Streaming | Das geheime Leben welcher Teenager: Warum die Netflix-Serie „Adolescence“ an die Nieren geht
Der Start von Adolescence hätte kaum zeitgemäßer sein können: Gerade erst war im Prozess gegen den „Armbrust-Killer“ Kyle Clifford bekannt geworden, dass der Täter wenige Stunden bevor er seine Ex-Freundin, deren Schwester und ihre Mutter tötete, im Internet nach frauenfeindlichen Podcasts gesucht und Andrew-Tate-Videos angesehen hatte. Gleichzeitig hört man solche Geschichten mit deprimierender Regelmäßigkeit, Adolescence erscheint auf fast unheimliche Weise aktuell.
Die Idee zur Miniserie hatte Hauptdarsteller Stephen Graham nach einer Reihe von Gewaltverbrechen, die Großbritannien erschütterten: In seiner Heimatstadt Liverpool war 2021 eine Zwölfjährige von einem 14-Jährigen erstochen worden; in Croydon wurde 2023 eine 15-Jährige von einem 17-Jährigen mit einem Küchenmesser attackiert. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl britischer Teenager, die mit einer Klinge oder einem scharfen Gegenstand getötet wurden, um 240 Prozent. „Ich dachte: ‚Was ist da los? Wie konnte es so weit kommen?‘“, erzählte Graham bei der Premiere von Adolescence. Der Schauspieler holte den Drehbuchautor Jack Thorne an Bord, mit dem er regelmäßig zusammenarbeitet. Sie wollten ein Drama entwickeln, das der Frage nachgeht, warum Jungen diese extremen Taten gegen Mädchen begehen.
Das Ergebnis ist der an die Nieren gehende Vierteiler Adolescence, der verfolgt, wie das Leben der Familie Miller aus den Fugen gerät, als bei einer Razzia im Morgengrauen der 13-jährige Sohn Jamie verhaftet wird, weil er eine Mitschülerin umgebracht haben soll. Auf der einen Ebene geht es um besagte „Messerkriminalität“. Auf der anderen geht es um Cybermobbing, den Einfluss der sozialen Medien und den wahnsinnigen Druck, dem Jungen heutzutage ausgesetzt sind. Männer-Wut, toxische Maskulinität, Online-Frauenfeindlichkeit. Das alles ist keine Fiktion, sondern unbestreitbare Tatsache.
In der Rolle von Jamies Vater Eddie, einem Klempner irgendwo in Yorkshire, verbringt Graham die erste Folge unter Schock. Wie alle Eltern will er zunächst den Unschuldsbeteuerungen seines Sohnes glauben. Bis ihn die von Überwachungskameras aufgenommenen Aufnahmen der Tat völlig aus dem Konzept bringen.
Graham ist großartig, aber er lässt auch seinen Mitspielern Raum, zu glänzen. Als Ermittler Luke Bascombe liefert hier Ashley Walters die beste Leistung seiner Karriere ab. Auch er, der als Teenager einst wegen Waffenbesitzes zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde, fühlte sich vom Stoff persönlich betroffen. Laut eigener Aussage habe er beim Studium des Drehbuchs „die meisten Nächte geweint“.
Man erkennt den „harmlosen kleinen Jungen“ hinter der schockierenden Gewalt
Schlichtweg phänomenal aber ist der 15-jährige Owen Cooper als Jamie. Die oft plötzliche Verwandlung von sympathisch zu bedrohlich, von verlorenem kleinen Jungen zu vor Wut rasendem jungen Mann gelingt ihm atemberaubend.
Aufschlussreiche Details machen die Geschichte lebensnah: Jamies Schlafzimmer ist mit kindlichen Weltraummotiven tapeziert; als bewaffnete Polizisten hereinplatzen, nässt er sich ein. Man erkennt den „harmlosen kleinen Jungen“ hinter der schockierenden Gewalt. Andere Nebenfiguren – der schmierige Überwachungsmann, der Verschwörungstheoretiker aus dem Baumarkt – machen darauf aufmerksam, dass erwachsene Männer ebenso bedrohlich sein können. Sehr authentisch wirkt auch das wiederkehrende Motiv des Essens. Schließlich sind Teenager ständig hungrig. Als Jamie in der Arrestzelle Cornflakes angeboten werden, stupst ihn sein Vater immer wieder an, „iss deine Cornies“. Ermittler Bascombe geht auf seinen eigenen Sohn zu, indem er ihn zu „Pommes und Cola“ einlädt. Psychologin Briony gewinnt Jamie für sich, indem sie seiner heißen Schokolade Marshmallows beimixt. Als herkömmliches gemüseverachtendes Kind reagiert Jamie entsetzt bei der Vorstellung von Salat auf seinem Sandwich.
Die Serie zeigt, wie ein zur Selbstverachtender Jugendlicher sich online radikalisiert
Jede Folge von Adolescence ist in einer einzigen Einstellung ohne sichtbaren Schnitt gedreht, was nicht nur eine atemberaubende technische Leistung ist, sondern dem Geschehen eine fast bedrängende Unmittelbarkeit verleiht.
Die Serie offenbart, wie ein innerlich anfälliger und zu Selbstverachtung neigender Jugendlicher sich radikalisiert, ohne dass es jemand merkt. Seine Eltern sagen aus, Jamie sei oft nach der Schule in sein Zimmer gegangen und habe dort stundenlang am Computer gesessen. Sie wähnten ihn in Sicherheit. Sie dachten, sie würden das Richtige tun.
Wir geben uns Mühe, Kindern beizubringen, wie man die Straße überquert und nicht mit Fremden spricht. Aber wir zeigen ihnen nicht, wie man sich im Internet zurechtfindet. Oft klafft eine eklatante Lücke zwischen dem Bild, das sich Eltern vom Leben ihrer Kinder machen, und dem, was diese online treiben. Wir denken, sie sitzen an Hausaufgaben oder simsen unschuldig mit Freunden. Aber sie sehen sich Pornografie an oder, wie Ermittlerin Misha Frank es ausdrückt, „diesen Andrew-Tate-Mist“.
Eine Studie über den Einfluss der sogenannten „manosphere“
Jamies Fall wird zu einer Studie über den verheerenden Einfluss der sogenannten „manosphere“ – jener Online-Welt der „roten Pillen“ und der 80-20-Regel (die besagt, dass sich 80 Prozent der Frauen zu 20 Prozent der Männer hingezogen fühlen). Es ist eine Schattenwelt, die von Alphas, „Incels“, MRAs (Männerrechtsaktivisten) und PUAs (Pick-Up Artists) bevölkert wird, deren zerbrechliche Egos leicht in Wut umschlagen. Die meisten Eltern aber, so sagt ein Jugendlicher in der Serie, „kapieren es nicht“.
Schon jetzt gilt Adolescence als das bisher beste TV-Drama des Jahres 2025. Dabei handelt es sich um gewissermaßen altmodisches, themenorientiertes, sozial engagiertes Fernsehen! Die Serie ruft dazu auf, Teenager von den Bildschirmen wegzuholen und sie nicht im digitalen Kaninchenbau verschwinden zu lassen. Die Fragen, die sie aufwirft, sind dringend und wichtig. Antworten? Das ist der schwierige Teil.
Adolescence Stephen Graham, Jack Thorne Großbritannien 2025, 4 Folgen, Netflix