Staudamm am Schweizer Grimselsee: Ein Baustellenbesuch
„Anfangs habe ich mich schon gefragt, ob ich das schaffe“, sagt Peter Mosimann. Der Maurer in der orange leuchtenden Arbeitskluft lächelt verschmitzt unter seinem Helm, als er diesen Satz sagt. Denn er steht am Fuß einer gewaltigen Mauer, die sich 113 Meter in den Schweizer Berghimmel reckt. Damit ist der Beweis erbracht: Mosimann hat es geschafft. In einem Team von mehr als 100 Bauarbeitern, Ingenieuren, Mechanikern, Maschinisten, Bergbauspezialisten und Sprengmeistern hat er binnen sechs Jahren eine Staumauer hochgezogen, die den Grimselsee im Berner Oberland sperren und mithelfen wird, die Schweizer Stromversorgung zu sichern. Sie ersetzt bald die alte, 1932 fertiggestellte Mauer. Diese hat Risse, was im Fall eines Erdbebens gefährlich werden könnte.
Damals wie heute handelt es sich um ein Jahrhundertprojekt, das allen Beteiligten enorm viel abverlangt. Denn die Großbaustelle liegt in einer kargen Gebirgslandschaft 1900 Meter über dem Meeresspiegel. Hier in den Alpen sind die Witterungsbedingungen so extrem, dass nur von Mai bis Oktober gearbeitet werden kann. Und selbst in dieser Zeit geht es oft äußerst rau zu. Es stürmt und gewittert und schneit.
„Der Nebel ist das größte Problem“, erklärt Mosimann, „dann sehen die Kranführer nichts mehr.“ Im Rücken der fast fertigen Staumauer stehen zwei feuerrote Turmdrehkräne. Mit 97 Metern sind sie die höchsten der Schweiz; ein herkömmlicher Baukran ist etwa halb so hoch. Um sie anzuliefern, benötigte der Schweizer Spezialhersteller Wolffkran 70 Lastwagenfuhren. Der untere Teil der Kräne wurde eigens für den harten Einsatz an der Grimsel verbreitert und verstärkt, damit die stählernen Riesen auch bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 Kilometern in der Stunde nicht umkippen.
Keine nennenswerten Unfälle seit Baubeginn
Die Kranführer müssen schwindelfrei eine Leiter mit 334 Sprossen emporklettern, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Diesen verlassen sie erst, wenn ihre Tages- oder Nachtschicht vorbei ist. In einer Miniküche in der Führerkabine können sie Tee kochen und ihr mitgebrachtes Essen aufwärmen. Auch einem anderen Bedürfnis folgen sie in luftiger Höhe: Auf dem Ausleger neben der Kabine steht ein Toi-Toi-Klo.
Bei Nebel müssen sich die Kranführer auf den Funkverkehr mit den Arbeitern in der Tiefe sowie auf die Bilder von der Kamera unten am Kranhaken verlassen. An diesem Haken schwebt ein fast 20 Tonnen schwerer Kübel mit Spezialbeton herbei, wenn Mosimann und seine Kollegen mit dem Betonieren loslegen wollen. Falls das Schwergewicht versehentlich eines der Gerüste touchiert, die wie Schwalbennester an der Staumauer kleben, ist Gefahr in Verzug.
Umso mehr freut sich der Baustellenchef Kai Lehner darüber, dass es in den sechs Jahren seit Baubeginn keine nennenswerten Unfälle gegeben hat. Für den 30 Jahre alten Bauingenieur ist der Bau der Ersatzstaumauer Spitallamm, wie das Projekt am Oberlauf der Aare offiziell heißt, eine Pionierleistung. Mit mehr als 220 großen Talsperren ist die bergige Eidgenossenschaft zwar das Land mit der höchsten Staudammdichte in der Welt; mehr als die Hälfe des in der Schweiz produzierten Stroms stammt aus Wasserkraftwerken. Aber die Zeiten, als derlei Projekte ohne nennenswerten Widerstand aus der Bevölkerung oder vonseiten der Umweltschützer genehmigt wurden, sind lange vorbei. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist in der Schweiz keine neue Staumauer mehr entstanden. „Da ist viel Know-how verloren gegangen“, sagt Lehner. „Wir mussten erst wieder lernen, wie man so etwas überhaupt macht.“
Blick auf die Gipfel von Mönch und Jungfrau
Schon die Erbauer der ersten Talsperre am Grimselsee waren Pioniere. Sie errichteten damals eine der ersten großen Bogengewichtsmauern. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das Wasser zum einen durch ihr Gewicht und zum anderen durch die Abstützung an den beiden Felsseiten zurückhalten. Zur Zeit des Baus vor gut 90 Jahren war die Staumauer mit ihren 114 Metern eine der höchsten überhaupt. Der fast doppelt so hohe Hoover-Damm in Amerika, ebenfalls eine Bogengewichtsmauer, wurde erst drei Jahre später fertig.
Kai Lehner hat ein Ritual, wenn er frühmorgens auf seine Baustelle kommt. Er holt sich im Baubüro, einem provisorischen Containerriegel oberhalb der Staumauer, einen Espresso und tritt vor die Tür. In einem letzten Moment der Ruhe vor dem Tagwerk lässt er den Blick über den grün schimmernden Grimselsee hinauf zum 3600 Meter hohen Oberhaarhorn wandern. An klaren Tagen kann Lehner sogar die Gipfel von Mönch und Jungfrau sehen.
Die spektakuläre Aussicht entschädigt ein wenig für die Härten, die mit der Arbeit an diesem entlegenen Ort an der Grenze zum Bergkanton Wallis einhergehen. Lehner ist mit seiner Freundin in die Nähe seines alpinen Arbeitsplatzes gezogen, nach Interlaken. Von dort mit dem Auto bis zur Baustelle sind es 45 Minuten. Kinder hat er nicht. „Ansonsten wäre das schwierig.“
In der Tat erschwert es die isolierte Lage den Bauunternehmen Frutiger, Implenia und Ghelma, die mit dem 125 Millionen Franken teuren Projekt betraut sind, das nötige Personal zu finden. „Viele Arbeiter übernachten hier oben in bereitgestellten Unterkünften. Dann ist man weit weg von zu Hause und hat kein privates Umfeld, das einem am Abend etwas Distanz zur täglichen Arbeit ermöglicht.“ Auch das zuweilen frostige Bergklima, so erzählt der Baustellenchef, ist nicht jedermanns Sache: „Wenn es im Tal noch fünf Grad über null hat, sind wir hier schon bei minus fünf.“
In seinen vier Jahren auf der Baustelle hat Daniel Selliner noch stärkere Kontraste erlebt: „Es kam schon vor, dass ich montagmorgens in Schlappen und kurzen Hosen von zu Hause weggefahren bin, und hier oben kam ich dann bei 20 Zentimeter Schnee kaum die Treppe hinunter.“ Als Bauführer beaufsichtigt der gelernte Maurer und Polier die Arbeiten an der Staumauer und in den herausgesprengten Bergstollen, die so groß sind, dass eine Kohorte Lastwagen in sie hineinpasst. „Ich mag die Berge und bin gerne in abgelegenen Tälern“, sagt er.
Selliner ist 48 Jahre alt, war einst am Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels beteiligt und erfreut sich an der „einmalig schönen Landschaft“ um ihn herum. Mindestens einmal am Tag komme die Sonne heraus. Die schwierigste Zeit breche jeweils zum Saisonschluss im Herbst an. „Da ist es kalt und feucht, und allen steht es bis hier.“ Er hält die rechte Handkante unter seine Nase. „Dann liegen die Nerven blank.“
Große Fluktuation
Christian Abegglen klettert aus einem – von außen etwas fragil wirkenden – Hängegerüst heraus, das mit Seilen an der Kante der Staumauer befestigt ist. Auf derlei Gerüsten ist der Maurer und Kranführer, 37 Jahre alt, in den vergangenen drei Jahren immer wieder herumgeturnt. Zuletzt hat er Fugen in der Steilwand verfüllt und Löcher gebohrt, um diese anschließend mit einer Zementmischung aufzufüllen und so die Staumauer zum Fels hin abzudichten.
Während der Höhenarbeit an der leicht überhängenden Mauerwand ist Abegglen immer angeseilt. Der Blick in die Tiefe nötigt ihm trotzdem Respekt ab und mahnt ihn zu äußerster Vorsicht. An die besonderen Umstände am Grimsel musste er sich anfangs erst gewöhnen: „Das erste Jahr war schon heftig. Es ist ja nicht nur die Höhe. Hier oben in die Wand pfeift oft auch ein starker Wind. Und wenn es nass ist, sind die Bretter unter den Füßen ziemlich rutschig.“
So kam es in den vergangenen Jahren immer wieder vor, dass neu rekrutierte Kollegen schon nach wenigen Tagen das Handtuch warfen. Generell ist die Fluktuation groß. Der Baustellenchef Lehner sagt: „Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um hier arbeiten zu wollen.“ Abegglen indes kann dem täglichen Nervenkitzel inzwischen sogar etwas abgewinnen und schwärmt von der Besonderheit der Aufgabe: „Einen solchen Staudamm zu bauen ist etwas Einmaliges. Da ist man schon stolz drauf.“
Keine Eisenverstärkung des Betons nötig
Lehner wiederum ist stolz darauf, dass es seiner fleißigen Truppe, die im Schichtbetrieb an sieben Tage in der Woche anrücken muss, gelungen ist, den ursprünglichen Zeitplan für den Bau voll einzuhalten. „Das ist nicht selbstverständlich. In so einem großen Projekt kann ja immer irgendetwas passieren.“ Zumal die Ingenieure im Vergleich zur alten Bogenstaumauer eine etwas andere Bauweise gewählt haben.
„Die alte Mauer ist einfach gekrümmt, also nur in horizontaler Richtung“, erläutert Lehner. „Unsere neue Mauer ist hingegen doppelt gekrümmt, das heißt in horizontaler und vertikaler Richtung.“ Der Wasserdruck wird mithin über zwei Bögen in die Granitfelsen abgeleitet, in die die Mauer an beiden Flanken jeweils 13 Meter tief versenkt wurde. Zu Baubeginn waren daher vor allem Sprengmeister am Werk.
Dank der verbesserten Baustatik bedarf es keiner Armierung: Der Beton musste nicht mit Eisen verstärkt werden. Und im Vergleich zur alten Mauer konnte man die neue deutlich schlanker konstruieren, weil ihr Gewicht beim Widerstand gegen den Wasserdruck nunmehr eine geringere Rolle spielt. Sie ist am Fuß nur noch 20 Meter breit und damit um zwei Drittel schmaler als die alte Mauer. „Dadurch sparen wir Unmengen an Beton ein“, sagt Lehner. „Das ist gut für unseren CO2-Abdruck.“
Dieser ist immer noch gigantisch: Insgesamt sind auf der Baustelle 520.000 Tonnen Spezialbeton verbaut worden. Das ist mehr als das Doppelte der Menge, die für den Bau des Frankfurter Messeturms benötigt wurde. Um die Mauer tief in den Felsen zu verankern und die Versorgungsstollen zu buddeln, hoben die Arbeiter 80.000 Tonnen Gestein und Erde aus. So viel passt in 32 Olympia-Schwimmbecken.
Die Betonarbeiten sind beendet. Die Staumauer ist fertig. Aber die Baustelle wird nicht für den Winterschlaf hergerichtet und das gesamte Personal für sechs Monate abgezogen: Die Arbeiten gehen in diesem Winter weiter. Noch kann die Talsperre nicht ihrer Bestimmung nachkommen. Vor ihr im Wasser steht die alte Mauer, die man nicht abgerissen hat. Sonst hätte der Eigentümer der Anlage und Bauherr, die mehrheitlich staatliche Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), das Wasser ablassen müssen, und das hätte die Stromerzeugung und die Einnahmen der KWO über die gesamte Bauzeit beeinträchtigt.
Nun, wo die neue Mauer fertig ist, wird erstmals seit einem Vierteljahrhundert das Wasser abgelassen. Dieser Grundablass funktioniert so, wie man das vom Stöpsel in der Badewanne kennt. Das Wasser läuft langsam ab. Wenn der See im Dezember leer ist, stehen Sanierungsarbeiten an den Einläufen und Schächten an. Zugleich müssen die Arbeiter einen Kanal und Löcher durch die alte Staumauer bohren, die ansonsten stehen bleibt. Der Grimselsee wartet künftig mit der touristisch interessanten Besonderheit auf, zwei hintereinanderstehende Staumauern zu haben, wobei nur die neue eine Funktion hat. Die alte wird geflutet, ragt aus dem Wasser heraus und soll Teil eines Wanderwegs werden.
Die winterlichen Arbeiten im leeren, aber schwer zugänglichen Stausee werden unter schwierigen Bedingungen stattfinden, wie KWO-Projektleiter Benno Schwegler erläutert: „Unterhalb der Staumauer dürfte meterhoch Schnee liegen, und der Seegrund ist nach der Entleerung schlammig beziehungsweise dann gefroren und schneebedeckt.“ Die benötigten Baugeräte will Schwegler mithilfe eines auf dem alten Mauerlauf postierten Krans herablassen.
Ukraine-Krieg brachte die Wende
Die Grimsel-Passstraße, die direkt am Staudamm vorbeiführt, ist im Winter gesperrt. Für An- und Abreisen müssen Arbeiter eine Seilbahn sowie einen kilometerlangen Erschließungstunnel der KWO nutzen.Mit der Schneeschmelze im Frühling 2025 wird sie damit beginnen, das Wasser wieder aufzustauen. Ende Juni plant der Energieversorger eine große Eröffnungsfeier, die zugleich als Fest zum dann hundertjährigen Bestehen des Unternehmens dient. Der Grimsel-Projektleiter Schwegler wäre gewiss froh, wenn er zu diesem Anlass noch eine weitere gute Nachricht im Köcher hätte: die Genehmigung für eine Erhöhung der gerade erst fertiggestellten Staumauer.
Damit ginge ein uralter Wunsch in Erfüllung. Seit mehr als drei Jahrzehnten bemüht sich die KWO darum, das Speicherbecken zu vergrößern. Doch Umweltschutzverbände und lokale Initiativen blockierten das Vorhaben. Mit dem Krieg in der Ukraine und den darob auch in der Schweiz drohenden Lücken in der Stromversorgung drehte sich der Wind.
Regierung und Parlament haben ein Stromgesetz durchgepeitscht, das den Ausbau erneuerbarer Energien erleichtern und beschleunigen soll. In dem Gesetz sind mehr als ein Dutzend Wasserkraftprojekte aufgeführt, die vorrangig und beschleunigt vorangetrieben werden und deren gerichtliche Überprüfung eingeschränkt ist. Dazu zählt die Staumauererhöhung an der Grimsel.
Fast alle Gegner im Boot
Mit der geplanten Aufstockung um 23 Meter stiege das Fassungsvermögen des Grimselsees von heute 94 Millionen Kubikmeter Wasser auf 170 Millionen Kubikmeter. Damit ließen sich statt der bisherigen 270 Gigawattstunden (GWh) künftig 510 GWh Strom produzieren, was dem jährlichen Verbrauch von gut 100.000 Haushalten entspricht. Eine erhöhte Wasserkraftreserve hilft der Schweiz, mögliche Energieversorgungsengpässe im Winter zu vermeiden. In dieser Zeit ist das Land zur Deckung des Strombedarfs auf Nettoimporte aus dem Ausland angewiesen. Diese Abhängigkeit will man verringern. Außerdem dienen Wasserkraftanlagen dazu, das Netz in Zeiten zu stabilisieren, in denen die Leistung von Solar- und Windkraftanlagen stark schwankt.
Im Rückenwind des neuen Energiegesetzes hat die KWO im Mai bei den Behörden abermals eine Konzession für eine Staumauererhöhung beantragt. Zuvor hatte sich das Unternehmen mit großen Umweltverbänden wie dem WWF, Bund für Naturschutz, Pro Natura und der Stiftung Landschaftsschutz auf umfassende ökologische Maßnahmen verständigt als Ausgleich für die Überflutung von Teilen der Gebirgs- und Auenlandschaft. Alle Gegner konnte sie nicht ins Boot holen: Die Naturschützer des Grimselvereins, der das Ausbauprojekt seit Jahren erbittert bekämpft, haben ihr Veto eingelegt. Wegen des mehrstufigen Genehmigungsverfahrens ist sowieso nicht mit einer schnellen Freigabe für das 235 Millionen Franken teure Projekt zu rechnen.
Peter Mosimann will nach sechs anstrengenden Saisoneinsätzen auf der Grimsel nicht mehr länger da oben arbeiten. Der Maurer möchte wieder näher und öfter bei seiner Familie sein, die eineinhalb Stunden entfernt zwischen Thun und Bern wohnt. „Ich bin im April das zweite Mal Vater geworden“, erzählt er. Seinem Erstgeborenen hat Mosimann die Mammutbaustelle in den Bergen schon gezeigt. Der Dreijährige war begeistert. „Sonntagabends sagt er immer zu mir, dass er mitkommen will.“