Stuttgart 21: Bestgeplanter Super-Fail
In dieser Gegend wird die Lust an nachhaltiger Mobilität besungen seit fast zweihundert Jahren. Auch passt ins Bild, dass als erste Fundstelle von Auf de schwäbsche Eisebahne ein Tübinger Kommersbuch genannt wird, welches aber gar nicht existiert. Dafür nimmt die in dem vielstrophigen Lied erzählte Geschichte einen Kern der Konflikte um den Tiefbahnhof Stuttgart 21 in der Landeshauptstadt vorweg: Es geht um die Geschwindigkeit, mit der so ein Zügle unterwegs ist von „Schtuegert nach Ulm“ und darüber hinaus. Der Lokführer fährt nämlich zu schnell, von der Geiß hängt am Ende der Reise nur noch der Kopf am Seil. Und weil Klischees wie das vom sparsamen Schwaben dazu da sind, erfüllt zu werden, eskaliert der Streit um den Schadensersatz.
Ach, wären nur die richtigen Lehren gezogen worden aus den alten Reimen. Stuttgart, also Schtuegert, hätte dann beispielsweise seine hochbetagten, aber kräftig gebauten Platanen im Schlossgarten noch, die sogar die Hunger- und Kältewinter nach dem Zweiten Weltkrieg überlebt haben, weil sich trotz aller Not der Bürgerprotest gegen das Abholzen durchsetzte. Auch der hundert und ein Jahr alte ehrwürdige Kopfbahnhof stünde statt teilabgerissen noch zur Gänze da, so wie die in München oder Frankfurt, wo Vernunft rechtzeitig um sich griff und ähnliche Sinnlos-Projekte noch weit vor dem ersten Spatenstich wieder beerdigt wurden.
Mobilitätsphilosophisch ist so eine oberirdische Bahnstation ohnehin einer in jeglicher Hinsicht unterirdischen weit überlegen. An ersterer nämlich kommen die Leute an, eine Stadt entfaltet – wenn vorhanden – ihre Schönheiten. Reisende sind sogleich freundlich empfangen auf Augenhöhe mit der Umgebung. Im künftigen Tiefbahnhof müssen sie sich über ziemlich schmale Perrons und Rolltreppen nach oben mühen, und das in Reih und Glied und schnell wie die Ameisen. Die Umstiegszeiten werden nämlich arg kurz sein – sonst klappt das nicht mit den engen Fahrplänen von morgen zum Wohle der Welt im Kampf gegen die Erderwärmung.
Hinzu kommt, dass die Deutsche Bahn etliche Milliarden Euro dort hätte investieren können, wo sie wirklich gebraucht werden. Und: Es gäbe diese Dauerbaustelle im Herzen der Stadt nicht seit inzwischen 13 Jahren, mit absurd langen Wegen zu den Zügen, mit Staus ohne Ende auf wichtigen Durchzugs- und Verbindungsstraßen. Übrigens wird hier in wenigen Tagen das erste von fünf Spielen der Fußball-EM ausgetragen. Fans aus ganz Europa werden sich die Augen reiben, wenn sie erst einmal mit dem ganzen Charme von Schranken und Planken, von Erdlöchern, Kränen und Baggern konfrontiert werden.
Derweil hoffen die Verantwortlichen in der Stadt, gern Schwabenmetropole genannt, auf ein zweites Sommermärchen nach der WM 2006. Kein Märchen ohne Zauberei, aber die hat in der harten Realität von Riesenbaustellen keinen Platz, selbst wenn sie noch so dringend nötig wäre. Im Falle von Stuttgart 21 ganz besonders, weil, nur ein Beispiel, keineswegs ausgeschlossen ist, dass ziemlich schnell ziemlich viel Wasser eintreten wird ins Gestein der neuen Tunnel von 56.256 Meter Länge im Untergrund.
Auf de schwäbsche Eisebahn eskaliert der Knatsch ums liebe Geld in Strophe sechs, wenn der Besitzer dem Konduktör die Reste der Geiß vor die Füße schmeißt. Im richtigen Leben kippte die Geschichte noch nicht einmal dann, als aus den ursprünglich umgerechnet 2,5 Milliarden Euro für Tiefbahnhof und Schnellbahnstrecke nach Ulm mehr als elf wurden. Die Projektbefürworter, allen voran aus Politik und Wirtschaft, weigern sich bis heute hartnäckig, kritische neue Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. Die CDU hatte sogar die Stirn, vor der Kommunalwahl am vergangenen Sonntag auf Plakaten die „grün-linke Mehrheit“ im Stuttgarter Gemeinderat als „größte Baustelle der Stadt“ auszurufen. Gebracht hat das nichts, denn Grüne, SPD und Linke könnten weiterhin, wenn sie einig sind, die Stadtpolitik entscheidend gestalten.
Indessen bleibt die andere, die realiter tatsächlich größte Baustelle vorerst stadtbildbestimmend in dem von autobahnartigen Durchzugsstraßen zerschnittenen Talkessel. Noch vor wenigen Jahren drohte die Deutsche Bahn juristische Schritte an, wenn Stuttgart 21 mit Blick auf den Eröffnungstermin und wegen der anschwellenden Probleme verulkt wurde als Stuttgart 22, 23 oder 24. Dabei war das Projekt einst von der DB gefeiert worden als „bestgeplant“. Jetzt wird erst Ende 2026 der überflüssigste Tiefbahnhof in der Geschichte der Tiefbahnhöfe den Betrieb aufnehmen. Jedenfalls vielleicht. Denn fix ist nix. Weil alles am Funktionieren der hochkomplexen Digitalisierung hängt, steht das neue Datum bisher ebenfalls bloß auf dem Papier. Und so könnte es am Ende auch 27, 28 oder 29 werden und die unendliche Geschichte ein Lehrstück darüber, was passiert, wenn Prestigedenken den Realitätssinn schrottet. Wie singen doch die wackeren Schwaben als Moral aus der Geschichte vom Bähnle und der Geiß so aufmunternd: „Wer’s noch net begreife ka, fang nomal von vorne a.“