aber das würden sie niemals zugeben. Frau Yamato ist noch da erlebt am 11. Oktober am Schauspiel Stuttgart seine deutsche Erstaufführung. Wichtigster Schauplatz ist ein Haus, dessen Bewohner sich höflich ignorieren und aneinander vorbeilächeln. Wie man es in Städten so macht. Loher erzählt von dem, was sich an Unglück im toten Winkel der Ignoranz staut: Sie zeigt die Kehrseite dieses absurden Nichtwahrnehmungszwangs, die Einsamkeit. Personifiziert wird das Phänomen durch die Titelfigur, die ihre Wohnungstür offen lässt, um in Verbindung zu sein mit denen, die draußen vorbeiziehen. In dieser Rolle ist Nicole Heesters zu sehen, die ihren ersten Filmerfolg sagenhafterweise schon 1955 hatte, neben Paul Dahlke und Günther Lüders in Drei Männer im Schnee.


Theater: Die Tür zum Treppenhaus muss offen sein. Szene aus "Frau Yamato ist noch da", bald in Stuttgart zu sehen.

Die Tür zum Treppenhaus muss offen sein. Szene aus „Frau Yamato ist noch da“, bald in Stuttgart zu sehen.

Wer hat die besten Karten?

Zur Gattung der Menschenwimmelstücke zählt auch Glaube, Geld, Krieg und Liebe, das am 29. September an der Berliner Schaubühne uraufgeführt wird. Der kanadische Regisseur Robert Lepage, legendärer Nomade des Welttheaters, entwickelt mit dem Ensemble der Schaubühne dieses Stück – Handlungsort Deutschland – aus Improvisationen, die auf Tonband dokumentiert werden. Wichtigstes Requisit ist ein Kartenspiel, dessen Farben bestimmten Themenfeldern zugeordnet werden: das Herz der Liebe, das Kreuz dem Glauben, Pik dem Krieg und Karo dem Geld. So entstehen vier Handlungsstränge, die 80 Jahre umfassen. „In diesem Punkt“, sagt Lepage, „ist Deutschland einmalig: In einem eng umrissenen geografischen Raum und in einer kurzen Zeitspanne fanden hier alle möglichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen statt.“

Gespenster in Frankfurt

Gleich zu Beginn der Saison sehen wir den viel beschäftigten Wolfram Koch als Mephisto in Goethes Faust – in jener Stadt, in der Koch ansonsten als Tatort-Kommissar ermittelt, in Frankfurt am Main. Am Schauspielhaus interessiert sich der Regisseur Jan-Christoph Gockel speziell für den zweiten Teil des Faust, in dem der Titelheld, getrieben und gelenkt von seinem persönlichen Teufel, dann aber zunehmend diesem vorausstürmend, als Ausbeuter und Menschenschinder kenntlich wird:

„Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte ließ ich fahren,
Was mir entwischte ließ ich ziehn.“