Streaming | Serie „Krank Berlin“: Krank ist krass

Am Anfang der achtteiligen Serie Krank Berlin stolpert ein Mann (Slavko Popadić) aus einem Club auf die Straße und vor ein Auto, in ein Taxi – und von dort in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Die Lichter ziehen Schlieren, Bilder überlagern sich, und die Augen des jungen Mannes lassen keinen Zweifel an seinem Zustand irgendwo zwischen Rausch und Kater. In der Notaufnahme angekommen, rammt er zunächst sich selbst, dann einem nach Luft ringenden Patienten kurzentschlossen je eine Spritze ins Fleisch. Der Patient, so scheint es, ist gerettet, und wir erfahren, dass Ben Weber Arzt ist. Einer, der routinemäßig aus dem Club zur Schicht erscheint: „Wenn du verkatert nicht arbeiten kannst, werd’ nicht Unfallchirurg“, kommentiert seine Kollegin trocken, als er sie anfleht, eine OP für ihn zu übernehmen.

Krank Berlin – im Titel klingt eigentlich schon alles an: „Krank“ ist nicht nur der absurde Name des Krankenhauses, krank ist im metaphorischen Sinn auch das Krankenhaus als System. Krank im Sinn des Jugendslangs, nämlich krass, extrem, ist der Alltag in der Notaufnahme. In einem wilden Drohnenflug wird in der ersten Folge der graue 70er-Jahre-Betonbau des Berliner Urban-Krankenhauses inszeniert. Hier spielt die Serie, im Epizentrum des Nachtlebens, aber eben auch des Drogenkonsums, an einem Ort, an dem der Exzess der Normalos sich mit dem Elend der Unterprivilegierten und Ausgeschlossenen berührt.

Ben, der Arzt, ist in beiden Welten zu Hause, er feiert nicht nur in seiner Freizeit, er kümmert sich auch um die Randgestalten, die Sexarbeiter ohne Papiere, die Obdachlosen, die in Kreuzberg zahlreich sind. Da ist es praktisch, dass die Notaufnahme chaotisch und ohne funktionierende Leitung ist, denn so kann Ben seine inoffiziellen Patient*innen mit notwendigen Medikamenten versorgen. Aber auch er bedient sich am Medikamentenvorrat des Krankenhauses. „Wir schmeißen den Laden von der Seitenlinie“, erklärt er Dr. Parker (Haley Louise Jones), der neuen Leitung. Seine Kollegin prophezeit ihr weniger als drei Tage im Job, im Jahr davor wurden vier Chefärzt*innen verschlissen.

Indem wir mit Dr. Parker die Notaufnahme kennenlernen, wendet die Serie einen klassischen dramaturgischen Kniff an. Die Neue kommt, natürlich, aus München, wo die Welt vermeintlich in Ordnung ist. Nun muss sie sich unter unmöglichen Bedingungen behaupten. Sie will den Laden reformieren, etwa dem Medikamentenschwund von rund 50 Prozent einen Riegel vorschieben. Das wiederum bringt nicht nur die Kolleg*innen gegen sie auf, denen es zusätzliche Umstände aufbürdet, es bringt vor allem Ben und seine inoffiziellen Patient*innen in Schwierigkeiten.

Unablässig wandert, ja spukt die Kamera durch die Hallen des Krankenhauses und heftet sich an die Gesichter der Ärzt*innen. Selten dürfen wir etwas oder jemanden für länger als einen Augenblick betrachten. In der überlasteten Notaufnahme wuseln Patient*innen unentwegt durchs Bild. Die visuelle Überforderung ist anstrengend und zuweilen nervig, sie ist aber ganz offensichtlich gewollt und spiegelt die Überforderung derjenigen, die hier arbeiten.

Die Serie lässt uns Zeit, in ihre Welt hineinzufinden: Nach und nach erfahren wir, warum Dr. Parker sich den neuen Job antut. Wir erfahren, dass der drogenaffine Ben ein guter Arzt ist, aber größere Probleme hat, als er sich eingesteht. Und die Hinweise mehren sich, dass mit dem freundlichen Assistenzarzt Dom (Aram Tafreshian) etwas nicht stimmt. Ihre volle Härte entwickelt die Serie etwa ab der vierten Folge. Hier wird menschliches Elend so schonungslos dargestellt, dass man den Blick abwenden möchte von den Syphiliswunden der rumänischen Jungs, die wie Leibeigene von einer Frau in Lederjacke abgeführt werden, und von den offenen Wunden an den Beinen der obdachlosen Frau. Allerdings ist das nun nicht mehr so einfach, denn mittlerweile hat die Serie ihren Sog entfaltet, und ab da lässt der Krankenhaushorror einen nicht mehr los.

Entwickelt wurde die Serie von Samuel Jefferson, einem Drehbuchautor, der selbst einmal als Arzt in einer Notaufnahme arbeitete. Die Absicht geht jedoch klar über die realistische Darstellung hinaus. Sie entwirft ein Szenario, das als TV-Stoff in Variationen bekannt ist, das aber für ein deutsches Publikum längst näher gerückt ist und zur Normalität werden könnte: eines, in dem Notaufnahmen so dysfunktional sind, dass medizinische Hilfe für Patient*innen zum Glücksfall wird und das Personal den täglichen Wahnsinn nur noch mit Betäubung ertragen kann. Referenzen für Krank Berlin lassen sich unter britischen und amerikanischen „Medicals“ zahlreiche finden. Von Grey’s Anatomy über Code Black bis zur BBC-Serie This is Going to Hurt werden Unterbesetzung und Überforderung thematisiert, während bei Die Jungen Ärzte und Bettys Diagnose im deutschen Fernsehen die Ärzte immer noch Zeit haben, um ihre Patient*innen empathisch zu umsorgen. Insofern ist Krank Berlin ein dringend notwendiges Update.

Besonders wird die Serie durch ihre lokale Verortung. Die ist mehr als Hintergrund, die ethnische Zusammensetzung des Stadtteils wird ganz ungekünstelt abgebildet. Über das Sanitäterteam, das in der Stadt unterwegs ist, in öffentliche Toiletten, auf Sex-Partys und in verwahrloste Altersheime geschickt wird, stellt die Serie außerdem eine interessante Verbindung her zwischen den gesellschaftlichen Problemen eines Stadtteils und der Institution, welche die Notfälle auffangen muss.

Krank Berlin Samuel Jefferson, Viktor Jakovleski Deutschland 2024, AppleTV+