Technologischer Fortschritt: Deutschland entdeckt die Langsamkeit

Anderthalb Wochen sind es noch bis Weihnachten – doch wer jetzt noch Geschenke aus dem Internet braucht, der muss sich schon beeilen. Vorbei sind die Zeiten, als Amazon anstandslos und ohne Aufpreis auch kurz vor den Feiertagen am nächsten Tag lieferte. Mehrere Tage muss man schon einplanen. Wobei die Lieferzeiten im Onlinehandel ohnehin heute in Wochen statt in Tagen gemessen werden: Shein, Aliexpress und Temu versenden direkt aus China, das dauert. Die Kunden hält es nicht ab.
In Deutschland hat sich eine neue Langsamkeit etabliert, und die Menschen scheint es nicht groß zu stören. Es gab mal eine Zeit, da war Geschwindigkeit das wichtigste Maß des Fortschritts. Züge, Autos und irgendwann Flugzeuge machten es möglich, lange Distanzen in immer kürzerer Zeit zu überbrücken. Als die erste Zugstrecke eingeweiht wurde, warnten Fachleute gar, die Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Stunde könne sich schädlich auf die Gesundheit der Fahrgäste auswirken. Telegraphen, Telefone und schließlich das Internet beschleunigten die Kommunikation. Elektrische Haushaltsgeräte versprachen ihren Nutzern eine enorme Zeitersparnis. Die Beschleunigung der Welt schien unaufhaltsam ihren Gang zu gehen.
Heute heißt es immer öfter: warten. Wer nach Kaffee und Kuchen schnell die Spülmaschine anstellt, um für das Abendessen in größerer Runde genug Geschirr zu haben, merkt, dass er die neue Maschine noch nicht gut genug kennt, die selbst im Expressprogramm fast zwei Stunden braucht. Die Waschmaschine ist nicht schneller. Optimiert sind die Geräte heute auf Energie- und Wassereffizienz, nicht auf Zeit.
Langsamkeit ist nicht zwingend
In der Mobilität sieht es ähnlich aus. Lange Distanzen zu überbrücken, das geht heute nicht schneller als vor 30 Jahren, oft dauert es sogar länger. Das Überschallflugzeug Concorde, das mal eine Revolution des Flugverkehrs versprach, hat den Betrieb längst eingestellt. Der einzige Transrapid der Welt fährt heute in Shanghai, nicht im Erfinderland Deutschland. Er sollte Geschwindigkeiten von über 400 Kilometern in der Stunde möglich machen. Die neueste Generation des ICE fährt mit 250 Kilometern in der Stunde sogar langsamer als die Modelle aus den Nullerjahren, die noch mehr als 300 schaffen – und das im Regelbetrieb, nicht bei Stellwerksausfall. Wer auf das Auto ausweicht, steht öfter im Stau. Nicht besser ist es auf dem Ozean. Containerschiffe, das Grundgerüst der Globalisierung, fahren seit Jahren mit gedrosselter Geschwindigkeit, um Treibstoff zu sparen – von der Zollabfertigung ganz abgesehen, die nicht gerade schneller geworden ist.
Vieles von der Verlangsamung des Alltags geschieht aus gutem Grund. Es ist der Preis, den wir für eine nachhaltigere Wirtschaft bezahlen. Emissionen lassen sich so leichter senken. Wer den Nachtzug nimmt und nicht einen der ebenfalls immer selteneren Inlandsflüge, der hat immerhin ein gutes Gewissen.
Und doch zeugt die allseitige Verlangsamung von einem enttäuschenden Mangel an Ehrgeiz. Sie passt zu dem Glauben, eine bessere Welt sei nur mit Verzicht möglich, obwohl die Innovationen der Vergangenheit uns das Gegenteil zeigen. Dass die Welt futuristischer und gleichzeitig nachhaltiger werden kann, ist kein Ding der Unmöglichkeit. Elektroautos beschleunigen ja auch besser als Benziner. Nur fahren ihre Besitzer dann seltener mit Höchstgeschwindigkeit, um die Batterie zu schonen.
Schnelle Züge können sogar den Umstieg auf ein nachhaltiges Verkehrsmittel attraktiver machen. Die Technologie wäre da oder ist zumindest in Reichweite. Automatisierung könnte die Dinge dort beschleunigen, wo heute schlicht zu wenig menschliche Arbeitskraft verfügbar ist. Und je schneller der Ausbau der erneuerbaren Energien gelingt, je besser die Batterietechnologie wird, desto näher kommen wir einer Welt, in der der Überfluss an Energie auch wieder mehr Tempo möglich macht.
Vielleicht gibt es dann auch wieder Spülmaschinen, die Teller in unter einer Stunde spülen.