Störtebeker Festspiele aufwärts Rügen: Vom Strand zum Störti

Wer seinen Urlaub an der Ostsee bucht, weiß, was er will: das Meer sehen. Zum Beispiel auf der Insel Rügen, die jeden Sommer mit Menschen überfüllt ist – mit steigender Tendenz. Zwischen breiten Sandstränden und Steilküsten, markanten Rapsfeldern und Kiefernwäldern vergnügen sich Touristen bei dem, was heute trendbewusst als naturnahes Reisen gelabelt wird.

Was man hier nicht findet, sieht man von kleinkünstlerischen Darbietungen aller Art an den Strandpromenaden ab, ist ein kulturelles Angebot. Der klassizistische Theaterbau in Rügens Fürstenstadt Putbus ist seit jeher mehr Museum denn Aufführungsort einer noch lebendigen darstellenden Kunst. Selbst das letzte verbliebene Kino auf der Insel, die mehr als 60.000 Einwohner zählt und im vergangenen Jahr insgesamt rund 1,4 Millionen Gäste beherbergte, hangelt sich von einer drohenden Schließung zum nächsten Betreiberwechsel.

Kulturelle Einöde also. Wären da nicht die Störtebeker-Festspiele, die zur Rügen-Reise dazu gehören wie die Hüttengaudi zum Skiurlaub, und die die Einheimischen – die wissen, dass die Region vom Tourismus lebt, und die gleichsam mit diesem Los hadern – mit den Besuchern aus der Ferne versöhnen. Denn der Tourist wie der Insulaner liebt seinen „Störti“, wie man das Festspielgeschehen hier zärtlich umschreibt.

„Hamburg 1401“ bei den 30. Störtebeker Festspielen 2024

Hamburg 1401 ist die diesjährige Inszenierung auf der Seebühne im beschaulichen Fischerort Ralswiek in sprödester Manier betitelt, was vielleicht einigen Informationswert bereithält, aber sonst denkbar wenig Esprit versprüht. Elf Wochen wird in diesem Sommer gespielt, sechs Mal die Woche. Und die Besuchermassen strömen nach einem sonnigen Tag am Strand zu dem Spektakel. Gut 8.700 Sitzplätze stehen zur Verfügung, die sehr gut verkauft sind.

Rechts zeigen die Kulissen den hanseatischen Pomp Hamburgs. Der leichtgläubige, schwache Bürgermeister Kersten Miles fürchtet die Raubzüge der Piraten. Sein Ratsherr Witte fällt einem politischen Mord zum Opfer. Da strebt der intrigante und machtbesessene Simon von Ütrecht nach Einfluss in der Hansestadt und will mit rabiaten Mitteln gegen die Piraterie vorgehen. Im Geheimen sucht er dafür die Verbindung mit der zwielichtigen Natalia von Beieren, die Störtebeker mit Kaperbriefen versorgt, ihm aber nur zum Schein Schutz gewährt. Dazwischen tummeln sich der Fischer Fridtjof und die Bordellbetreiberin Madame Fleur, die für zotige Witze und erhobene Stimmen gegen die „da oben“ verantwortlich sind.

Links präsentiert sich uns das bescheidene Fischerdorf Marienhafe, dank der Piraten mit einem intakten Gemeinwesen gesegnet, aber zunehmend isoliert innerhalb Frieslands. Hier trotzt man der von der Hanse getriebenen Globalisierung und fängt den Fisch noch selbst. Störtebeker, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, und seinen Brother-in-Crime Gödeke Michels verehrt man als Helden.

Störtebeker unterm Fallbeil

Das szenische Gerüst, das über anderthalb Stunden ausgebreitet wird, bietet einige dramatische Sprengkraft. Aber nach der Pause, die sich durch die Befriedigung von Konsumgelüsten überbrücken lässt, löst sich der Erzählbogen in Wohlgefallen auf. Schneller als ein Komparse „Hinterhalt!“ rufen kann, klirren auf der Bühne die Schwerter, als wären die letzten Jahrhunderte Theatergeschichte plötzlich ungeschehen. Bald steht ein Haus in Flammen, dann ein Schiff – und schon laufen zwei brennende Spieler von links nach rechts. Wo es dramaturgisch hapert, da wartet man mit großen Effekten auf. Am Ende landet Klaus Störtebeker unterm Fallbeil. Einmal darf er noch zum Volk sprechen, dann geht es schnell und der Pirat ist hinüber – zumindest bis zum nächsten Jahr.

Das klingt nicht gerade nach Avantgarde. Aber Peter Hick, der die Festspiele seit 1993 leitet, weiß, was er tut – und muss es auch wissen, führt er den Theaterbetrieb doch privatwirtschaftlich, ohne staatliche Förderung. Wo man die große Kunst vermisst, erkennt man das Patentrezept für die schematischen alljährlichen Inszenierungen: Geboten wird Kostümtheater mit allerhand Knalleffekten sowie reichlich Humor derb-zotigen Schlags. Zum Repertoire gehört ein über die Bühne kreisender Adler genauso wie ein wortwörtlicher Tanz mit dem Feuer, Pferde und einige Koggen – Kriegsschiffe –, ein Feuerwerk sowie der heimliche Star des Abends Wolfgang Lippert. „Lippi“, wie seine Fans ihn nennen, erlangte in der DDR als Sänger, Moderator und Entertainer Bekanntheit, war nach der „Wende“ für kurze Zeit ZDF-Moderator und widmet sich nun seit mehr als 20 Jahren bei den Störtebeker-Festspielen, für die er in diesem Jahr Ost-Evergreens von Karat, Puhdys und Karussell performt, seinem Alterswerk.

Wetter ist immer, weiß der Norddeutsche, und so rühmt man sich in Ralswiek, dass seit 1993 nie eine Vorstellung aus profanen Gründen wie Sturm oder Regen abgesagt worden wäre. Die Stärke von Festspielleiter Hick ist seine Ausdauer. Ehe er zum Wahlinsulaner wurde, war er bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg tätig, wo er sich vom Darsteller zum Intendanten hochgearbeitet hat. Auf Rügen setzte der findige Hick dann unter kapitalistischen Vorzeichen fort, was im Sozialismus bereits seinen Lauf genommen hatte.

Rustikales Volkstheater in Ralswiek

Als sich die DDR-Kulturpolitik 1959 auf den Bitterfelder Weg machte, Laienkunst und Arbeiterschriftstellerei förderte, da war auch die Geburtsstunde der Rügenfestspiele, wie die Vorgängerinstitution des heutigen „Störti“ hieß. Aus dem Nichts wurde die Naturbühne in Ralswiek, schenkt man den Mythen Glauben, dem Geburtsort Störtebekers, errichtet. Schauspieler des Volkstheaters Rostock bildeten mit Laien sowie Tanzgruppen und Chören ein tausendköpfiges Ensemble, gegen die die 200 Darsteller in diesem Jahr sehr bescheiden daherkommen. Den literarisch durchaus anspruchsvollen Text verfasste Staatsdichter Kurt Barthel, bekannt unter dem Pseudonym KuBa, der Störtebeker damit als spätmittelalterlichem Vorkämpfer für die klassenlose Gesellschaft 1959 ein dramatisches Denkmal setzte.

Der Klaus Störtebeker in Hamburg 1401 wirkt christusgleich, sowohl in der äußeren Erscheinung als auch in seinem predigthaften Ton, in dem er, für einen Piraten eher ungewöhnlich, Friedfertigkeit einfordert. Dann aber zeigt er doch sein wahres Ich zwischen Alkohol- und Aggressionsproblemen. Toxische Männlichkeit, so würde man heute sagen. Aber von derlei Befindlichkeiten will man in Ralswiek nichts wissen, wo man eines rustikalen Volkstheaters frönt. Doch auch derjenige, der lieber einen Shakespeare, jenseits von historisierendem Kitsch, gesehen hätte, wird zugeben müssen, dass die Festspiele offenbar einen Nerv treffen. Dass die altehrwürdigen Einrichtungen der Hochkultur um ihr Publikum bangen, während die Regionallegende um den Robin Hood der Meere, allen inszenatorischen Defiziten zum Trotz, beharrlich Zuschauerscharen anlockt, wirft Fragen auf.

Der Verweis auf mitunter immense Preise für Oper und Theater greift als Erklärungsansatz zu kurz. Denn der Einlass zu den Störtebeker-Festspielen kostet auch in der günstigsten Platzkategorie deutlich mehr als ein Monatsabo für den Streamingdienst Netflix; für die besseren Plätze zahlt man durchaus das Dreieinhalbfache. Damit lässt sich das Freiluftspektakel nicht weniger kosten, als man an der Abendkasse des Stadttheaters löhnen würde.

Wahrscheinlich passt die diffuse Elitenkritik der Freibeuter sowie ihrer Freunde an Land und die Art, wie sie bei den Störtebeker-Festspielen über die Bühne geht, allzu gut in unsere Zeit, die durch ein Unbehagen mit der herrschenden Politik gekennzeichnet ist, das aber eher stammtischgemäß vorgetragen wird und ohne Analyse oder gar konsequente Haltung auskommt. Vielleicht, ganz kulturpessimistisch gedacht, schätzen die Zuschauer aber auch einfach die leichte Unterhaltung, ohne die Gefahr von ästhetischer Überraschung. Und sicher ist hier niemand der Furcht ausgesetzt, an der falschen Stelle zu lachen, anders als in der Oper, wo die Sitznachbarn in den viel zu engen Reihen immer auch den Eindruck erwecken, Torwächter der hohen Kunst zu sein. Und selbst den kritischen Geistern bleibt der reizvolle Blick am Bühnengeschehen vorbei direkt auf den Bodden. Womöglich ist das das ganze Geheimnis.

Die Störtebeker-Festspiele laufen bis 31. August 2024 in Ralswiek auf Rügen