Terror | Leseprobe: Verhängnisvolle Junggesellenparty in Südfrankreich

Vorsichtig sah Amir auf. Ein paar wimmernde Barbesucher robbten links von ihm durch Glassplitter, suchten Schutz hinter Tischen. Ihre blutigen Handflächen schienen sie nicht zu bemerken. Im Augenwinkel sah er ein paar junge Frauen in Richtung Ausgang rennen, der Mann, der Wache stand, ließ sie hinaus.

Ich muss auch raus. Jetzt.

Voller Verzweiflung ging Amir auf alle viere und begann, zum Ausgang zu kriechen. Übelkeit überkam ihn, alles verschwamm vor seinen Augen. Er drehte sich auf die Seite und erbrach eine Mischung aus Essensresten, Alkohol und Galle. Da fielen ihm plötzlich die anderen ein. Ob die immer noch da oben waren? Als er sich zur Treppe umdrehte, traf ihn etwas mit enormer Wucht ins Kreuz. Er wurde nach vorn geschleudert und schlug mit dem Gesicht auf dem Parkett auf. Wieder füllten sich Nase und Mund mit warmer Flüssigkeit.

Blut. Jetzt hat’s mich erwischt. Die haben mir in den Rücken geschossen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Um ihn herum nahm er wahr, wie schreiende, um ihr Leben rennende Menschen flüchteten, doch Amir konnte sich nicht mehr bewegen.

Kapitel 1 Nizza, Freitag, 12. Juni 2015

Um die Mittagszeit landete das Flugzeug in Nizza. Sie wurden am Ausgang abgeholt, an erwartungsvollen, fröhlichen Touristen und gestressten Geschäftsleuten vorbeigelotst und zu einem schwarzen Citroën C5 gebracht. Freundlich lächelnd hielt ihnen ein Chauffeur die Wagentür auf. Schon auf der gut vierzig Minuten langen Fahrt nach Cap d’Antibes floss der Champagner.

Amir Yasin saß eingeklemmt zwischen seinen Freunden hinten auf dem Rücksitz und versuchte zu vermeiden, die weißen Ledersitze zu bekleckern. Das bekannte Gefühl von prickelnder Vorfreude auf den Urlaub hatte sich bereits eingestellt.

Rechts von Amir saß sein engster Freund, Manfred Halvarsson, ein blasser Mann, fünfunddreißig, den erstaunlich viele Menschen für fade und langweilig hielten. Doch weit gefehlt, Manfred konnte sehr unterhaltsam sein. Sein Lehrauftrag für Zivilrecht an der Uni war genau das Richtige für ihn, obwohl er immer wieder behauptete, dass ihm jede Form von Unterricht verhasst sei, ebenso wie die meisten seiner Kollegen und mit wenigen Ausnahmen auch alle Jurastudenten.

Zu Amirs Linken saß der Mann, der der eigentliche Grund für ihre Reise war: Fredrik Cederbeck, der in wenigen Wochen in der Storkyrka in Stockholm den Bund der Ehe schließen wollte. Dass Fredrik heiraten würde, hatte sie alle überrascht, ihn selbst möglicherweise auch. Amir vermutete, dass Fredriks Eltern am Ende ein Machtwort gesprochen hatten und der Sohn sich nun endlich in das Bild der so erfolgreichen Familie Cederbeck einfügen sollte. Nicht dass der Sohn ein schwarzes Schaf gewesen wäre, er hatte durchaus seinen Platz im Unternehmensimperium der Familie gefunden, auch wenn er die Prüfungen in Wirtschaftswissenschaften nur mit Ach und Krach bestanden hatte. Das Problem war eher, dass er in den vergangenen sechs Jahren zwei Kinder mit einer der Sekretärinnen gezeugt hatte, ohne auch nur einen Gedanken an eine dauerhafte Beziehung zu verschwenden. Zumindest nicht mit ihr. Nachdem Fredrik Sophie kennengelernt hatte, war die Zeit also reif, solide zu werden.

Vom Vordersitz ertönte eine helle und etwas leiernde Stimme. Carl Ludwig Bergenrud erklärte dem einheimischen Chauffeur mit großem Engagement und in einwandfreiem Französisch, wie sich die französische Innenpolitik unter Präsident Hollande verändert hatte. Der Chauffeur gab hin und wieder höflich ein paar zustimmende Laute von sich

Im selben Takt, in dem sich die Champagnerflaschen leerten, näherten sie sich ihrem Fahrtziel. Der Fahrer drosselte das Tempo, als sie durch die pittoresken Gassen von Antibes fuhren und die stattliche Burganlage passierten. Überall saßen Menschen und genossen unter rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen ein spätes Mittagessen.

»Und ich habe immer behauptet, Stockholm sei die schönste Stadt der Welt.« Grinsend lehnte Fredrik sich durch das offene Wagenfenster, während sie auf der kurvigen Küstenstraße zu der Halbinsel Cap d’Antibes weiterfuhren. Segelboote und Jachten glitten langsam über die grün schimmernde Wasseroberfläche. Vor ihnen lagen einige der teuersten Villen der Welt, inmitten von Felsen und blühender Vegetation. Die meisten waren mit Überwachungskameras ausgerüstet und hinter hohen Zäunen verborgen. Wie Saint-Tropez war auch Cap d’Antibes ein Spielplatz der Reichen und Schönen.

»Und, bist du mit unserem Reiseziel zufrieden?« Belustigt wandte sich Ludwig an Fredrik, der, ganz wie es seine Art war, die letzten Tropfen in sein eigenes Glas leerte.

In dem Moment bog der Wagen auf einen gekiesten Hof ein, wo ein Hotel mit sandfarbener Fassade und königsblauen Balkongeländern stand.

Das Foyer, das mit italienischem Marmor ausgestattet war, war menschenleer. Ludwig betätigte die goldfarbene Glocke auf dem exklusiven Schreibtisch.

»Was ist das denn für ein Ort, richtig spooky!« Manfred wies auf eine Reihe von Bildschirmen, die unter anderem einen eleganten Pool mit Jacuzzi zeigten, offenbar befand sich das Spa im Keller des Hotels. »Wer hockt hier wohl sabbernd und stalkt seine ahnungslosen Gäste im Wellnessbereich?«

Bevor einer von ihnen antworten konnte, ertönte durchdringendes Gebell, und zwei riesige, graue Deutsche Doggen kamen hinter ihnen die Treppe hinaufgesprungen, gefolgt von einem jungen Mann mit arroganter Miene. Mit gekünsteltem Lächeln fragte er, ob sie gebucht hätten, dabei war deutlich zu spüren, dass es ihn insgeheim gefreut hätte, wäre dies nicht der Fall gewesen. Was die Arroganz anging, hatte er jedoch seinen Meister gefunden. Nur Minuten später hielt Ludwig ihre Zimmerschlüssel in der Hand, und kurz darauf führte sie die Eigentümerin, eine elegante, ältere Dame, zu ihren Räumen. Zu Ludwigs Ärger folgten ihr sogar die Hunde.

Bevor jeder sein Zimmer aufsuchte, erinnerte Ludwig sie an ihren Treffpunkt um 18 Uhr vor dem Hoteleingang.

»Dann werden wir abgeholt und nach Juan-les-Pins gebracht. Das Programm für den Abend ist streng geheim, aber unser bescheidenes Ziel ist es natürlich, ihn unvergesslich zu machen.«

Kapitel 2 Stockholm, Freitag, 12. Juni 2015

Hanna Fredriksson war zu spät. Schon wieder. Vergeblich versuchte sie, mit ihrer Tochter Schritt zu halten, die buchstäblich zum Eingang ihrer Schule flog, während sie einen träumenden Siebenjährigen hinter sich herzog, der alle Zeit der Welt zu haben schien. Wenn sie etwas nicht ausstehen konnte, dann waren es Klassenfeste.

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Mama, beeil dich. Die anderen sind schon da.« Nils riss sich von ihrer Hand los und verschwand in der Masse von kreischenden Kindern und laut plaudernden Eltern.

Hanna rief ihren Kindern noch etwas hinterher, doch es war völlig aussichtslos, zu ihnen durchzudringen. Daher ging sie erst einmal zum Büfett und stellte diskret ihre Schüssel ab. Zum vierten Mal in Folge hatte sie nur eine Schale Popcorn dabei, weil ihr die Fantasie (oder Zeit) für ein vorzeigbares Gericht gefehlt hatte. Einmal war sie von einer der Bilderbuch-Mütter, die mit selbstzufriedenem Lächeln gerade eine große Platte mit selbst gebackenem Apfelkuchen auf dem Tisch platzierte, dabei ertappt worden und knallrot angelaufen. Leider gab es an ihrer Schule viele davon. Zu viele.

Nachdem sie sich einen Becher Kaffee eingeschenkt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Eltern, die sie kannte. Im Schulhof standen einige in kleinen Grüppchen herum und unterhielten sich gut gelaunt. Hanna hoffte inständig, nicht gerade Nils’ Klassenlehrerin über den Weg zu laufen. Die Pädagogin ließ sich keine Gelegenheit entgehen, die Eltern mit Klagen über kleinere oder größere Defizite ihrer Kinder zu quälen. Bei der letzten Weihnachtsfeier musste Hanna eine halbe Stunde Kritik an Nils’ anhaltender Konzentrationsstörung und der besorgniserregenden Unordnung in seinem Schulranzen über sich ergehen lassen.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als eine schick gekleidete, rothaarige Frau in den Vierzigern hinter ihr auftauchte und ihr den Arm um die Schulter legte.

»Da bist du ja endlich. Ich nehme an, auch dieses Jahr wieder spät dran?«

»Ich hab grad viel im Büro zu tun«, murmelte Hanna.

Hanna kannte Louise Bergenrud seit Jahren, denn ihr Mann Ludwig und Amir waren alte Studienfreunde. Sie wohnten auch nicht weit voneinander entfernt, und Hannas zwölfjährige Tochter Alice ging mit Louises Zwillingen Baltasar und Fanny in dieselbe Klasse.

»Hast du schon was von Amir gehört? Ludwig hat mir geschrieben, dass sie gut gelandet sind.« Louise lächelte die Rektorin, die gerade vorbeiging, zuckersüß an. Dann richtete sie ihren Blick auf ihre Kinder, die ein Stück entfernt auf dem Fußballplatz Brennball spielten.

»Nein, noch nicht. Er wollte sich melden, wenn sie im Hotel angekommen sind.« Da erst merkte Hanna, dass ihr in dem allgemeinen Trubel gar nicht aufgefallen war, dass Amir sie noch nicht angerufen hatte, und sofort machte sich das schlechte Gewissen bemerkbar.

»Mama, jetzt komm endlich!« Nils war wieder da und zog Hanna in den hinteren Teil des Schulhofs. »Wir wollen Tauziehen spielen. Meine Lehrerin macht auch mit.«

Kapitel 3 Cap d’Antibes, Freitag, 12. Juni 2015

Da noch genügend Zeit war, ergriff Amir Yasin die Gelegenheit und machte einen Spaziergang. Nach kurzer Zeit schon stand er vor einem Strandcafé. Er hatte Glück und fand einen freien Tisch, zwischen lauter französischen Familien, die sich angeregt unterhielten und die Sonne genossen. Der Rosé floss reichlich. Nur wenige Tische entfernt saß ein schwedisches Paar, das offenbar ein Haus in der Gegend besaß. Sie unterhielten sich leise und nicht gerade zärtlich. Gehetzte, aber sehr freundliche Kellner balancierten Platten mit Hummersalat und Austern.

Amir betrachtete den kleinen Strand und die grün blühende Landzunge, die zwischen den steilen Klippen und der Brandung hervorstach, verfolgte den geschlängelten Weg dicht am Meer entlang. Dies war ganz sicher einer der schönsten Ausblicke, die er je gesehen hatte. Viel gereist war er allerdings noch nicht. Im Grunde war es eigenartig, dass gerade er an diesem Ort gelandet war, zudem in dieser Gesellschaft.

Amir war als Kind mit seinen Eltern Donia und Karim nach Schweden gekommen. Die Familie hatte sich in Husby, einem Vorort von Stockholm, niedergelassen. Obwohl diese Gegend ein sozialer Brennpunkt war, erfuhr Amir dort viel Geborgenheit und verbrachte eine äußerst glückliche Kindheit. Sein Vater arbeitete in einer Autowerkstatt nicht weit entfernt, und seine Mutter hatte eine Putzstelle in einem Krankenhaus ganz in der Nähe.

Erst als Amir die Schule schon einige Jahre besucht hatte, wurde ihm klar, wie schwer es für den Großteil der Jugendlichen in Husby war, ihren Platz in der schwedischen Gesellschaft zu finden. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die die schwedische Sprache sehr schnell gelernt hatten, konnten die Eltern von Mitschülern nach Jahren noch kein Wort. Karim, der die Werkstatt schrittweise übernehmen konnte, war klug genug, zu verstehen, dass es für Amir in Husby keine Zukunft gab. Tag für Tag predigte er seinem Sohn, wie wichtig gute Noten seien, damit er eine Chance auf einen Studienplatz an der Universität hatte.

»Du musst Husby verlassen. Das ist die einzige Möglichkeit, wenn du nicht bei mir in der Autowerkstatt enden willst«, war seine Rede.

Und sie wirkte. Amir liebte seinen Vater und war stolz auf ihn, dass er es geschafft hatte, als Selbstständiger aus dem Irak in Schweden Fuß zu fassen. Er selbst konnte sich allerdings nicht vorstellen, sein Leben umgeben von Dreck und giftigen Abgasen zu fristen.

Es war Amir immer wichtig gewesen, seinen Eltern ein bisschen von dem zurückzugeben, was er als Kind bekommen hatte und damit seine Wertschätzung zu zeigen. So waren Hanna und er auf die Idee gekommen, die beiden zu einem Sommerurlaub nach Mallorca einzuladen.

Es war die allererste Urlaubsreise seiner Eltern gewesen, vielleicht war sie deshalb nicht recht geglückt. Karim wanderte pausenlos zwischen Pool und dem üppigen Büfett hin und her und fragte unruhig und mit genervter Stimme, was denn jetzt zu tun sei. Oder, wie er es ausdrückte: »Wo ist Urlaub?«

Donia war mit der Reinigung im Hotel unzufrieden und bestand darauf, die Böden jeden Abend selbst zu wischen. Das Ganze hätte wirklich mit einer Katastrophe enden können. Nämlich wenn Hanna, mit der Amir sich erst kurz zuvor verlobt hatte, nach dieser Erfahrung das Weite gesucht hätte. Doch glücklicherweise war seine Angst unbegründet gewesen.

Amir hatte an der Universität Stockholm Betriebswirtschaft studiert. Wie stolz waren seine Eltern gewesen, als er mit dem Zulassungsbescheid in der Tür stand! Und an der Uni hatte er dann die anderen kennengelernt. Ludwig und Amir wetteiferten immer um die besten Noten, und Fredrik schaffte seine Klausuren, indem er die Mitschriften der anderen aus den Vorlesungen kopierte.

Dann hatte Amir eine Stelle bei einem mittelständischen schwedischen Unternehmen gefunden. Die Arbeit gefiel ihm, auch wenn er natürlich bei Weitem nicht so viel verdiente wie Ludwig. Mit Fredrik konnte man sich nicht vergleichen: Cederbecks war eines der erfolgreichsten Familienunternehmen in ganz Schweden. Und Fredriks Vater hatte Manfred in den Freundeskreis eingeführt. Zu der Zeit studierte Manfred noch Jura in Uppsala und war der Sohn eines Geschäftskunden der Familie Cederbeck.

Amir strich sich eine schwarze, lockige Haarsträhne aus dem Gesicht, dabei fiel sein Blick auf sein Smartphone. Ob Hanna und die Kinder schon wieder zu Hause sind? Wieder einmal kam ihm der Gedanke, welch unglaubliches Glück er doch hatte. Dass Hanna sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte. Auch wenn sie sich mit ihm freute, dass er diese Reise machen konnte, hatte sie durchblicken lassen, dass sie selbst auch gern ein paar kinderfreie Tage in Cap d’Antibes verbracht hätte. Er nahm sich vor, sie einmal hierher mitzunehmen und genau dieses Café mit ihr zu besuchen. Beflügelt von diesem Gedanken bezahlte er seine Rechnung und beschloss, noch ein Stück auf dem wunderschönen Küstenweg weiter zu spazieren, bevor es an der Zeit war, ins Hotel zurückzukehren.

Ein Jahr zuvor

»Damit hätten wir Namen, Alter, Wohnsitze der vergangenen Jahre, Ausbildung und frühere Jobs geklärt.«

Ein Profi, ganz klar, aber seine Stimme klang gelangweilt.

Schon bald eine Stunde hockte er hier. Die Hitze war unbeschreiblich, aber er fand, dass er sich bisher ziemlich gut geschlagen hatte. Trotzdem streckte er seinen durchtrainierten Körper, um sich auf dem klapprigen Feldstuhl in eine aufrechtere Stellung zu bringen. Wirkten die nicht irgendwie mäßig interessiert?

Derjenige der beiden Männer, der die Verhandlungen zu führen schien, konzentrierte sich nun ganz darauf, etwas in den Laptop einzutippen. Hin und wieder knackte es in dem glänzenden Ohrhörer, den er im rechten Ohr trug.

»Okay«, fuhr er fort, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Du passt ausgezeichnet zu unserer Organisation, aber leider ist unser Bedarf in dieser Gegend schon gedeckt. Im Moment nehmen wir keine Neuen mehr auf.«

Er starrte in ihre Gesichter, aber wie sollte er hinter den Masken ihre Mienen erkennen.

Der Mut verließ ihn. Nervös sah er sich um, während er händeringend nach einer geeigneten Antwort suchte. Weiter entfernt waren Schüsse zu hören, doch außer Sandmassen in einer endlosen Wüstenlandschaft konnte er nichts erkennen.

»Wir könnten dich in Europa gebrauchen.«

»In Europa?« Ihm fiel selbst auf, wie erschrocken seine Stimme klang. Er hatte alles aufgegeben, um hierherzukommen, und jetzt wollten sie ihn einfach zurückschicken.

»Wie gesagt. Wir brauchen dich. Aber in Europa.«

Die nasale Stimme klang leicht irritiert, ihm war klar, dass er jetzt irgendwie reagieren musste. Er hatte keine Zeit mehr. Bald würde alles vorbei sein.

»Verstehe«, antwortete er schließlich zögernd. »Und wo genau … in Europa?«

Kapitel 4 Juan-les-Pins, Freitag, 12. Juni 2015

Wer besorgt die nächste Runde?« Fredrik ließ sich in den braunen Ledersessel sinken und sah die anderen fragend an.

Sie hatten das Restaurant, in dem sie hervorragend gegessen hatten, soeben verlassen und befanden sich nun in einer Bar, nur einen Steinwurf von dem wunderschönen Sandstrand in Juan-les Pins entfernt.

Auf dem Weg dorthin hatten sie Fredrik mit einem Drink in dem weltbekannten Luxushotel Hôtel du Cap-Eden-Roc überrascht, wo der Blick von der Terrasse sensationell war. Klarblaues Wasser, so weit das Auge reichte, und freie Sicht auf die Inseln vor der Küste von Cannes. Nur Fredriks penetrante Fragen an das Servicepersonal, wo sich die Stammgäste Leonardo DiCaprio und Paris Hilton aufhielten, hatten etwas gestört.

Ansonsten war die Stimmung ausgelassen und froh. Als sie sich abends vor dem Hotel getroffen hatten, hatte Ludwig sie mit einem Stirnrunzeln begrüßt. Sowohl er als auch Fredrik trugen teure Anzüge, dazu Hemd und Krawatte, während Manfred und Amir eher smart casual gekleidet waren. Manfred stand da in einem blauen Sakko und einer lindgrünen Chino, und Amir hatte sich für eine schwarze Jeans mit Sakko und T-Shirt entschieden. Ludwig hatte angemerkt, dass Amirs Angewohnheit, immer einen kleinen Rucksack bei sich zu tragen, für einen Schulausflug passender sei als für solch einen Anlass.

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»Ich hoffe sehr, ihr habt euch für meinen letzten Abend in Freiheit noch etwas mehr einfallen lassen«, sagte Fredrik und fuhr sich über das zurückgegelte Haar. Von dem Alkohol, den er jetzt schon konsumiert hatte, hatte der Teint seines rundlichen Gesichts eine fast lilafarbene Färbung angenommen. Amir hoffte sehr, dass sie vor der Hochzeit wieder verschwinden würde.

»Ich glaube, jetzt bin ich an der Reihe mit der nächsten Order«, meinte Manfred und sah sich um. Sie waren an der Bartheke vorbeigekommen, als sie hineingegangen waren, hatten sich aber für einen Platz im oberen Stockwerk entschieden, wo die Einrichtung nur aus ein paar Tischen und abgewetzten Ledersesseln bestand.

Manfred erhob sich, doch Amir hielt ihn fest. »Setz dich. Diese Runde geht auf mich. Ich nehme an, ihr trinkt so ziemlich alles …« Amir schnappte sich seinen Rucksack und steuerte die Treppe an, gefolgt von Bestellwünschen und nicht ganz ernst gemeinten Ratschlägen.

»Und Amir, lass deine kleine Abendhandtasche nicht liegen!«, brüllte Fredrik ihm hinterher.

Schnell sprang Amir die Treppe hinunter. Er spielte mit dem Gedanken, Hanna kurz anzurufen. Zwar hatte er mit ihr schon gesprochen, bevor sie zum Restaurant aufgebrochen waren, doch wenn er feiern war, rief er sie in der Regel mehrmals an. Wenn er woanders übernachtete, meldete er sich immer vor dem Einschlafen, egal wie spät es war. Ganz glücklich war Hanna darüber nicht, mitten in der Nacht von ihrem grölenden Freund geweckt zu werden, der unentwegt davon faselte, wie sehr er sie liebte und was er jetzt mit ihr anstellen würde, wenn er neben ihr läge. Sie hatte bereits einen halbherzigen Versuch unternommen, ihm die Anrufe nach Mitternacht zu verbieten, aber das hatte er einfach ignoriert. Sie hatte auch nicht so geklungen, als wäre es ihr wirklich ernst. Meinte er jedenfalls.

Amir öffnete seinen Rucksack und tastete nach seinem Smartphone. Immer rutschte es nach unten. Ihm war klar, dass er ziemlich betrunken war. Schnell überprüfte er die Lage an der Theke. Wahrscheinlich war es klüger, gleich zu bestellen, den Jungs die Getränke hochzubringen und Hanna dann anzurufen? Gerade war an der Bar eine kleine Lücke entstanden, die ihm die Möglichkeit verschaffte, den etwas arroganten Barmann dazu zu bringen, ihn zu bedienen

Vor den großen Fenstern zur Straße hin befand sich eine größere Gesellschaft, die Leute hatten offenbar etwas zu feiern, sie unterhielten sich lautstark auf Französisch und gestikulierten wild. Rechts von ihnen saßen einige jüngere Männer auf Barhockern.

Als Amir sich auf den Weg zur Theke machte, fielen ihm zwei Männer auf, die sich mit energischen Schritten näherten. Sie waren gerade erst in die Bar gekommen, gemeinsam mit einem dritten Mann, der allerdings noch am Eingang stand und auf die anderen zu warten schien. Alle drei trugen schwarze Jeans und Hoodies. Einer von ihnen hielt eine größere Sporttasche in der Hand.

Amir legte einen Schritt zu, damit sie nicht vor ihm die Theke erreichten, doch im selben Moment geriet er in Blickkontakt zu einem der Männer. Der Mann war eigentlich nicht angsteinflößend. Trotzdem beschlich Amir ein ungutes Gefühl.

Noch bevor Amir reagieren konnte, standen die Männer neben ihm. Dann ging alles ganz schnell. Der etwas kleinere Mann holte eiskalt zwei schwarze Waffen aus der Tasche und reichte eine seinem Komplizen, der neben Amir stand. Fast gleichzeitig fiel der erste ohrenbetäubende Schuss.

Amir spürte, wie ihm eine warme Flüssigkeit über eine Gesichtshälfte lief. Instinktiv riss er die Hände hoch, um sich zu schützen, und warf sich zu Boden. Rundherum hörte er verzweifeltes Schreien und das Geräusch von fallenden Tischen und Stühlen.

Doch mit einem Mal wurde es sonderbar still. Ist es vorbei?

Während ihn eine Welle von Übelkeit überkam, erkannte Amir, dass er auf dem Fußboden lag und zwei Personen nur ein paar Meter entfernt von ihm standen. Dunkle Hosenbeine und derbe Boots, breitbeinig vor der Theke. Er wagte es nicht, den Kopf anzuheben.

Schräg hinter ihm stöhnte jemand vor Schmerzen, doch er sah sich nicht um. Zwischen den Stiefeln der Männer hindurch sah er, wie sich auf dem Boden vor der Theke eine hellrote Blutlache ausbreitete und mit verschütteten Getränken und Glassplittern mischte. Ein Mann lag in einer unnatürlichen Haltung neben einem umgekippten Barhocker. Die eine Hand presste er sich krampfhaft auf den Bauch, mit der anderen rieb er verzweifelt seinen Rücken. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Hilfesuchend streckte der Mann eine Hand zu Amir aus, dann verzog sich sein Gesicht vor Schmerzen, bevor er zurück auf den Boden sackte.

Gott, hilf mir. Das kann nur ein Albtraum sein!

Sein Instinkt sagte Amir, er müsse fliehen, doch er wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren.

Dann war es plötzlich, als fielen Schüsse aus allen Ecken. Gläser und Flaschen flogen durch die Luft. Amir rollte sich wie ein Baby zusammen und hielt schützend die Hände vors Gesicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Gästen, die vor Panik lauthals schrien, war er mucksmäuschenstill. Er wollte einfach nur durch den Boden verschwinden, durch das braune, verschlissene Parkett.

Kapitel 8 Fleury-Mérogis-Gefängnis, Paris, 5. Februar 2016

Yasin, Sie haben Besuch. Ihr Anwalt ist da.« Amir Yasin bemerkte, wie sich die Luke seiner Zelle öffnete, aber er blieb regungslos, bewegte nicht mal den Kopf.

Was wollen die jetzt? Wieder so ein sinnloses Verhör, immer die gleichen Fragen und Behauptungen? Haben die nicht kapiert, dass ich schon lange keine Lust mehr habe, mit ihnen zu reden?

Den Amir Yasin, an den sie sich wandten, gab es nicht mehr. Aber seine Hülle befand sich natürlich in dieser Gefängniszelle.

Ihm war, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen. An dem Abend, als die Schießerei stattgefunden hatte und er von schwarz gekleideten Männern mit einer Maske vor dem Gesicht abgeführt worden war, war er überzeugt gewesen, ermordet zu werden. Er hatte sich nur gefragt, warum sie ihn noch in einen Lieferwagen vor der Bar steckten, anstatt ihn auf der Stelle hinzurichten.

Als er in den Laderaum des Wagens gestoßen wurde und drei Männer ihm Hand- und Fußschellen anlegten, war er noch immer sicher gewesen, sich in der Gewalt der Mörder zu befinden. Die Männer waren aggressiv, einer von ihnen brüllte ihn an und trat ihm mit seinen schweren Stiefeln absichtlich auf die Finger.

Halb sitzend, halb auf der Seite liegend kämpfte er mit der Übelkeit. Ein Mann saß auf einer schmalen Bank neben ihm und hatte sein Automatikgewehr auf Amirs Brust gerichtet. Als Amirs Körper von Brechkrämpfen geschüttelt wurde, zeigte der schwarz Gekleidete keinerlei Reaktion, sondern ließ Amir in seinem Erbrochenen liegen, das ihm Mund und Nase verklebte.

Die Höllenfahrt nahm kein Ende. Vermutlich war Amir einige Zeit ohnmächtig, denn er wachte ruckartig auf, als der Wagen stoppte. Als die Tür auch von Männern in Schwarz aufgerissen wurde, las er zum ersten Mal das Wort »POLICE« auf den Anzügen der Männer, und da konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken. Er verspürte solch eine Erleichterung und Freude, dass seine Beine nachgaben. Er glaubte, gerettet zu sein. Bis er ihre Gesichter zu sehen bekam. Wie sie ihn alle anstarrten. Kalt und abweisend.

Hier stimmt was nicht, dachte er noch, dann wurde er zu einem Hubschrauber geschleift, der schon bereitstand. Wie in einem Albtraum saß er eingezwängt zwischen zwei Polizisten mit versteinerten Mienen. Er stand unter Schock, fragte unablässig, was sie mit ihm vorhätten. Er erhielt keine Antwort und konnte nur mit Mühe und Not verhindern, sich wieder zu übergeben.

Nach der Landung wurde er unverzüglich zu einem Wagen gebracht. An die Fahrt hatte er keine Erinnerung mehr. Nur an die Ankunft: ein unterirdischer Parkplatz, endlose, schmutzig weiße Gänge und drohende Blicke. Die energischen Schritte der verstärkten Schuhsohlen, die von den Wänden hallten. Der bestialische Gestank seines Erbrochenen.

Er kam erst zur Besinnung, als er mit gefesselten Händen und Füßen auf einem Stuhl in einem Raum ohne Vorhänge saß. Nur ein Schreibtisch und ein paar Stühle unter kaltem Licht. Er begriff, dass er sich auf einer Polizeistation befand. Der Grund dafür war ihm jedoch völlig unklar. Im Nachhinein hatte er sich natürlich gefragt, wie er eigentlich so blöd sein konnte.

Die uniformierten Polizisten, die nach langer Zeit endlich den Raum betraten, waren höflich und ruhig. Sie schrien nicht, versetzten ihm auch keine Fußtritte, aber begannen nach und nach verärgert zu reagieren, weil er nichts begriff. Und er verstand tatsächlich kein einziges Wort. Amirs Französischkenntnisse beschränkten sich darauf, mehr schlecht als recht Essensbestellungen aufzugeben oder ein Bier in einer Kneipe zu ordern. Dieses Vokabular war hier wenig hilfreich.

Stattdessen hatte er es auf Englisch versucht.

»My name is Amir Yasin. I am from Sweden. There was a shooting in a bar, where I was drinking with my friends. Where are my friends? Are they okay? Where am I? Why did you take me here?«

»Vous avez été arrêté par la police sur des soupçons d’infractions terroristes. Quel est votre nom?«

Eine Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit dem Polar Verlag