„Tatort“ München: Wir spielen, sogar wenn die Welt untergeht

Bei allem, was 2026 an Überraschungen bereithalten wird, steht fest, dass der ARD-Sonntagabendkrimi zwei große Abschiede verkraften muss. Auf Wien vor zwölf Tagen folgt nun auch die drittletzte Folge des scheidenden Teams in München; sie trägt den Titel Das Verlangen (BR-Redaktion: Cornelius Conrad). Jeweils zwei Auftritte noch im kommenden Jahr, dann sind die Bibi und der Eisner sowie der Ivo (Miro Nemec) und der Franz (Udo Wachtveitl) Geschichte.

Um den Ärger über den 98. Münchner Tatort gleich zu Beginn rauszulassen: Vom Look her handelt es sich um einen Albtraum in Petrol. Wie unlängst in Münster müssen der Ivo und der Franz auf ihre alten Tage absurd aufeinander abgestimmte Grünblau-Variationen tragen – und der Kalli (Ferdinand Hofer) bleibt trotz seiner Jugend nicht verschont (Kostümbild: Tina Keimel-Sorge). Das Verlangen spielt an einem Theater, in dem der Petrolismus das Zepter schwingt bis hin zu Abendzettel, Lkw-Container oder Schauspieler-Sportwagen (Szenenbild: Franziska Ganzer). Björn Wilhelm als 2024 neu aufgestellter ARD-Koordinator Fiktion sollte dringend ein Memo an alle schreiben, um diesem besinnungslosen Monochronismus den Garaus zu machen und seine eigene kreative Linie mit Leben zu füllen („Die Stärke des Tatorts lag schon immer in seiner Vielfalt und darin, dass er in Bewegung ist und bleibt“). Meine Nerven!

Dabei ist fast alles, was an Das Verlangen nicht petrolfarben ist, schön. Ein origineller Auftakt mit Putzfrau auf winterlicher Theaterbühne, bei dem das Bild irgendwann so weit aufgezogen ist, dass oben rechts in der Kulisse eine Tote baumelt. Die Putzfrau geht hinaus in den Schnee, dann sagt das Insert „Sechs Monate später“, und München strahlt sonnig und grün, der Smash-Hit Venus von Shocking Blue ertönt. Ein kanonischer Frauenbewunderungssong, der was mit der Geschichte der Folge zu tun hat, insofern es um ein sehr ungutes männliches Bewundern geht.

Die baumelnde Tote wird erst gegen Ende eine Rolle spielen, darin hat die Einblendung einen Witz. In der Regel wird nach so einem Auftakt nämlich zurückgespult, der vermeintlichen Spannung wegen (Wie konnte es dazu kommen?). Der Hit dynamisiert mit seinem energischen Beat, dazu wird das Theater-im-Film-Schauspiel-Personal auf dem Weg ins Bühnenhaus gezeigt (mit Moped, U-Bahn, Auto, Fahrrad und Taxi). In knappen Einstellungen sind auch die Gewerke wie der Abenddienst zu sehen, also die Leute an den Türen, Garderoben, mit den Programmheften, denen fast nie das Licht der Aufmerksamkeit ins Gesicht scheint (Kamera: Johann Feindt, Schnitt: Gudrun Steinbrück). „Die Crew im Dunkeln“ steht hier nicht zufällig auf den T-Shirts der Leute von der Bühnentechnik.

Gegeben wird Tschechows Die Möwe. Bei der Vorstellung stirbt Jungstar Nora (Giulia Goldammer) an dem vergifteten Wein, den sie als derangierte Nina auf der Bühne trinkt. Verdächtig sind viele. Die Platzhirschin Gina Rohland (Ursina Lardi), deren Ex-Lebens- und Bühnenpartner aber nicht Hans Kassenwetter heißt oder so, sondern Johannes Lange (erste Wahl für die Hauptrolle im noch zu drehenden Stephan-Krawczyk-Biopic: Robert Kuchenbuch). Dieser Johannes war von Nora verlassen worden, während Stella Papst (Luzia Oppermann) nun die bedeutende Nina-Rolle von ihr übernehmen kann. Als manipulativer Fiesling stellt sich im Agatha-Christie-haften Finale vor versammelter Mannschaft aber Carl Mayerkoff (Lukas T. Sperber) heraus.


"Tatort" München: Wie bei Agatha Christie: Die Verdächtigenriege aus Johannes Lange (Robert Kuchenbuch), Gina Rohland (Ursina Lardi), Intendantin Freya von Kaltenberg (Anna Stiebich), Regisseur Akim Birol (Thiemo Strutzenberger) und die Garderobiere Ria Jäger (Liliane Amuat).

Wie bei Agatha Christie: Die Verdächtigenriege aus Johannes Lange (Robert Kuchenbuch), Gina Rohland (Ursina Lardi), Intendantin Freya von Kaltenberg (Anna Stiebich), Regisseur Akim Birol (Thiemo Strutzenberger) und die Garderobiere Ria Jäger (Liliane Amuat). © BR/​Claussen+Putz Filmproduktion GmbH/​Walter Wehner

Der hatte schon Lilly aus der Schneekönigin-Inszenierung ein halbes Jahr zuvor so schlecht behandelt, dass die junge Frau sich das Leben nahm (das Bild vom Filmbeginn). Um solch eine Verzweiflungstat zu verhindern bei der emotional angezählten Nora, hatte deren Freundin, die Garderobiere Ria (Liliane Amuat), zum Gift gegriffen, um Carl ein wenig Übelkeit auf der Bühne vor den Latz zu knallen; eigentlich trinkt er in der Inszenierung aus dem Wein.

So ist am Ende von Das Verlangen die Ekligkeit von Carl erwiesen, für den Tod von Nora aber ausgerechnet die Person verantwortlich, die sie am liebsten hatte. Eine nicht uninteressante Konstruktion in einem – im guten Sinne – konventionell vor sich hin schnurrenden Fall (Drehbuch: Norbert Baumgarten, Holger Joos).

Unfreiwillig komisch ist nur der Vorwurf des bisexuellen Carl an Regisseur Akim („Du bist doch nur hier am großen Haus, weil Du schwul bist und Türke“), weil der Tatort die Idee einer solchen Privilegierung selbst dementiert. Besetzt ist Akim mit dem eher weiß gelesenen Schauspieler und Dramatiker Thiemo Strutzenberger, und gerade wenn doch im Theater wie im Film alle alles spielen können sollen, dann kann man sich über das auch sonst weiße Ensemble bei so einer Dialogzeile wundern (Casting: An Dorthe Braker).

Was dem Film besser gelingt, ist das selbstreferenzielle Spiel mit dem Spielen. Der Ivo und der Franz stöhnen ein ums andere Mal über das „Schauspielergehabe“, was lustig ist, weil Nemec und Wachtveitl das ohne großen gestischen Aufwand machen, dabei doch aber selbst welche sind (Regie: Andreas Kleinert).

Dezent und deshalb wirkungsvoll ist auch, dass Johannes Lange beim Vergänglichkeitsgeschwelge mittendrin mal zum Franz sagt: „Wenn Sie irgendwann aufhören, Mörder zu suchen, wird’s irgendjemand anders tun, und keinen interessiert’s.“ Nur damit er sich am Ende korrigieren kann in das, was wir alle denken: „Vielleicht werden wir, die Leute, sie doch vermissen, wenn Sie irgendwann nicht mehr da sind.“

Das Verlangen trägt dazu auf eine beiläufig vergnügte, klassische, gelungene Weise bei. Ein guter Film mit schönen Einfällen wie dem abtransportierten, kaputten Bühnenbild aus Styropor. Das weht den beiden Kommissaren beim Raustreten ins nächtliche München nach getaner Arbeit als Kunstschnee um die Nase.