Stuttgarter Start-up-Szene: Schaffe, net schwätze
Wenn jemand Salz aus Ägypten auf eine Brezel streut, ist das in Berlin schon Innovation“, sagt der Gründer, der – die Brezel verrät es – aus Stuttgart kommt und den Satz kurz darauf so sehr bereut, dass er damit lieber nicht zitiert werden will. Zugespitzt aber trifft die Aussage doch ganz gut, was mancher in der schwäbischen Start-up-Szene über das Treiben in Berlin denkt.
Dort werden – so sehen es hier nicht wenige – angeblich innovative Geschäftsmodelle erst hochgejubelt und mit viel Geld vollgepumpt, nur um baden zu gehen, wenn die Investoren vorsichtiger werden, so wie aktuell angesichts der Konjunkturkrise. Sie entlassen Leute, ziehen sich nach wenigen Monaten kleinlaut aus Märkten zurück, die sie gerade noch erobern wollten, die Bewertungen rauschen in den Keller. In Stuttgart dagegen, so beschreiben es die Gründer, ist alles ein bisschen solider, rationaler und bodenständiger. Deshalb aber vielleicht auch weniger dynamisch als in der Hauptstadt.
„Stuttgart kann von der platzenden Blase profitieren“, sagt Martin Weber, einer der Gründer von Sparetech . Das Unternehmen hat eine Software entwickelt, die Industrieunternehmen einen besseren Überblick über ihre Ersatzteile gibt. Geschasste Mitarbeiter von Start-ups aus Berlin würden sich gerade nach neuen Arbeitgebern umschauen und meldeten sich verstärkt bei ihnen, sagt er. Doch auch vonseiten der Investoren spürt keiner der Gründer, ganz entgegen dem Trend in der Start-up-Welt, ein nachlassendes Interesse.
Ein Cluster von Lieferketten-Start-ups
Besonders gilt das für ein Cluster von Unternehmen aus dem Stuttgarter Raum, die in den vergangenen Jahren gegründet wurden, gerade rasant wachsen und sich mit einem Thema beschäftigen, das die Industrie so sehr belastet wie kaum anderes: der Lieferkette. Neben Sparetech gibt es Laserhub , das eine Plattform vor allem für Metallteile aufgebaut hat: Wenn ein Unternehmen solche Teile braucht, kann es sich an Laserhub wenden, die den Auftrag dann an Produzenten weiterleiten.
Es gibt Partscloud , die sich um die Logistik rund um Ersatzteile kümmern. Und dann ist da noch Markt-Pilot , das online Preisdaten auslesen und damit vor allem Maschinenbauern helfen kann, ihre Preise besser zu setzen – und damit mehr Geld zu verdienen. Es sind, wie fast immer bei Start-ups im Südwesten, lauter Business-to-Business-Geschäftsmodelle (B2B), die Kunden sind also keine Privatleute, sondern Unternehmen.
Eine alte, modernisierte Fabrikhalle, im Zentrum einer Metropole, die Wände aus Backstein, an den Decken alte Rohre – das ist die natürliche Behausung eines Start-ups. Nicht ein mehr als 500 Jahre altes, verwinkeltes Fachwerkhaus in einer schwäbischen Kleinstadt. Doch hier, im Zentrum der malerischen Altstadt in Esslingen, gelegen im Stuttgarter Speckgürtel, empfängt Markt-Pilot-Chef Tobias Rieker (27) zum Gespräch. Das Besprechungszimmer ist gerahmt von alten Balken, die Decken sind mittelaltertief, aus einem der schiefen Fenster hängt an diesem Hochsommertag der Schlauch einer mobilen Klimaanlage, die den Raum auf Arbeitstemperatur herunterkühlt.
Er erzählt von seinen eigenen Erfahrungen in der Industrie. Er hat Praktika gemacht bei den Maschinenbauern der Region, die im Südwesten als kleine Familienunternehmen durchgehen, obwohl sie größer sind als die größten Unternehmen ganzer Bundesländer in Ostdeutschland. „Da habe ich mich jedes Mal um die Preisstrategie gekümmert, und jedes Mal hatte ich das gleiche Problem: Ich hatte keine Marktdaten.“ Rieker, so erzählt er es heute, ging hin und automatisierte zusammen mit einem Softwareentwickler die Datensuche, um schneller und gründlicher herauszufinden, wie viel die Unternehmen für ihre Ersatzteile verlangen können. „Mein ehemaliger Vorgesetzter hat mir dann eine Auswertung gezeigt: Wir haben mehr als 3 Millionen Euro an Deckungsbeitrag erwirtschaftet.“ Mit dem Softwareentwickler hat er erst ein Kleingewerbe gegründet, Rieker machte parallel nach der Realschule sein Fachabi, eine Ausbildung und ein Ingenieurstudium an der Hochschule Esslingen. Der erste Kunde empfahl ihn weiter.
Keine Diversität
Heute ist Rieker 27 Jahre alt, sein Unternehmen hat 71 Angestellte, bis Jahresende sollen es 90 werden. Kommendes Jahr soll der Umsatz mehr als 10 Millionen Euro betragen, Rieker spricht von einem Wachstum von 400 Prozent. Investoren bewerten Markt-Pilot mit einer Summe, die nicht mehr weit weg ist von 100 Millionen Euro. Genauer will Rieker nicht werden. Kürzlich hat er in die USA expandiert, einige seiner Chefs von früher sind heute seine Mitarbeiter. Nicht wenige seiner Mitarbeiter rekrutiert er von seiner alten Hochschule.
Riekers Beispiel ist typisch für die Start-ups, die nach den Regeln des Ländle funktionieren: Die Geschäftsmodelle sind so solide, dass sie schon wieder langweilig sind. Ihre Kunden sind die Maschinenbauer und Industriekonzerne, von denen die Region so viele hat wie kaum eine andere in der Welt. Gefühlt jeder Ort hat seinen Weltmarktführer. Die Gründer hier kommen aus der Industrie, haben die Probleme selbst erlebt und sich dann gedacht: Das können wir lösen.
„Berlin hat viel soziales Unternehmertum, die Gründer dort machen aber auch Dinge, die die Welt nicht braucht“, sagt Katharina Hölzle. „Gründer in Stuttgart wissen häufiger genau, ob das Geschäftsmodell trägt. In Berlin gibt es viele verrückte Ideen“, sagt die Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft in Stuttgart, die seit April in Stuttgart ist und davor Professorin am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam war.
„Fake it, ’til you make it. Täusche vor, bis du es geschafft hast. Das ist das Motto in Berlin“, sagt Nils Seele, Partner beim Karlsruher Start-up-Investor Lea Partners, der zuvor für einen großen Berliner gearbeitet hat. „In Stuttgart ist das Motto eher: Schaffe, net schwätze.“ Das gilt nicht nur inhaltlich, sondern auch kulturell. „Es ist im Vergleich zu Berlin deutlich konservativer“, sagt Hölzle. Die Gründer seien fast ausschließlich Männer.
Sie erzählt von einem Fall: Eine genderneutrale Person, die gründen wollte, habe keinen Fuß auf den Boden bekommen in Stuttgart. „Die Diversität der Gründer in Bezug auf Geschlecht, Nationalität oder Erwerbsbiographien ist hier sehr schwach ausgeprägt.“ Auch das Alter der Gründer überrascht sie: Die Neigung, ein Unternehmen zu gründen, sei laut Forschung im Studium, wenn man ungebunden, und ab Anfang 50, wenn man abgesichert ist, am größten. Gründer in der Schwabenmetropole haben dagegen häufig gut bezahlte Jobs in der Industrie aufgegeben und seien häufiger „Familienväter und Mitte 30“, sagt Investor Seele.
Lukas Biedermann (34 Jahre) kann jeden Moment zum zweiten Mal Vater werden. Er lässt deshalb während des Gesprächs das Handy auf dem Tisch liegen – und entschuldigt sich dafür. Inzwischen ist das Kind auf der Welt. Man merkt Biedermann und seinem Sparetech-Mitgründer Martin Weber (35) an, dass sie für den Beratungszweig von Porsche gearbeitet haben. Sie arbeiten 70 Stunden in der Woche, sagen sie, sind beide höflich, smart und eloquent, mischen Business-Englisch in ihre Ausführungen, verstehen es, ihr Geschäftsmodell mit politischer Relevanz aufzuladen: Es geht um Digitalisierung und Nachhaltigkeit und die vielen Ersatzteile, die in der Industrie weggeworfen werden.
Sie haben 60 Mitarbeiter, haben mehr als 5 Millionen Euro von Investoren bekommen, unter ihnen mit Christian Miele der Chef des deutschen Start-up-Verbandes. Die Geschichte, die Weber über die Gründung vor vier Jahren erzählt, ähnelt der von Rieker: Wo Rieker die Daten für die Preissetzung fehlten, hat Weber in den Fabriken gesehen, „wie mit Zettel und Stift gearbeitet wird“. Das werde „in zehn Jahren nicht mehr funktionieren“, sagte er.
Gründer mit Stallgeruch
Die Geschichten wiederholen sich. Adrian Raidt (40) führt mit Laserhub das größte der Lieferketten-Start-ups in Stuttgart. Davor war er in Führungspositionen für Trumpf. 110 Mitarbeiter hat Laserhub heute, macht einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag an Umsatz, der sich jedes Jahr mindestens verdoppeln soll. Laut Raidt ist der Markt für Metallteile 650 Milliarden Euro groß, der Vater zweier Kinder träumt schon von einem Börsengang. Auch Benjamin Reichenecker (39) hat zwei Kinder. Der Gründer von Partscloud war in der Geschäftsführung eines Herstellers von Weinbergtraktoren und Kommunalfahrzeugen, der heute zum Kärcher-Konzern gehört. Dort hat er die Ersatzteillogistik aufgebaut und sich etwa mit den Zollbehörden rumgeschlagen. Vor anderthalb Jahren machte er aus den Erfahrungen ein Geschäftsmodell und gründete sein Start-up. Heute hat er 11 Mitarbeiter.
Weber und Biedermann, Reichenecker, Raidt und Rieker: Sie alle sind Profis, die die Sprache der Konzerne und Mittelständler, die ihre Kunden sind, fließend beherrschen. Man könnte es auch Stallgeruch nennen. Sie können sich bewegen in dieser ganz eigenen Wirtschaftswelt, die manchmal etwas bieder und technologisch nicht immer auf der Höhe der Zeit ist und sich häufig schwertut mit allem Digitalen. Das liegt auch an kulturellen Unterschieden zwischen den alteingesessenen Unternehmern, die die Täler Baden-Württembergs bevölkern, und den kosmopolitischen Digitalkonzernen. Die Stuttgarter Gründer sind die Dolmetscher zwischen den Welten. Bodenständig genug für die Mittelständler in der schwäbischen Provinz, digital genug für die Start-up-Szenen in den Metropolen.
Bei aller Freude: Der Standort Stuttgart hat auch Nachteile, räumen sie ein. Die Flächen sind knapp, sagt Forscherin Hölzle. Die Gehälter würden von Bosch und Mercedes in die Höhe getrieben, sagt Gründer Raidt. Doch die Fachkräftesituation sei durch die Verbreitung des Homeoffice besser geworden, sagt Investor Seele. Die Start-ups haben jetzt Mitarbeiter in ganz Europa. Raidt findet auch, dass immer noch die Investoren fehlten: „Stuttgart wird nicht in der Lage sein, eine Investorenszene wie München aufzubauen.“
Die Berliner wiederum hätten „fünfzehn Jahre Erfahrung damit, dass Plattformmodelle funktionieren“, ganz im Gegensatz zu Stuttgart. „Ohne die Berliner-Start-up-Welt gäbe es uns nicht. Wir haben keinen einzigen Euro aus Stuttgart bekommen.“ Risikokapital und schwäbische Sparsamkeit – das scheint nicht so recht zusammenzupassen. Man könne viel lernen von der „Berliner Blase“, sagt Rieker. Er liebe die schwäbischen Werte. Man müsse aber „aufpassen, nicht zu schwäbisch“ zu sein.
Dass der Abschwung im Start-up-Markt nun auch die Stuttgarter Start-ups erreicht, dafür gibt es den Gründern zufolge keine Anzeichen. Das liegt auch an der Branche, in der sie aktiv sind, meint Investor Seele. „Die Kunden sind Unternehmen, denen die Start-ups helfen, Zeit oder Geld zu sparen oder die Qualität zu verbessern. Dort werden die Unternehmen nicht sparen.“ Im Gegenteil traut er den vier Start-ups zu, jetzt zu reüssieren: „Es ist ein guter Moment für Tech-Start-ups aus der Region. Jetzt entsteht hier was.“ Oder wie Markt-Pilot-Gründer Rieker, der zu Überschwang neigt, es ausdrückt: „Von den nächsten zehn deutschen B2B-Einhörnern kommen fünf aus Baden-Württemberg.“