Südlibanon: Vermutlich sind sogar die Vögel durch den Beschuss gestorben

Mehr als 110.000 Libanesen sind seit dem vergangenen Oktober vor Luftangriffen und Raketenbeschuss aus ihren Heimatorten geflohen. Wenn sich die Konfrontation zwischen der israelischen Armee (IDF) und der Hisbollah-Miliz fortsetzt oder an Intensität zulegt, könnte es bald mehr als eine Million Vertriebene geben, die Zuflucht suchen müssen. So wie Zainab Barakat, die sich in Zebqine an zweierlei gewöhnt hatte: ständige Explosionen in ihrer Umgebung und die wundersame Fügung, dass zwar die umliegenden Dörfer verwüstet wurden, der eigene Ort aber verschont blieb, obwohl Zebqine nur sieben Kilometer von der libanesisch-israelischen Grenze entfernt liegt. „Vor gut einer Woche aber spielte sich alles direkt über uns ab. Die Detonationen zerschmetterten die Fenster, der ganze Ort bebte, die Kinder gerieten in Panik.“

Es kam am 25. August zu den heftigsten Kämpfen seit Beginn der Feindseligkeiten im Oktober 2023. Nach Angaben der IDF beteiligten sich 100 Kampfjets an der Bombardierung, während die Hisbollah mehr als 340 Raketen auf elf militärische Ziele in Israel abfeuerte. Diese Eskalation reichte aus, um Zainab Barakat davon zu überzeugen, dass sie Zebqine verlassen musste.

Helfern geht die Luft aus

Am nächsten Tag trat sie mit ihrem Mann, ihren Eltern und zwei kleinen Kindern die nicht allzu lange Reise in die Küstenstadt Tyros an, wo sie ein Asyl in einem von der lokalen Behörde betriebenen Tierheim fand. Die Familie schloss sich damit der wachsenden Zahl von Binnenflüchtlingen an, die im August aufgrund der steigenden Zahl von Luftangriffen im ganzen Land auf 112.000 gewachsen ist und weiter wächst. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) warnt davor, dass neue Höchstwerte erreicht werden, wenn sich Menschen aus Regionen wie der östlichen Bekaa-Ebene und den südlichen Vororten von Beirut in Sicherheit bringen. Zugleich berichten Hilfsorganisationen von einem Rückgang internationaler Spenden, was verminderte Hilfsmaßnahmen zur Folge hat.

Barakats Familie war eine von 88, die nach den Kämpfen Ende August im Tierheim von Tyros ankamen. Gegenwärtig leben in der alten phönizischen Metropole gut 30.000 Vertriebene, mehr als in jedem anderen Bezirk des Libanon. Die Stadtverwaltung beherbergt 309 Familien in fünf Quartieren. Tausende leben in angemieteten oder privat zur Verfügung gestellten Unterkünften. Vorzugsweise sind sie auf Lebensmittelpakete und Hygiene-Kits angewiesen. Das bedeutet, wegen der anhaltenden Kämpfe müssen die Behörden mit weniger Mitteln sehr viel mehr leisten. Und da der Zentralregierung noch immer durch die Wirtschaftskrise die Hände gebunden sind, ist Tyros bei der Hilfe für Vertriebene auf sich selbst und Hilfsorganisationen angewiesen. Allerdings ging seit Oktober 2023 die Zahl der wichtigsten Geber für den Nothilfefonds der Stadt von einundfünfzig auf fünf zurück. Viele Hilfswerke haben nach eigenen Angaben nicht die Ressourcen für eine so lange benötigte Unterstützung.

Spekulanten nutzen die Krise im Libanon aus

„Niemand hatte erwartet, dass diese Situation so lange andauert“, meint Mortada Mhanna, der Manager einer Unterkunft. „Man ging von ein, höchstens zwei oder drei Wochen aus, nicht von einem Jahr.“ Wegen der versiegenden Finanzmittel muss Tyros die Zahl warmer Mahlzeiten für die Vertriebenen von drei Essensausgaben auf eine pro Tag reduzieren. „Was wir als internationale Gemeinschaft tun, ist nicht genug“, klagt Hans Bederski, Libanon-Direktor der Hilfsorganisation World Vision, einer der wenigen in Tyros verbliebenen Unterstützer. „Wir sichern gerade einmal das Nötigste zum Überleben: Nahrung und ein Dach über dem Kopf.“ World Vision bittet darum, Bildungsprogramme für Kinder aufrechtzuerhalten, die derzeit keine Schule besuchen, und Jugendlichen eine psychologische Betreuung zu garantieren, die durch Trauma und Stress verhaltensauffällig werden.

Wer von den Flüchtlingen in kostenlose Unterkünfte muss, zählt tendenziell zu den finanziell Schwächsten. Die große Mehrheit – gut 98 Prozent der Binnenvertriebenen – hat Übergangslösungen in gemietetem Wohnraum, bei Verwandten oder Fremden gefunden. Menschen im ganzen Land öffnen ihre Türen, wenn auch in einigen Regionen „Vermieter, Immobilienunternehmen und Makler die Krise ausnutzen“, weiß Christina Abou Rouphaël von der Denkfabrik Public Works in Beirut. Die Sozialwissenschaftlerin beobachtet den Wohnungsmarkt seit Beginn des Konflikts. Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) befürchtet, dass viele der Vertriebenen gezwungen sind, ihre Ersparnisse durch den monatelangen Aufenthalt fernab von zu Hause aufzubrauchen, und es so schwieriger wird, steigende Mietpreise zu bezahlen. Für die Menschen sei es kaum möglich, Arbeit, geschweige denn eine passende Arbeit zu finden, so Abou Rouphaël.

Der Libanon leidet seit fünf Jahren an ökonomischer Auszehrung, die nun durch die Zusammenstöße an der Grenze munter fortschreitet. Laut der Regierung von Premier Nadschib Miqati haben die Kämpfe das Land zehn Milliarden US-Dollar gekostet, mehr als ein Drittel des Bruttosozialprodukts, wenn man die Zerstörungen und verloren gegangenen Einnahmen summiert. Sollte es zu einem großen Krieg kommen, sagt die IOM eine kaum fassbare Notlage voraus. Die werde um einiges schlimmer sein als nach dem Einmarsch der israelischen Armee im Sommer 2006.

Ihr Heimatort Yarine ist einen Kilometer von der Grenze entfernt

Damals wurden über eine Million Menschen vertrieben. Eine der Betroffenen war die heute 41-jährige Faten Khaled. Damals Mitte 20, musste sie ihr Heimatdorf Yarine schon einmal verlassen. Doch war sie mit ihrer Familie nur 20 Tage auf der Flucht, weil die Gefechte nach vier Wochen endeten und sie nach Hause zurückkehren konnte. Als Faten Khaled sich am 15. Oktober vergangenen Jahres erneut in Sicherheit brachte, glaubte sie an einen ähnlichen Verlauf. „Wir dachten, wir wären eine Woche, höchstens einen Monat weg und kämen dann zurück“, erzählt sie.

Mittlerweile lebt ihre sechsköpfige Familie seit zehn Monaten in einem Asyl für Vertriebene und das ohne finanzielle Hilfe der Regierung oder irgendeiner Nichtregierungsorganisation. Was Faten Khaled bekam, waren die 200 Dollar, die von der Hisbollah normalerweise an vertriebene Bewohner der Grenzregion gezahlt werden. Zum Sterben zu viel, zum Überleben zu wenig. Wenn Faten Khaled sagt, „ich wünsche mir, wir könnten dorthin zurückkehren, woher wir kommen“, weiß sie nicht, ob ihr Haus noch steht und es weiter ein Zuhause gibt. Ihr Heimatort Yarine befindet sich nur einen Kilometer von der Grenze entfernt – so nah, dass sie die Panzer auf der anderen Seite sehen konnte. Mittlerweile sind die direkt an der Grenze gelegenen Dörfer vielfach nur noch Schutt und Asche. Der israelischen Armee wird vorgeworfen, als Puffer zwischen beiden Ländern eine Todeszone geschaffen zu haben. Khaled kennt niemanden, der noch in Yarine ist und ihr sagen könnte, was davon übrig blieb. „Keine Menschenseele ist da mehr“, sagt sie. „Vermutlich sind sogar die Vögel im Kreuzfeuer gestorben.“

Edmund Bower ist Freelancer und Nahost-Berichterstatter des Guardian