Synode 1934: Die Bekennende Kirche will kein „Vaterlandsverräter“ sein

Am 13. November 1933 hält Reinhold Krause, Gauobmann der völkischen Glaubensbewegung Deutsche Christen, im Berliner Sportpalast vor 20.000 Anhängern eine Rede. Neben üblicher antisemitischer Hetze – „wenn wir Nationalsozialisten uns schämen, eine Krawatte vom Juden zu kaufen, dann müssten wir uns erst recht schämen, irgendetwas, das zu unserer Seele spricht, das innerste Religiöse vom Juden anzunehmen“ – fordert er von der Kirche, auf die „Sündenbock- und Minderwertigkeits-Theologie des Rabbiners Paulus“ zu verzichten.

Der in der evangelischen Kirche fortdauernde Streit um die Einführung des Arierparagrafen hatte die Deutschen Christen in Rage gebracht. Im Sommer 1933 hatte die „SA Jesu Christi“, wie sich völkische Protestanten selbst nannten, die Kirchenwahlen grandios gewonnen. Ihre Führung strebte jetzt eine Art deutsch-germanische Nationalreligion an. In einem Punkt aber, ob Pfarrer jüdischer Herkunft in der Kirche predigen durften, hatte man sich noch immer nicht durchgesetzt. Die damit einhergehenden Spannungen sollten sich an jenem Tag im Sportpalast entladen. Wie nie zuvor buhlte Gauobmann Krause um die Gunst Hitlers. In Anlehnung an den Nazi-Chefideologen Alfred Rosenberg verlangte er „die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten“. Krause pries eine „heldische Jesusgestalt“ als Basis „artgemäßen Christentums“.

Hierin lag der schwere Bruch: In der evangelischen Tradition – wie im Übrigen auch im Katholizismus – kommt dem Karfreitag, dem Leiden Jesu, eine zentrale Bedeutung zu. Dabei schenken die orthodoxen Kirchen der Auferstehung Jesu mehr Aufmerksamkeit, nicht aber die westlichen Kirchen. So auch im Protestantismus, wo sich das Augenmerk besonders auf das Martyrium Jesu Christi richtet. Die Proklamation eines heldischen Jesus war daher ein unglaublicher Affront! Innerkirchlicher Protest ließ nicht auf sich warten.

Im September 1933 hatte sich auf Initiative dreier Pfarrer aus der Niederlausitz der Pfarrernotbund gegründet. Er kämpfte für die über hundert Pfarrer, denen man eine jüdische Herkunft nachweisen konnte, und sammelte Geld zur Hilfe für suspendierte Amtsbrüder. Dem Notbund, zeitweilig mit 7.000 Mitgliedern, waren auch Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer beigetreten. Bis 1934 sollten sich in vielen Landeskirchen Bekenntnisgemeinschaften und freie Synoden bilden. Die Koordination dieser innerkirchlichen Opposition übernahm im März 1934 ein sogenannter Reichsbruderrat, der zur ersten Bekenntnissynode nach Wuppertal-Barmen einlud.

Zwischen dem 29. und 31. Mai 1934 gründeten dort 138 Synodale aus allen lutherischen, reformierten und unierten Landes- und Provinzialkirchen offiziell die Bekennende Kirche. Dies jedoch nicht als eine abgespaltene Freikirche, sondern innerhalb der damaligen evangelischen Reichskirche. Die Bekennende Kirche rief sich zur rechtmäßigen evangelischen Kirche in Deutschland aus – ein in der Geschichte des Protestantismus einmaliger Vorgang. Gründer waren vorwiegend Pfarrer und Theologieprofessoren, dazu Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer und Juristen, zwei Bauern, zwei Handwerksmeister und ein Arbeiter: Balthasar Kohlepp, Synodale aus der Hannoverschen Landeskirche und ehedem Landesobmann der nunmehr verbotenen Christlichen Gewerkschaft. Zu den Synodalen der ersten Bekenntnissynode gehörten Martin Niemöller, Karl Barth, die Bischöfe der Landeskirchen Württemberg, Hannover und Bayern und der Präses der Nachkriegs-EKD, der damals 35-jährige Gustav Heinemann. Dass dieser viele Jahre später als Bundespräsident (1969 – 1974) seine Bauchschmerzen mit jeglichem Nationalpatriotismus haben sollte, rührte womöglich aus seiner ersten (Kirchen-)Parlamentserfahrung im Jahr 1934, als sich die Bekenntnistheologen außerstande zeigten, überholtes nationalprotestantisches und staatstragendes Denken nur für ein paar Tage zu überwinden.

Dass Dietrich Bonhoeffer im Oktober 1933 eine Pfarrstelle für zwei deutsche Gemeinden in London annahm, die er bis Mitte April 1935 innehaben sollte, erscheint mit Blick auf die Geburtsfehler der Bekennenden Kirche besonders tragisch. In der später berühmt gewordenen Barmer Theologischen Erklärung heißt es zwar: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Doch zur Entrechtung deutscher Juden wie auch christlicher „Nichtarier“ schwieg die Bekennende Kirche. Ihre Gründer wollten keinesfalls als Vaterlandsverräter geschmäht werden. Präses Karl Koch beteuerte gleich zu Beginn der Tagung den Patriotismus aller Anwesenden: „Wir stehen hier aber auch im Bewusstsein unserer Verbundenheit mit allen Deutschen und Volksgenossen zu einer Schicksalsgemeinschaft.“

Dies wurde in einer Zeit bekundet, da Rundfunk und Zeitungen gleichgeschaltet, demokratische Gremien abgeschafft, Zehntausende in Konzentrationslagern eingesperrt waren und Tausende ihr Leben verloren hatten. Seine Eröffnungsrede ließ Präses Koch mit einem Gruß ausklingen. „Wir gedenken besonders derer, die um ihres Glaubens willen Verfolgung leiden.“ Aber was war mit verfolgten Atheisten – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern? Den Juden?

Unter den Barmer Synodalen befand sich nur eine Frau: Stephanie Mackensen von Astfeld, Mitglied des Pommerschen Bruderrates – und der NSDAP. Als die engagierte Protestantin wegen der Bekennenden Kirche 1938 aus der Nazi-Partei ausgeschlossen werden soll, protestiert sie: „Ich liebe die NSDAP. Ich habe für sie gekämpft und ein Recht, in ihren Reihen zu sein. Ich stehe treu zu meinem Führer.“

Mit Eduard Putz war in Barmen sogar ein „alter Kämpfer“ zugegen, ein Nazi mit goldenem Parteiabzeichen. Als 20-jähriger Theologiestudent war Putz am 1. April 1927 der NSDAP beigetreten (Mitglieds-Nr. 60049). Seiner hervorragenden Kontakte zur NSDAP-Führung wegen war er im Juni 1933 vom bayrischen Landesbischof Hans Meiser zum Hilfsreferenten beim Landeskirchenrat berufen worden. Putz war bei Weitem nicht der einzige Nazi vor Ort. Von den 138 stimmberechtigten Synodalen gehörten sechs der NSDAP an und waren der Partei teils vor 1933 beigetreten. Darüber hinaus waren zehn Synodale einst Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Der aufgelösten Deutschen Volkspartei (DVP) gehörten acht Synodale an und fünf weitere dem ehedem Christlich Sozialen Volksdienst (CSVD), einer konservativen Splitterpartei, die es bei der letzten Reichswahl am 5. März 1933 auf ein Prozent der Stimmen gebracht hatte. Immerhin zwei Mitglieder der Barmer Bekenntnissynode stammten aus der verbotenen SPD.

Eine Besonderheit des damaligen Kirchenkampfes steht heute besonders im Fokus der Forschung: Offenkundig existierte die Bekennende Kirche als eine von Männern, vornehmlich Pfarrern, geleitete Frauenbewegung. Allein in der Reichshauptstadt Berlin waren drei Viertel ihrer Mitglieder Frauen, darunter Elisabeth Schmitz, Ina Gschlössl und Marga Meusel, die den Mut besaßen, im Gottesdienst politisch brisante Listen der Fürbitte zu verlesen, für die Kollekte zu sorgen, Bibelkreise aufzubauen und Lebensmittelmarken oder Lebensmittel für im Untergrund lebende „nichtarische“ Christen zu sammeln.

Auch wenn einzelne Mitglieder der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen das NS-Regime ihr Leben riskierten und verloren, so blieb sie in ihrer Gesamtheit stets eine legale Organisation. Martin Niemöller prägte später das Wort vom „Kampf in der Kirche um die Kirche“, das schon bald nach 1945 von der EKD uminterpretiert wurde als Kampf des Christentums gegen die nationalsozialistische Ideologie. Wie es die Theologin Uta Ranke-Heinemann treffend sagte, war das die „Lebenslüge der Nachkriegschristen“.