Terroranschläge in Paris 2015: Es geschah, wo wir getrunken, geredet und gefeiert hatten
In Paris war vor dem 13. November 2015 die Frage nicht, ob es zu Anschlägen kommen würde. Sondern nur, wann und wo, erinnert sich Romy Straßenburg. Dem Schock von Bataclan und Stade de France folgte Starre. Frankreich rang um seine Freiheit
Die Place de la République in Paris am 10. November 2025, kurz vor dem zehnten Jahrestag der Terroranschläge in der französischen Hauptstadt Paris
Foto: Laurent Caron/Hans Lucas/AFP/Getty Images
In meinem Kopf bin ich diese eine Nacht des 13. November 2015 hundertmal durchgegangen. Ich versuche, mich an Details zu erinnern. Ich schaue mir Bilder aus jenen Stunden an, lese Interviews, höre Augenzeugenberichte. Ich spüre, wie am Ende alles zu einem tauben Gefühlsklumpen zusammenschmilzt. Hundertmal habe ich mich gefragt, was ich selbst im Kugelhagel getan hätte. Habe mir hundertmal vorgestellt, wie groß ein Haufen mit 130 übereinandergelegten Leichen sein muss und wie viele Helfer es braucht, um 350 Verletzte zu versorgen.
Paris verlassen?
Und hundertmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, Paris zu verlassen. An diesem Freitagabend vor zehn Jahren schlug der islamistische Terror mitten im Herzen von Paris zu, wo ich schon einige Jahre lang lebte. Seit dem mörderischen Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo nur wenige Monate zuvor wussten wir ja bereits, wie sehr Europa ins Visier des Islamischen Staates geraten war und dass diese Terrorgruppe weltweit Kämpfer zu rekrutieren suchte, die in ihren Heimatländern zuschlagen sollten, um unsere vermeintlich abtrünnigen, pervertierten Gesellschaften durch Gewalt zu erschüttern. Die Frage sei nicht, ob es zu Anschlägen kommen würde, sondern nur, wann und wo.
Doch das, was in nur einer Nacht geschah, überstieg unsere schlimmsten Befürchtungen. Männer, die versuchten, mit Sprengstoffgürteln ins vollbesetzte Stade de France einzudringen, wo gerade Frankreich gegen Deutschland Fußball spielte. Mehrere Terrorkommandos, die zeitgleich gezielt Menschen auf Café-Terrassen abknallten und den Konzertsaal Bataclan stürmten, wo sie ein Massaker anrichteten, Geiseln nahmen. In dieser Nacht war Paris kein Fest des Lebens, sondern des Tötens. An den Orten, an denen ich mit Freunden getrunken, geredet und gefeiert hatte, in den Cafés, die stets wie ein Zuhause waren, lagen reglose Körper, ineinander verschlungen, durchsiebt von Kugeln, verblutet.
François Hollande antwortete mit Militär und Überwachung
Mit dieser Nacht begann eine neue Zeit. Eine Epoche voller Angst vor Angriffen, die jeden, zu jeder Zeit, an jedem Ort treffen konnten. In dieser Nacht starben nicht nur 130 Menschen, sondern auch unsere Unbeschwertheit, unser Glaube an die Kraft des Miteinanders, unsere Art zu leben. In kollektiver Schockstarre billigte die Mehrheit der Franzosen, dass Präsident François Hollande sich stärker an der Seite der internationalen Terrorallianz gegen den IS engagierte und den Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse bei der Überwachung zugestand. Durch verstärkte Präsenz von Polizei und Militär auf den Straßen sollten sich die Menschen geschützt fühlen.
Überall mussten wir uns im Namen der Sicherheit von kleinen und größeren Freiheiten verabschieden. Unsere Liberté war wohl der höchste Preis, den wir in den Jahren danach zu zahlen hatten, und ihr Verlust wirkt bis heute nach.
Die Urteile im größten Gerichtsprozess Frankreichs waren nur ein schwacher Trost
Als 2022, beim größten Prozess in der Geschichte des Landes, schließlich 19 Unterstützer der Terrorgruppe sowie der einzige überlebende Attentäter und Drahtzieher Salah Abdeslam zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, war das nur ein schwacher Trost für die Narben aus dieser Nacht.
Aber Paris ist trotzdem seinem Motto treu geblieben, wie es schon auf dem mittelalterlichen Stadtwappen über einem Segelschiff zu lesen ist: „Fluctuat nec mergitur“ (Es schwankt, aber es geht nicht unter). Schon wenige Tage nach der Terrornacht saßen wir wieder auf den Café-Terrassen. Das Fest fürs Leben ging weiter.