Studierendenproteste: Die Universität muss ein Freiraum zum Besten von kritische Debatten sein

Während der Internationale Strafgerichtshof den Antrag auf Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, den
israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant und den Hamas-Anführer Jahia Sinwar prüft und sich in Rafah das Elend der zusammengetriebenen Bevölkerung
zuspitzt, wird in Deutschland die sogenannte Staatsräson, die Maxime, nach der die
Bundesregierung handelt, auch im Inneren herausgefordert. Dass die Sicherheit
Israels und der ganzen Region durch den Krieg und die deutsche Treue an der
Seite der rechtsextremen Netanjahu-Regierung befördert werden soll, erscheint
immer weniger plausibel. Die Studierenden, die an den Universitäten lautstark und
teilweise in schockierender Form protestieren, fordern das Ende der
israelischen Militärschläge in Gaza (die sie als Genozid ansehen), Boykotte
israelischer Institutionen und das Ende von Waffenlieferungen. Ihr Zorn richtet
sich auch gegen einen deutschen Diskurs und eine Medienberichterstattung, denen
sie vorwerfen, das Schicksal der Palästinenser – nicht erst seit dem 7. Oktober
– zu ignorieren.

Die Universitätspräsident:innen, die auf die Proteste
reagieren müssen, sind nicht zu beneiden. Was immer sie tun, kann man ihnen zum
Nachteil auslegen. Der Präsident der Freien Universität Günter M. Ziegler holte
wegen eines kleinen, bis zur Räumung friedlichen Camps in einem ansonsten nicht
genutzten Innenhof sofort die Polizei und sah sich in dem Brief der Berliner
Lehrenden
, den ich mitunterzeichnet habe, dafür kritisiert. Die Präsidentin der
Humboldt-Universität Julia von Blumenthal holte bei der Besetzung der
Sozialwissenschaftlichen Fakultät nicht die Polizei, sondern ließ sich auf
Gespräche ein, wurde aber dann vom Regierenden Bürgermeister und der
Wissenschaftssenatorin überstimmt und sah sich gezwungen, ihre Zusage an die
Studierenden zu brechen und einer Räumung doch zuzustimmen. Während im ersten
Stock eine offenbar fruchtbare Diskussion zwischen Demonstrierenden und
Hochschulleitung stattfand, von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert,
schmierten andere Demonstrierende im vierten Stock anstößige Slogans und das
rote Dreieck, das der terroristische Arm der Hamas zur Kennzeichnung von
vermeintlichen Angriffszielen benutzt, an die Wände. Das schien nach Ansicht
vieler dem Bürgermeister im Nachhinein recht zu geben. Blumenthals Verhalten ist
jetzt für beide Seiten fragwürdig: Für die einen hätte sie die Besetzung von
vornherein unterbinden müssen, für die anderen hat sie dem politischen Druck
nachgegeben und ihren eigenen Dialogversuch verraten.

Aber ausgerechnet die Präsidentin der Technischen Universität Berlin, Geraldine Rauch, die bis dato alles richtigzumachen
schien – sie war im Dialog mit allen Seiten, die Demos verliefen friedlich und
die Polizei beobachtete nur – ist nun heftigen Angriffen ausgesetzt. Am
Mittwoch tagen die zuständigen Gremien der TU über ihre Abwahl, Rauch wird
unter anderem von der Wirtschaftssenatorin kritisiert als eine Hochschulchefin,
die antisemitischen Inhalten zugestimmt habe oder diese nicht erkennen würde. Sie
selbst gab eine Entschuldigung ab, die mitunter so ausgelegt wird, als bestätigte sie
das. Auch der neu ernannte Antisemitismusbeauftragte der TU, Uffa Jensen
Inhaber einer Heisenberg-Professur, Vizedirektor des Zentrums für
Antisemitismusforschung an der TU Berlin und im Gegensatz zu den meisten
anderen Antisemitismusbeauftragten in Deutschland ein ausgewiesener und
international renommierter Forscher – wurde vom Zentralrat der Juden scharf
kritisiert
. Dass er auf sachlicher Differenzierung und einem sauberen Umgang
mit Definitionen besteht, wird ihm als mangelnde Bereitschaft ausgelegt, „die
Situation von Jüdinnen und Juden zu verstehen
„. Die wissenschaftliche und
intellektuelle Redlichkeit selbst steht unter Antisemitismusverdacht.

Was aber hatte die Präsidentin der TU genau getan? Sie hatte
auf X (früher Twitter) drei umstrittene Posts im Zusammenhang mit dem
Gaza-Krieg mit einem Like versehen, darunter eines mit einem Bildinhalt, der
nach allen kursierenden Antisemitismusdefinitionen, auch von Uffa Jensen
bestätigt, antisemitisch ist, den man beim Scrollen aber kaum erkennen kann. Es
ist also ein Skandal um ein (zweifelsohne völlig überflüssiges) Like für einen
Beitrag
, der ein Bild zeigt, das eine Demonstration zeigt, die wiederum ein
Bild zeigt, das ein Hakenkreuz zeigt – und damit fünf Darstellungsebenen
zwischen einem gedankenlosen Klick und dem kaum sichtbaren Zeichen. Sicherlich
hätte Rauch genauer hinschauen sollen. Man muss aber davon ausgehen, dass nicht
der antisemitische Bildinhalt der Grund für die Anwürfe gegen sie sind. Sondern Rauchs prinzipielle Zustimmung zu
Demonstrationen gegen das Töten in Gaza, zusammen mit ihrer
studierendenfreundlichen und brückenbauenden Universitätspolitik (PDF), die sich mit
der Ernennung von Uffa Jensen auch einer Instrumentalisierung der
Antisemitismusbekämpfung verweigert.

Rauch beschließt ihr „persönliches Statement“ auf der
TU-Website mit einem Versprechen und einer Warnung, die beide mit dem
Gegenstand ihrer Entschuldigung, also dem Like auf X, nichts zu tun haben, sondern
auf ihr Verhalten bei zukünftigen Protesten abzielen: Sie sei weiterhin für
einen „friedlichen Diskurs“ offen, aber man habe „erlebt, dass manche Proteste
nicht friedlich bleiben und sich nicht vom Antisemitismus abgrenzen“. Werde es
an der TU, „ähnlich wie an der HU“, zu einer Besetzung kommen, werde sie „entsprechend
handeln“ – und, muss man wohl schlussfolgern, sofort die Polizei rufen.

Doch könnten die Universitätspräsident:innen ihr
Versprechen, in einen „friedlichen Diskurs“ zu gehen, überhaupt einhalten? Wenn
allein schon die Zustimmung zu Demonstrationen gegen den israelischen
Militäreinsatz in Gaza sie verdächtig macht, sind dem Dialog engste Grenzen
gesetzt. Zudem würden die Forderungen der Studierenden gemäß dem BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages und gemäß der Resolution der
Hochschulrektorenkonferenz von 2019
im Sinne der IHRA-Antisemitismusdefinition
von vielen mindestens teilweise als antisemitisch gewertet werden. Die
Schlagzeile Unipräsidentin diskutiert mit Studenten über Israelboykotte wäre
kaum weniger schädlich als die Schlagzeile Likes der TU-Präsidentin für
antisemitische Tweets
.

Die Studierenden werden also weiter protestieren, und was
sie uns zu sagen haben, wird uns nicht angenehm sein, wie auch immer sie es
sagen. Die Universität kann Universität aber nur bleiben, wenn sie den Freiraum
für schmerzhafte, kritische und ja: auch sogenannte problematische Debatten
bewahrt. Die Studierenden – alle Studierenden – sind uns anvertraut, und auch
und gerade ihrem eventuell irritierenden Verhalten kann nur so begegnet werden,
dass wir ihnen erst einmal zuhören, und zwar in einem aktiven Sinne: dass wir
versuchen zu verstehen, was eigentlich los ist, und dann intellektuell und
ethisch adäquate Antworten suchen. (Und ja, ich würde mit ähnlicher Haltung
auch anderen, mir politisch nicht sympathischen Protesten gegenübertreten.) Nur
so können auch wir lernen und uns verändern.