„The Outrun“: Porträt einer havarierenden jungen Frau
It’s all fun and games until it
ain’t.
Eine junge Frau droht im Londoner Nachtleben unterzugehen und zieht sich auf
die unwirtlichen nordschottischen Orkneys zurück, um dort zu entgiften. Trinken
als Gestrandetsein, als Unmöglichkeit einer Insel, das scheint auf den ersten
Blick das Kernthema von Nora Fingscheidts neuem Spielfilm The Outrun zu sein.
Fingscheidt,
die in kürzester Zeit zu einem deutsch-internationalen Shootingstar geworden
ist, hat ein Faible für Frauenfiguren im Zustand insularer Vereinzelung. Systemsprenger von 2019, ihr Debütfilm
und Achtungserfolg auf der Berlinale, erzählte von einer traumatisierten und infolgedessen
aggressiven Neunjährigen – eine Art vorpubertäre Variation von William
Friedkins The Exorcist, nur ohne den
grünen Schleim und die fantastischen, blasphemischen Provokationen. Mit dem
Nachfolger The Unforgiveable schloss
eine Netflixproduktion an, in der Sandra Bullock als Polizistenmörderin um
ihre Resozialisierung ringt.
Gemeinsam
mit der irisch-amerikanischen Produzentin und Hauptdarstellerin Saoirse Ronan
hat Fingscheidt nun die Entzugsmemoiren der schottischen Autorin Amy Liptrot
als sturmumtostes Porträt einer havarierenden, jungen Frau verfilmt. Am Anfang
steht eine zweiminütige Auflistung zumeist deutscher Fördermittel. Mit der
Aufblende geht es ans Eingemachte. Die von Ronan mit so unermüdlichem wie
bravourösem Einsatz verkörperte Protagonistin Rona entflieht dem Hedonismus der
Clubkultur, um in ihrer Heimat, den schottischen Orkneyinseln, trocken zu
werden und Vögel zu beobachten.
Wer
nur ansatzweise mit den atavistischen Gepflogenheiten des neoliberalen
Arbeitslebens und anschließenden Ausgehens vertraut ist – work hard, play hard, overtime
und overdose – kann sich vorstellen,
dass Rona einiges durchmachen muss. Die ersten Bilder des Films gehören den
letzten Resten schal gewordener Drinks, warm und klebrig, die von der
studierten Biologin rücksichtslos im Club hinuntergestürzt werden. Ruppige
Technobeats feuern im Hintergrund an: Jetzt bloß nicht schlapp machen! Es
folgen Blackouts, Erbrechen, Gelöbnisse der Besserung, abgebrochene Brücken zu
Freunden und Partnern.
Entzug,
das bedeutet nicht nur die Abstinenz von der Droge, sondern auch den Bruch mit
dem gewohnten Umfeld. Allein, Ronas Elternhaus im rauen Norden ist nicht
intakt, die Mutter (Saskia Reeves) hat sich tief verstiegen in die
Religiosität, der Vater (Stephen Dillane) ist bipolar und kann mit seinem
Gehöft kaum den eigenen Lebensunterhalt bestreiten. Wirklich clean ist auch
hier niemand. Eine besonders abgelegene Insel, dort soll Rona für eine
britische Naturschutzbehörde den vom Aussterben bedrohten Wachtelkönigen
nachspüren, bietet endlich ein Refugium. Vor den dunklen Grüntönen von Feldern,
Meeresbrandung und Seetang, die Fingscheidt und ihr Kameramann Yunus Roy Imer
als steten Wechsel von Totalen und Großaufnahmen arrangieren, beginnt Ronas
giftige, petrolfarbene Raver-Frisur langsam herauszuwachsen.
Die
nonlineare Erzählstruktur und auch der Titel des Films zielen insofern auf eine
geradezu metaphysische Vor- und Rückwärtsbewegung ab: now and then, Ebbe und Flut. The
Outrun, das bezeichnet speziell im schottischen Englisch nicht nur ein
abgeschiedenes Weideland, sondern kann als Verb auch ein erfolgreiches Fliehen,
Überwinden oder Übertrumpfen meinen. Traumatische Rauscherlebnisse aus Londoner
Zeiten, Kindheitserinnerungen, Rückfälle und Rückbesinnungen von Rona wechseln
einander im Laufe des Films mit Bilderschnipseln und Ausführungen zu Flora,
Fauna, Mythen und Gezeiten der Orkneys ab.
Natürlich
stellt man sich irgendwann die Frage, worauf dieser erzählerische Tidenhub
eigentlich hinaus möchte. Die ökonomische Misere von Ronas Vater, seine
Frustration, die religiöse Verblendung ihrer Mutter, Ronas neugewonnenes
Interesse an ökologischen Themen werden zum Platzhalter unterschiedlicher
Welterklärungsmodelle, Sorgen und Nöte.
Einerseits
scheint The Outrun diese
Lebensrealitäten und Weltanschauungen in eine Art distanziertes
Nachbarschaftsverhältnis von versprengten, nebelverhangenen Inseln
einzusortieren, Distanz zu betonen. Andererseits scheint Nora Fingscheidt genau
darum zu wissen, dass die Mythologie der Orkneys, Geschichten von ertrunkenen
Seeleuten etwa, die in der Gestalt von Seehunden ihrer Rettung harren, sich gar
nicht so sehr unterscheiden von den Herausforderungen unserer
gesellschaftlichen Gegenwart. Man kann sich selbst eben auch nicht in den
abgelegensten Winkeln der Welt entkommen. Und mit dem tosenden Ozean direkt vor
der Haustür rückt nicht nur die persönliche, sondern auch die ökologische
Entgiftung in den Mittelpunkt.
In
einer Schlüsselszene, die Mutter und Tochter miteinander vereint, beginnt Rona
nun davon zu schwärmen, wie man Seetang zur Rettung des Klimas einsetzen
könnte. Im Umschnitt von einem Gesicht zum anderen, von der beseelten Tochter
zur plötzlich ganz stutzig gewordenen Älteren, verschwimmt, ob es sich bei
ihrer jeweiligen Haltung um Empathie, Selbstüberschätzung, Erkenntnis oder
Trugbild handelt.
Hinter
allem schottischen Inselkolorit gibt es in The
Outrun den spezifisch deutschen Hang, ein eh schon freudloses Grundthema
mit den ganz großen Katastrophen und dem ganz großen Idealismus zu verknüpfen.
Mit ein bisschen mehr Risikobereitschaft oder Leichtsinn hätte The Outrun ein Film werden können, der
trotz oder gerade wegen seines Themas wie Champagner für die Augen wirkt. Als
didaktische Warnung vor den Gefahren von Exzess und Rausch, als Verteidigung
von sogenannter self care,
Selbstoptimierung und lebensreformerischer Achtsamkeit dürfte ihm immerhin ein
nahtloser Anschluss an den Zeitgeist bestimmt sein: It’s supposed to be fun and games, but it ain’t.
„The Outrun“ läuft im Kino.