Sylt-Video: Döp-dö-dö-dö, döp-dö-dö-dö, döp-dö-dö-dö-dö-dö

In der Reihe „Die Pflichtverteidigung
ergreifen wir das Wort für Personen, Tiere, Dinge oder Gewohnheiten,
die von vielen kritisiert und abgelehnt werden. Dieser Artikel ist Teil
von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 22/2024.

Am schlimmsten war das Horst-Wessel-Lied. Ich war jung, politisch und musikalisch interessiert, der Sommerkurs trug den Titel Musik im Dritten Reich und im Exil. Dort gab es aus irgendeinem universitären Giftschrank zu hören, was vorher – ähnlich wie auch „Es zittern die morschen Knochen“ – nur eine Reihe schockierender Verse in beflissenen Jugendbüchern über die Schrecken der Vergangenheit gewesen war. Die Aufnahme hatte zwei komplett alberne, aber auch komplett schmissige Beckenschläge zwischen den Strophen, und beim „erschossen“ von „Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen“ hopsten die Tenöre hoch auf eine schmelzende Terz. Herrlich! 

Da konnten die Kursleiterinnen noch so überzeugend darlegen, dass die Nazihymne musikalisch unterste Schublade sei, die absteigende Kadenz zur Textzeile „Die Fahne hoch“ selbst für ein Kampflied nur noch peinlich und überhaupt die gesamte Ästhetik des Nationalsozialismus zusammengeklaut bei Militär, Arbeiter- und Jugendbewegung. In meinem Kopf sang es: „Die Straße frei, den braunen Bataillonen …“ 

Seitdem hat mich allerlei Unpassendes gepiesackt. Lange suchte mich bevorzugt in Konferenzen Mickie Krauses Finger im Po, Mexiko heim, als BVB-Fan litt ich unter der Textzeile „Mohammed war ein Prophet, der vom Fußballspielen nichts versteht“ – Sie erinnern sich vielleicht an diese Diskussion um ein altes und politisch unkorrektes Fußballliedchen aus Gelsenkirchen –, und auch Layla hat mich vor zwei Jahren voll erwischt. Was seit vergangenem Freitag in meinem Kopf los ist, seitdem jenes Video von der Insel Sylt öffentlich diskutiert wird, in dem junge Leute mit kostspieligen Klamotten klassische Naziparolen grölen: Sie können es sich ungefähr vorstellen. Wenn es gnädig läuft, verharrt die Endlosschleife dort, wo es einfach nur heißt: Döp-dö-dö-dö, döp-dö-dö-dö, döp-dö-dö-dö-dö-dö. Sonst halt: das andere. 

Wir können Ohrwürmer verwünschen, wir können sie pathologisieren, wir können wunderbare Texte über ihre neurologischen und psychologischen Ursachen schreiben. Wir kriegen sie doch nicht weg. Die Frage ist aber auch: Ist das eigentlich so schlimm? 

Ein Ohrwurm ist ein Ohrwurm ist ein Ohrwurm, er steckt irgendwo in uns, wen aber stört er da? Uns selbst? Sprechen wir zunächst über den unpolitisch unpassenden, also schlicht nervigen Ohrwurm: Als gelegentliche Ausfallerscheinung vor allem musikalischer und musikalisch geschulter Gehirne ist der doch wohl hinnehmbar, am Ende fühlt man sich sogar geschmeichelt und belebt davon, dass der eigene Kopf auch ohne akustische Außenreize ziemlich opulent zu tönen vermag. Wer Ohrwürmer hat, ist gleich doppelt lebendig – einmal als das klar denkende, heimgesuchte Wesen und ein zweites Mal als die Heimsuchung selbst. Und solange Leute larmoyant grinsend durch die Gegend laufen und andere laut wissen lassen, dass sie schon wieder so einen KRASSEN OHRWURM hätten, was circa 99,9 Prozent aller Ohrwurmsichtungen ausmacht, kann es so schlimm wirklich nicht sein. Das ist wichtig: Wir reden hier nicht über akustische Halluzinationen. Wir reden über: Alter Vater, mein Hirn nervt gerade! 

Schließlich ist der Ohrwurm auch ein Charaktertest, und das gerade in seiner politisch unkorrekten Form, die sich – so sind wir eben – besonders fest verhakt, einfach weil sie es nicht sollte. Wer glaubt, alles müsse oder dürfe raus, was ihm gerade so durchs Hirn furzt, ist ohnehin ein eher zweifelhaftes Mitglied der Gesellschaft. Das gilt noch mal gesteigert für inkriminierte Lieder, auch aufgrund der Ansteckungsgefahr, Ohrwurm, Sie wissen schon. Um es mit dem Ohrwurm Die Gedanken sind frei zu sagen: „Doch alles in der Still‘ und wie es sich schicket.“ 

Der rassistische Ohrwurm ist hinnehmbar als kognitive Fehlfunktion, solange er nur ein Ohrwurm ist, abgründigere Charaktere mögen sich sogar anhand dieses Beispiels erfreuen, dass in der Fantasie alles erlaubt ist. Dann aber ist Schluss. Und dass das so ist und man nicht „Ausländer raus“ grölend durch die Straßen marodieren darf oder auf der Terrasse einer Sylter Disco, offenbar in der Erwartung, entweder langweilige Leute drumherum zu schocken oder sie gar zum Mitsingen animieren zu können, weil doch angeblich alle so denken und fühlen, so richtig geil hassend – das ist wiederum kein Zeichen von Zensur und Hypermoral. Es ist einfach: korrekt. 

Bliebe noch die Frage, wie man problematische Ohrwürmer therapieren kann, wenn man sie schon nie ganz loswird. Im Falle des Horst-Wessel-Lieds hat Bertolt Brecht mit seinem und Kurt Weills daran angelehnten Kälbermarsch taugliches Textmethadon geliefert, generell empfiehlt sich die Parodie als Gegengift. Die Schwierigkeit: Auch ein schlechtes Lied will gut auf den Arm genommen sein. Und wenn jetzt auf das für Naziparolen missbrauchte Gigi-d’Agostino-Liedchen L’Amour toujours allerlei wohlmeinendes „Deutschland muss bunt sein – Ausländer rein“ getextet wird, steigert das im Zweifel nur die Attraktivität des rechten Textes. Außer vielleicht: bei Nazis. Die sitzen dann finster in ihren Stuben und laufen bedrohlich durch Städte und werden aber innerlich zerwühlt von rhythmischen Multikulti-Slogans. Doch was Nazis so denken, sollte uns eh nur interessieren, um es zu bekämpfen.